Die Erzählung unseres Lebens

Geschichten sind mehr als nur unterhaltsam: Indem wir unser Leben erzählen, geben wir ihm Form und Sinn – und fühlen uns bei uns selbst zu Hause.

Die Illustration zeigt eine Frau, die von Stationen ihres Lebens erzählt. Zu sehen ist ein Verlobungsring, eine Geburtstagstorte, ein Mann, ein Teddybär, ein Hund, ein Kirchturm, ein Sarg und eine Kerze.
Wir lieben es aus gutem Grund, Geschichten zu hören und selbst zu erzählen. © Marco Wagner

Es war einmal im fernen Orient ein mächtiger König namens Schahriyar, der wurde von seiner Frau so schamlos betrogen, dass er fortan keiner Frau mehr vertrauen wollte. Also fasste er den Plan, jede Nacht eine neue Frau zu heiraten und sie am Morgen nach der Hochzeitsnacht hinrichten zu lassen.

Nachdem im Volk fast alle jungen Frauen Opfer seiner grausamen Rache geworden waren, meldete sich Scheherazade, die Tochter seines Wesirs, für die Hochzeit mit dem vielfachen Mörder. Sie wünschte sich aber, dass ihre…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

sich aber, dass ihre kleine Schwester mit zu Schahriyar ins Brautgemach kommen dürfe. In der Nacht verlangte diese Schwester, von Scheherazade eine Geschichte zu hören. Was sie da erzählte, faszinierte den Herrscher, und als Scheherazade gerade mitten darin war, hob sich das Morgenrot. Der König wollte aber unbedingt die Fortsetzung der Geschichte hören, und so verschob er ihre Hinrichtung auf die zweite Nacht.

Als diese gekommen war, erzählte sie ihm eine weitere Geschichte von tollen Abenteuern. Die war noch aufregender, und erneut brach gerade an der spannendsten Stelle der Morgen an. Wieder verschonte Schahriyar die junge Frau, um das Ende der Geschichte zu hören. So ging es Nacht für Nacht. Fast drei Jahre lang hielt Scheherazade den König im Bann ihrer Worte – bis er sich in einen gerechten Herrscher und glücklichen Menschen verwandelt hatte.

Die Macht guter Geschichten

Gibt es eine schönere Parabel auf die Kraft des Erzählens als die Rahmenhandlung der morgenländischen Geschichtensammlung Tausendund­eine Nacht?

Gute Geschichten haben Macht über uns. Sie ziehen uns tief hinein in den Kosmos menschlicher Emotionen. Sie lassen uns Angst, Abscheu und Wut erleben, Trauer, Besorgnis und Mitgefühl, Freude, Bewunderung und Lust. Sie aktivieren unsere Muster, mit denen wir die Welt erklären, Konflikte wahrnehmen und bewältigen. Sie stellen uns die Frage, wie wir wohl anstelle der Helden reagiert hätten, fordern uns heraus, Position zu beziehen, präsentieren uns neue Handlungsmöglichkeiten und geben uns die Chance, darüber zu neuen Haltungen zu gelangen. So erlebt auch König Schahriyar eine Läuterung. Tausendundeine Nacht ist zugleich die Geschichte seiner Heilung von der Rachsucht, die er als Reak­tion auf seine tiefe Verletzung ausgebildet hatte.

Die Leidenschaft fürs Erzählen reicht weit in die Entstehungsgeschichte unserer Gattung zurück. Menschen seien story telling animals, meint der amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall. Lange bevor sie eine Schrift entwickelten, erzählten sie sich bereits Geschichten. Das hat sich uns tief eingeprägt, mit weitreichenden Folgen für unsere Wahrnehmung der Welt, wie die Mainzer Literaturwissenschaftler Winfried Eckel und Anja Müller-Wood schreiben: „Nur weil die Menschen gern Geschichten hören, kann man ihnen Geschichten von Fortschritt oder Erlösung, von Siegen oder Niederlagen, von den Ursprüngen der Nation oder dem Ende aller Dinge erzählen.“

Bedürfnis nach Einfachheit in einer komplexen Welt

Kaum je schien das Bedürfnis danach größer zu sein als gerade jetzt. Vielleicht sehnen wir uns in einer immer komplexeren Welt, in der alles mit allem verbunden scheint, die einfache Struktur einer Geschichte herbei. Sie hat einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Jedenfalls liegt Erzählen im Trend. Sogar im Marketing ist der narrative hype angekommen. Unternehmen versuchen uns ihre Produkte mittels storytelling schmackhaft zu machen, Werbefilmer aktivieren in clever verdichteten Plots unsere Gefühle. Auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften spricht man von einem narrative turn. Und in den beliebten science slams, die ein breites Publikum finden, wird nüchterne Wissenschaft in eine unterhaltsame Erzählung verpackt.

Aber wir wollen ja nicht nur Geschichten hören, wir lieben es auch, sie zu erzählen. Das ist etwas Intuitives, das wir uns früh im Leben aneignen. Dahinter liege ein tiefes Bedürfnis, sagt die Psychoanalytikerin Brigitte Boothe von der Universität Zürich: „Wer von sich selbst erzählt, macht Ansprüche geltend. Sein Befinden in der Welt soll für die Welt Bedeutung haben.“

Diese Geschichten wirken dabei nicht nur auf andere, sie wirken auch auf uns selbst. Mit ihrer Hilfe geben wir dem Leben und unserer Biografie Struktur und Bedeutung. Eine für unsere Identitätsbildung unverzichtbare Instanz von Psyche und Gehirn, das autobiografische Gedächtnis, dient eigens dem Zweck, den Fluss unserer täglichen Erlebnisse zu Anekdoten und Episoden zu verarbeiten. Die Kindheit etwa erklären wir anhand einer Handvoll Erzählungen, die wir als „typisch“ bezeichnen und immer wieder vorbringen. Wie ein Dramaturg, der einen Roman für die Bühne inszeniert, wählen wir aus der Unzahl der Erlebnisse wenige aus, die wir zu einer plausiblen Herleitung unserer Persönlichkeit und unserer Lebenssituation verdichten. So entsteht ein „Narrativ“ – die Erklärung für unser Sosein.

Erzählen in der Therapie

Diese Narrative spielen eine wichtige Rolle in der Psychotherapie. Aber es gibt Unterschiede. In einer klassischen Verhaltens- oder Gesprächstherapie etwa ist der mehr oder weniger unstrukturierte Bericht des Klienten über Begebenheiten aus seinem Leben lediglich der Anknüpfungspunkt, um mit dem Therapeuten vor diesem Hintergrund das aktuelle Geschehen anzugehen. In der sogenannten narrativen Therapie spielt dagegen die Geschichte an sich eine zentrale Rolle.

„In der Alltagsarbeit narrativer Therapie beginnen wir damit, Menschen so kennenzulernen, wie sie gerne kennengelernt werden möchten“, schrieb Michael White, der die Therapieform gemeinsam mit David Epston entwickelte. „Wir hören uns Geschichten an. Das ist eine ganz andere Geisteshaltung, als wenn man versucht, Symptome, oberflächliche Anzeichen für tiefe Bedeutungen, sinnlose Bedeutungen oder ‚Fakten‘ herauszuhören.“ Ziel ist, den Klienten zu helfen, durch das Erzählen ihrer Geschichte ihr Leben besser zu verstehen – und durch das Erzählen einer neuen, anderen Geschichte das Leben zu verändern. In dieser alternativen Geschichte werden dann Erlebnisse neu interpretiert oder andere Begebenheiten herausgehoben.

Im Zentrum stