„Schöne Erinnerungen sind wie ein Seil…“

Psychologie und Literatur: Ein Gespräch mit Helga Schubert über das Erinnern – und welche Rolle dabei eine rotgemusterte Wolldecke spielt.

Die Schriftstellerin und Psychologin Helga Schubert vor einer Blumenhecke
Am liebsten ist Autorin Helga Schubert mit ihren Gedanken im Garten der Großmutter. Es ist ein Ort der Geborgenheit. © Isolde Ohlbaum

Eine Landschaft zum Liebhaben. Von Schwerin aus fährt mich das Taxi auf einer Kastanienallee durch ein offenes, dünn besiedeltes Land mit Wiesen, Mais- und Getreidefeldern. Die Straßen werden enger und noch mal enger, wir weichen einem Traktor und einer Erntemaschine aus, und schließlich hal­ten wir vor einem niedrigen Haus mit Backsteinwand und Klappläden, umgeben von einem ausladenden baumbestandenen Garten. Helga Schubert, 81 Jahre alt, begrüßt mich am Tor und stellt mich drinnen ihrem Mann, dem Maler…

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Garten. Helga Schubert, 81 Jahre alt, begrüßt mich am Tor und stellt mich drinnen ihrem Mann, dem Maler Johannes Helm vor.

Er sitzt im Rollstuhl. Wir reden ein paar Takte über die Ära Klix in der DDR-Psychologie; Helm selbst war damals Psychologieprofessor an der Humboldt-Universität, von manchem in der linientreuen Institutsleitung misstrauisch beäugt. Helga Schubert hat am Gartentisch Kaffee und Johannesbeerstreuselkuchen angerichtet. Sie erzählt von all den Reportern, Radio- und Kamerateams, die seit dem Überraschungserfolg ihres autobiografischen Erzählungsbuchs Vom Aufstehen in den vergangenen Monaten hier waren. Ich schalte mein Aufnahmegerät ein.

Der erste Satz in Ihrem Buch lautet: „Mein idealer Ort ist eine Erinnerung.“ Welche ist das?

Es ist die Erinnerung an eine Situation von Geborgenheit. Ich hatte von meinem siebenten Lebensjahr an von meiner Mutter die Erlaubnis, in den Sommerferien meine Großmutter zu besuchen. Die beiden Frauen haben sich gegenseitig herabgesetzt. Ich bin also von 1947 an bis zum Abitur immer am ersten Ferientag von Berlin nach Greifswald gefahren, wo meine Großmutter in der Obstbausiedlung einen kleinen Garten hatte. Und dort durfte ich den ganzen Sommer bleiben.

Ich war durchaus gefordert, musste Beeren pflücken, abwiegen und auf dem Markt verkaufen, aber der Nachmittag war frei und ich lag lesend und dösend in der Hängematte im Garten meiner Großmutter. Oft wachte ich dann vom Duft des Kuchens auf, den ihr Freund für uns gebacken hatte, er war Bäckermeister. Meine Großmutter war Schuldirektorin. Dort bei ihr war die Welt total geordnet, strukturiert, voller Regeln. Für mich war das wohltuend. Und sie hat mich geliebt. Diese Erfahrung, dass mich jemand so bejaht, hat mir gutgetan. Meine Mutter hat mich immer als fremd empfunden.

Können wir alle solche schönen Erinnerungen von Geborgenheit ganz bewusst als Zuflucht aufsuchen, wenn es uns nicht gutgeht?

Ja, davon bin ich überzeugt. Ich bin ein gläubiger Mensch, das macht es vielleicht einfacher. Wenn man sich nicht unbedingt einreden möchte, wie unglücklich und benachteiligt im Leben man doch ist, dann können solche schönen Erinnerungen wie ein Seil sein, an dem man sich hochhangelt. Wenn man will, kann man sehr viel Konstruktives in seinem Leben bemerken und dieses Konstruktive in Gedanken tatsächlich aufsuchen. Das hilft einem dabei, es auch zu leben, anderen gegenüber. Man kann das Konstruktive allerdings auch stören.

Haben schöne Erinnerungen nicht gleichzeitig etwas Deprimierendes, gerade weil man sich damals so wohlgefühlt hat? Vielleicht sagt man sich: Das alles ist nun schon so lange vorbei, dass es gar nicht mehr real ist. Und diese lieben Menschen, an die ich mich da erinnere, sind längst tot.

Nein, nicht die Erinnerungen sind für mich irreal, sondern dass die erinnerten Personen tot sind. Ich kenne so viele Menschen, die nicht mehr leben, die in meinen Erinnerungen für mich realer sind als manche schattenhafte Gestalt, die mir in der Gegenwart begegnet. Wenn ich zum Beispiel hier Kaffee einschenke, dann höre ich die Stimme meiner Großmutter, wie sie in ihrer Welt der Regeln sagt: „Der ranghöchsten Dame am Tisch musst du zuerst eingießen.“ Solche Erinnerungen sind doch der Beweis, dass dieses Aufgehobensein, das man dabei empfindet, im Leben, also auch heute und hier jederzeit möglich ist.

Ausgiebiges Erinnern hat keinen guten Ruf. Es heißt, man solle nicht in der Vergangenheit, sondern „im Hier und Jetzt“ leben. Oder man solle „den Blick nach vorn richten“. Was halten Sie von solchen Losungen?

Ich denke nicht, dass man anstreben sollte, die Vergangenheit außer Acht zu lassen. Das ist doch ein Reichtum, aus dem man schöpfen kann! Im Gegenteil, ich habe die Befürchtung, dass ich irgendwann dement sein könnte und dies alles dann eingeschränkt wäre. Im Moment habe ich ein fotografisches Gedächtnis.

Die Szenen meines Lebens, die ich als existenziell erlebt habe, kann ich nicht nur abrufen – sie sind einfach da. Es wäre sinnlos, wenn ich mir vornehmen würde, nicht an die Vergangenheit zu denken, denn sie ist immer präsent. Ich müsste mir richtig Mühe geben, wenn ich chronologisch anordnen sollte, was unentwegt an Erinnerungen auf mich einströmt. Für das Erinnern selbst ist dieses zeitliche Einordnen egal, für das Erzählen übrigens auch.

Wie ist es mit der Zukunft?

Über die Zukunft nachzugrübeln ist müßig, denn die ist völlig unbestimmt. Sie kann in einer Stunde vorbei sein, wenn ich hier tot umfalle. Vieles kann man eben gar nicht beeinflussen. In der Bibel steht: „Darum sorget nicht für den morgigen Tag, der morgige Tag wird für das Seine sorgen.“ Das ist doch beruhigend. Man geht einfach Schritt für Schritt weiter und schleppt immer den ganzen Rattenschwanz der Erinnerungen mit.

In Ihrem Buchkapitel „Vom Erinnern“ beschreiben Sie den Besuch eines früheren Lektors. Sie führen ihn durch die Umgebung, erzählen ihm von der Familie, die früher in dem Haus gegenüber gewohnt hat. Und dann erfahren wir Stück für Stück die ganze tragische Saga dieser Familie, eingestreut in den Lektorbesuch.

Ja, das habe ich bewusst so angelegt. Übrigens verkörpert die Figur des Lektors für mich in dieser Episode ein intellektuelles Lesepublikum, das dieses Drama, das da erzählt wird, nicht zu nah an sich herankommen lassen will. Der Lektor kommt immer nur mit kurzen lapidaren Sätzen zu Wort, die Abstand signalisieren: „Das ist ja lange her!“ Er steht für einen Typus des Menschen, der sich mit inneren Mauern davor schützt, von etwas berührt zu werden. Manche Leute sagen sogar ganz direkt: „Ich möchte davon jetzt nichts hören.“ Ich bekomme dann immer einen Schreck.

Und Sie selbst sind eher der entgegengesetzte Typus?

Ja, mit dem Wissen um die Gefahr. Psychotische Menschen kann man manchmal an ihrer inneren Durchlässigkeit erkennen: Sie haben kaum innere Filter, die sie vor dem schützen, was auf sie einströmt. Ich konnte Psychotiker immer sehr gut verstehen, denn mir geht es ähnlich. Ich empfinde auch diese Durchlässigkeit und Überwachheit.

Ich bin zum Beispiel nicht in der Lage, geordnet ein Gespräch zu führen, wenn gleichzeitig im Radio jemand spricht. Glücklicherweise scheint mich irgendeine Art von Realitätsbezug davor zu schützen, psychotisch zu werden. Und dass ich mit meinem Mann so zurückgezogen auf dem Land lebe, ist sicher auch ein Schutz vor Reizüberflutung.

Zum Erinnern ziehen Sie sich ebenfalls oft bewusst zurück. In dem Kapitel „Mein Winter“ schildern Sie, wie Sie sich mit einer Tasse heißen Tee aufs Sofa setzen, in eine Decke eingewickelt – „es muss eine rotgemusterte Wolldecke sein“ –, und dann gehen Sie Ihren Gedanken nach. Was spielt sich dabei in Ihrem Kopf ab?

Das ist ein Luxus. In der Psychoanalyse ist von dem „ungehinderten Bewusstseinsstrom“ während einer Therapie die Rede. So ist es bei mir nicht. Die Erinnerungen kommen nicht assoziativ, sondern ich habe Zugriff. Manchmal schreibe ich eine Erzählung oder einen Text ohne Unterbrechung in einem Stück in kurzer Zeit, bis nachts um drei.

Die Szenen zum 1982 erschienenen DEFA-Film Die Beunruhigung habe ich in 78 Stunden geschrieben. Ich setze mich dann hin und schreibe wie unter Diktat. Es ist aber kein spontanes Herunterschreiben, sondern ich habe vorher lange gezielt über das Thema nachgedacht, zum Beispiel in solchen Wolldeckenstunden. Dabei formt sich etwas.

Aber ein ganzes Buch zu schreiben ist ja noch mal etwas anderes. Wie haben Sie für Ihr autobiografisches Erzählungsbuch Vom Aufstehen diese verstreuten Erinnerungen eines ganzen Lebens gebändigt und in eine Form gebracht?

Das Buch besteht ja aus einzelnen Lebenserzählungen, die vielfach miteinander verbunden sind. Ich habe ganz strenge Anforderungen an eine solche Erzählung. Sie sollte allerdings nicht viel länger als zwanzig Seiten sein, sonst kann ich diesen handwerklichen Regeln nicht mehr gerecht werden. Die einzelnen Erzählungen in diesem Buch habe ich, so wie beschrieben, immer an einem Stück verfasst, ich habe die Arbeit also nicht für andere Projekte oder andere Kapitel unterbrochen, es ist ein sehr konzentrierter Vorgang.

Manchmal greifen Sie in Ihrem Buch schon geschilderte Szenen aus Ihren Lebenserinnerungen in einem späteren Kapitel noch einmal und vielleicht noch ein drittes Mal auf, in fast gleichem Wortlaut, aber in einem anderen Kontext. Welche Absicht verfolgt die Autorin Helga Schubert da?

Es war eine Überwindung, diese Passagen nicht zu streichen. Ich hatte befürchtet, dass die Wiederholung beim Lesen langweilen könnte.

Finde ich nicht, ich empfand es eher wie ein Aha-Erlebnis.

Ich hoffe, durch die Wiederholung dieser Dialoge und Sätze wird der Leserin, dem Leser vielleicht klar, dass sie auch in einem immer wieder anderen Zusammenhang gefallen sein könnten. Diese Sequenzen sind eine Art Zutat beim Erzählen, vergleichbar mit einer Zutat beim Kochen. Ich setze diese Zutat zunächst in einer bestimmten Erzählung des Buchs ein. Und manchmal stelle ich dann in einer anderen Erzählung, einem anderen Kapitel fest, dass ich diese Zutat nun noch einmal brauche. Man könnte das mit einer Farbe vergleichen, die ein Maler wie mein Mann immer wieder verwendet.

Sätze sind das Material einer Schriftstellerin, und je nachdem, wie und an welcher Stelle man sie einsetzt, haben sie eine jeweils etwas andere Bedeutung, manchmal eine ironische. Die Schlusserzählung des Buches ist sogar bewusst als ­Puzzle aus vielen Versatzstücken der vorhergehenden Erzählungen angelegt, als deren Extrakt – und beim Zusammenfügen dieser Teile ist mir dann der Schluss eingefallen: Aha, genau das ist es doch, was ich sagen wollte! Diese Schlusserzählung „Vom Aufstehen“, die 2020 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, ist sicher die beste, die ich in meinem langen Leben geschrieben habe.

Funktioniert nach diesem Prinzip das Erinnern bei uns allen? Wir kramen dieselben Puzzleteile aus unserem Leben immer wieder hervor und betrachten sie jedes Mal neu?

Ja, bis man damit einverstanden ist. Bis man verziehen hat. Die Erinnerung selbst verändert sich bei diesem wiederholten Aufrufen oft gar nicht so wesentlich. Was sich verändert, ist das Aneignen des Geschehenen – bis man am Ende empfindet: So, das gehört zu mir, das ist mein Leben. Es ist sehr ­erleichternd und erlösend, mit dem einverstanden zu sein, was man erlebt oder durchgemacht hat. Wenn das gelingt, dann sind diese Episoden danach nicht mehr „etwas, was mir passiert ist“, sondern eben „mein Leben“.

In Bezug auf meine Mutter zum Beispiel ist mir erst beim Erinnern und Erzählen aufgefallen, was für eine Herausforderung ich für sie gewesen sein muss, weil ich ihr so unähnlich war. Ich war der ihr verhassten Schwiegermutter wie aus dem Gesicht geschnitten und hatte eine Spezialbegabung für Mathematik – und sie war von ihrem Vater immer geschlagen worden, weil sie in der Schule mit Mathe nicht klarkam. Ich bin lange nicht losgekommen von meiner Mutter, selbst nach ihrem Tod, aber jetzt habe ich meinen Frieden mit ihr gemacht. Nun erst ist sie für mich gestorben, es ist abgeschlossen.

Die Mutter ist die zentrale Figur Ihrer Lebenserzählungen. Wie haben Sie sie in Erinnerung?

Ich fühlte mich zeitlebens immer von ihr gekränkt – und ich war der einzige Mensch, dem es so ging. Ganz viele Menschen hatten sie gerngehabt.

Ihre Mutter hat sich Ihnen gegenüber tief demütigend verhalten. Sie schildern zum Beispiel, wie Sie als Teenager den Klavierunterricht liebten, den Ihnen eine Pianistin erteilte, und wie Sie sich da hineinknieten. Ihre Mutter meldete Sie dann in dem Moment vom Klavierunterricht ab, als die Pianistin sie beiseite zog und ihr sagte, dass Sie talentiert seien.

Für meine Mutter war zentral, dass sie selbst sehr gut Klavier spielen konnte. Klavierspielen war in ihrer eigenen Jugend ihr Rückzugsfeld vor dem gewalttätigen Vater. Irgendwie hat meine Mutter sich immer mit mir verglichen. Zum Beispiel hat sie über heftige Herzschmerzen geklagt, als ich mich von meinem ersten Mann scheiden ließ. Ich hatte meine Gründe, er hatte mehrere Geliebte.

Doch meine Mutter hat nicht billigen können, dass ich eine Ehe einfach aufgab. Sie betrachtete das als ihre kleine Familie, wie sie als Zeugin vor Gericht sagte. In Wirklichkeit sei ich glücklich. Im Hintergrund stand ihr eigenes Schicksal: Nachdem ihr Mann, mein Vater, im Krieg gestorben war, hatte sie selbst es sich versagt, wieder zu heiraten, und einen Verehrer abgewiesen. Sie hatte ja mich, ihre Tochter, am Bein, und vielleicht hat sie damit gehadert.

Gab es einen Punkt, an dem Sie innerlich mit Ihrer Mutter gebrochen haben?

Meine Mutter war chronisch verschuldet, und obwohl sie ein gutes Einkommen hatte, hat sie mich immer angepumpt. Eine Woche, nachdem mein Sohn geboren worden war – ich war 21 und lebte mit meinem damaligen Mann von 150 Mark Stipendium fürs Studium –, bat sie mich wieder um Geld.

Ich sagte: „Ich kann dir nichts mehr borgen.“ Daraufhin hat sie mit mir, obwohl wir in derselben Wohnung lebten, ein Vierteljahr nicht gesprochen. Und als sie das Schweigen schließlich brach, hat sie zu mir gesagt: „Wenn du doch nur damals als Kind auf unserer Flucht aus Pommern gestorben wärst!“ Das war ein Einschnitt. In diesem Moment bin ich innerlich einen Schritt zurückgetreten und habe mir gesagt: Von dort wird keine Wärme mehr kommen, zu diesem Menschen kann ich kein Vertrauen aufbauen.

Bevor Sie Schriftstellerin wurden, haben Sie in der DDR als Psychotherapeutin gearbeitet. Welchen Einfluss hatte der Hintergrund, mit einer so verletzenden Mutter aufgewachsen zu sein, auf Ihre therapeutische Arbeit?

Ich konnte die Erfahrung, die ich mit meiner Mutter gemacht hatte, als Therapeutin sehr gut gebrauchen. Nämlich die Einsicht, dass man sich selbst glauben kann, wenn man intuitiv zu einem Menschen auf Distanz geht. Es gibt nämlich Personen, die in ihrem Leben viele schlechte Erfahrungen machen und sich dann doch immer wieder an Menschen binden, die ihnen nicht guttun und bei denen sich diese destruktiven Erlebnisse wiederholen.

Patientinnen von mir hatten dieses einschlägige Muster: Sie wurden zum Beispiel von ihrem Mann geschlagen, weinten. Dann entschuldigte sich der Mann und versicherte ihnen, wie leid ihm alles tue und dass so etwas nie wieder vorkommen werde. Die Frau ging zu ihm zurück, und das Muster wiederholte sich. Ich habe das mit meinen Patientinnen, darunter Vergewaltigungsopfer, oft durchgesprochen: Wann hatten Sie zum ersten Mal ein merkwürdiges Gefühl? Was hat Sie daran gehindert, diesem Gefühl zu vertrauen? Man kann tatsächlich üben, auf diese innere Stimme zu hören.

Trotz all der demütigenden Erlebnisse mit Ihrer Mutter schildern Sie sie als eine facettenreiche und nicht durchweg unsympathische Person.

Destruktive Menschen müssen ja nicht wertlose Menschen sein. Meine Mutter war auch ausschließlich mir gegenüber destruktiv. Sie hat sich mir wohl unterlegen und hilflos gefühlt, sage ich mir, und sie konnte sich nur auf diese Weise wehren. Sie war ein widersprüchlicher und, wie ich glaube, sehr unglücklicher Mensch. Ich habe immer unter ihren Verletzungen gelitten, aber inzwischen bringe ich es fertig, mich in sie einzufühlen und sie zu bedauern.

Was hat Ihnen beim Schreiben dabei geholfen, Ihre Haltung gegenüber Ihrer Mutter zu relativieren?

Interessanterweise hat das mit dem schriftstellerischen Handwerk zu tun. Um eine gute Erzählung zu schreiben, musste ich die Geschichte meiner Mutter ins Gleichgewicht bringen. Ich war also beinahe gezwungen, beim Erinnern an meine Mutter nach positiven Dingen Ausschau zu halten. Und da ist mir einiges eingefallen.

Zum Beispiel bin ich ihr dankbar dafür, dass sie mich inmitten der DDR-Diktatur politisch demokratisch erzogen hat. Andere Kinder durften keine Westsender sehen und hören oder sollten es verschweigen, wenn sie das zu Hause taten. Doch meine Mutter hat all die Tagesereignisse und die Lügen in den DDR-Medien mit mir durchgesprochen. Und sie hat mir nie eingetrichtert, dass ich darüber auf keinen Fall mit meinen Freundinnen und in der Schule reden darf. Diese Haltung war mutig.

Dieses Kapitel zu schreiben, in dem Sie Ihrer Mutter danken: War das für Sie eine Überwindung oder eine Befreiung?

Es war eine Entdeckung.

Sie schildern gen Ende Ihres Buches, wie Sie bei Ihrer Mutter am Sterbebett saßen: „Sie drückte meine Hand zweieinhalb Stunden fest und sprach ununterbrochen.“

Ich habe akustisch nicht alles verstehen können, aber sie erzählte etwas ganz Rührendes. Sie schilderte ein Erlebnis, bei dem ihr Vater, der sie so oft geschlagen und gedemütigt hat, sie gegenüber dem Schuldirektor in Schutz nahm. Es ging wohl darum, dass man sie fälschlicherweise verdächtigte, abgeschrieben zu haben. Und dann erzählte sie, wie sie mir als Kind auf der Flucht aus Pommern dreimal das Leben gerettet hat. Offenbar war ihr das an ihrem Lebensende wichtig, dass sie beschützt worden war und selbst beschützt hatte. Sie wurde 101 Jahre alt.

Irgendwo unter all der Gehässigkeit hat sie Sie geliebt und war stolz auf Sie, glauben Sie nicht?

Das meinte ja mein Mann immer. Er erzählte mir zum Beispiel, dass sie einmal, als er sie von einem Besuch bei uns zum Zug brachte, still geweint hat.

Ihr Rat als ehemalige Psychotherapeutin: Wie sollen wir mit unseren Lebenserinnerungen umgehen?

Das eigene Leben anzunehmen, mit allem. Ich habe immer dazu ermutigt, sich nicht als Opfer zu empfinden. Das ist unwürdig und manchmal auch feige. Man sollte alles, was im Leben passiert ist – einschließlich dem, was schiefgegangen ist –, auch als das Ergebnis seiner eigenen Aktivität sehen: Es war meine Entscheidung, ihn nicht zu verlassen oder die Chance zur Ausreise nicht zu ergreifen. Man sollte sich selbst und die eigene Gestaltungskraft ernst nehmen. Das Leben auf diese Weise als sein eigenes zu akzeptieren kann anstrengend und schmerzhaft sein, aber letztlich ist es sehr erleichternd.

Die narrative Richtung in der Psychologie sagt, dass das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte selbst wohltuend wirkt, weil es belastenden Erlebnissen Struktur und Bedeutung gibt. Finden Sie das auch?

Das Wort „Erzählen“ finde ich da zu hoch gegriffen, denn Erzählen im Sinne einer literarischen Erzählung unterliegt Gesetzen. Wenn Erzählen aber jenseits dieser strengen Regeln so etwas heißen soll wie „etwas in Worten ausdrücken“, dann entspricht das doch dem, was in einer Psychotherapie geschieht: Jemand erzählt etwas in einer Therapiestunde, doch bei der nächsten Sitzung sagt sie oder er: „Ich habe nachgedacht, es ist doch ein wenig anders gewesen, ich habe etwas Wesentliches vergessen.“ Man holt also etwas aus dem ganzen Sumpf des Erinnerten hervor, oft etwas Schmutziges und zunächst Gestaltloses.

In einer Psychotherapie, wie ich sie verstehe, hat man Gelegenheit, das gleiche Ereignis allmählich anders zu bewerten, indem man es auf verschiedenerlei Weise schildert. Dies ist dann hilfreich, wenn es wertschätzend geschieht. Ich glaube aber, dass dies nur im Rahmen einer Therapie wirksam ist, nicht wenn man seine Erlebnisse privat aufschreibt. Wenn man es als verzweifelter neurotischer Mensch schaffen würde, sein eigenes Leben wertschätzend statt ablehnend zu erzählen, dann wäre man nicht neurotisch. Man braucht dann ein Gegenüber, das einem dabei hilft, sich selbst und anderen zu verzeihen.

Was haben Sie bei der Arbeit an Ihrem Buch, bei diesem strukturierten Erinnern über sich selbst hinzugelernt?

Ich habe gelernt und es hat mich überrascht, dass es auch in meinem fortgeschrittenen Alter von 81 Jahren noch gelingen kann, Einstellungen zu verändern – etwa gegenüber meiner Mutter, aber auch mir selbst gegenüber. Mir ist klarer geworden, dass ich als erwachsener Mensch keinen Grund habe, nachtragend zu sein. Man ist kein besserer Mensch und nicht mehr wert als die Person, der man etwas übelnimmt.

Wenn man sich ungerecht behandelt fühlt, erhebt einen das nicht moralisch. Man muss diese Verletzungen aber auch nicht verschweigen, sondern kann offen und öffentlich darüber berichten – auch wenn es um die eigene Familie geht. Ich habe erlebt, dass die Reaktionen auf mein Buch, auch aus dem Umfeld der darin beschriebenen Personen, nicht so schlimm waren, wie von mir befürchtet, sondern durchweg wohlwollend.

Sie schreiben auf Seite 170: „Ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien. Das ist nämlich mein Schatz.“ Mich interessiert in der Aufzählung das Wort „Fantasien“. Zählt zum Erinnern auch das, was man gar nicht gelebt, sondern sich vorgestellt, gewünscht, zusammenfantasiert hat?

Nun bin ich ja jemand, der innerlich ständig im Gespräch mit sich selbst ist. Fantasie ist für mich fast alles. Wenn ich jetzt diese Blumen sehe, sehe ich sie auch gleichzeitig blütenlos im Winter oder umgeben von Vögeln. Wenn ich meine Vorstellungskraft etwas anstrenge, dann schneit oder hagelt es. Wenn mir jemand im Zug etwas erzählt, dann läuft das alles szenisch in mir ab, als wäre es mir selbst passiert.

Das Fantasierte ist also immer dabei, es ist ein integrierter Bestandteil des Erlebten, auch des Erinnerten. Für mich als gläubiger Mensch ist das alles eingebettet in etwas Umfassenderes, in die Schöpfung selbst. Ich fühle mich darin aufgehoben. Gott ist für mich dieses konstruktive Prinzip.

Helga Schubert ist in der DDR aufgewachsen, studierte in Ostberlin Psychologie und arbeitete als klinische Psychologin und Psychotherapeutin, bevor sie sich aufs Schreiben verlegte. 1990 war sie Sprecherin des Zentralen Runden Tischs. Ihr in diesem Frühjahr erschienenes Buch Vom Aufstehen wurde ein Bestseller. ­Soeben wurden bei dtv zwei Bücher von ihr über die NS-Zeit neu aufgelegt: Die Welt da drinnen erzählt von den Euthanasieverbrechen, Judasfrauen von Denunziantinnen.

Leseprobe

Meine Urenkelin liebt mich, hatte meine Mutter zur Krankenschwester gesagt, die ins Zimmer hereinkam, um meine Personalien aufzuschreiben, meine Urenkelin weiß, was ich will, auch wenn ich einmal nicht mehr sprechen kann, sagte meine Mutter zu der Schwester.

Aber die studiert doch ganz woanders, die ist doch viel jünger als ich, sagte die Schwester mit einem erschrockenen Blick zu mir. Darf ich denn Ihre Tochter überhaupt benachrichtigen, wenn Ihnen etwas passiert? Meine Mutter lächelte und schwieg.

Als die Schwester gegangen war, fuhr ich die vielen Stunden mit dem Zug nach Hause und suchte im Internet ein billiges Zimmer im nördlichsten Ort in Deutschland.

Was ist so schwer mit dem vierten Gebot? Was ist los mit Ihnen und Ihren Eltern?, fragte die Kurpastorin mich dort, eine knabenhafte Frau, am langen Tisch mir gegenüber, Deckenbeleuchtung, außer ihr und mir niemand im großen Kirchgemeindesaal der Nordseeinsel. Sie lächelte nicht ein bisschen.

Es geht nur um meine Mutter. Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben, auf dass es dir wohlgehe. Das ist doch das vierte Gebot.

Irrtum, sagte die Pastorin. Von Liebe ist im Gebot nicht die Rede. Gott verlangt nicht von uns, dass wir unsere Eltern lieben. Wir brauchen sie nur zu ehren. Sie haben sich ganz umsonst bekümmert, sagte sie. Sie können nicht gezwungen werden, Ihre Mutter zu lieben. Ihre Mutter kann aber auch nicht gezwungen werden, Sie zu lieben. Sehen Sie, Ihre Mutter hat sich doch erfolgreich eine Tochter gesucht. Suchen Sie sich doch eine Mutter. Falls Sie eine brauchen.

Aus dem Buch Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten von Helga Schubert. Dtv, München 2021.

Psychologie und Literatur

In unserer Serie sprachen unter anderem:

Judith Hermann über das Trennende zwischen Liebenden (Heft 9/2021)

Thomas Hettche über das Märchenhafte im Alltäglichen (Heft 6/2021)

Anke Stelling über subtile soziale Ausgrenzung (Heft 3/2021)

Daniel Kehlmann über Magie und Wissenschaft (Heft 6/2020)

Juli Zeh über die Vergeblichkeit verbissener Identitätssuche (Heft 8/2019)

Bodo Kirchhoff über Verluste und Versäumnisse (Heft 3/2017)

… und viele mehr. Sie können diese Hefte hier nachbestellen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2021: Gelassen durch ungewisse Zeiten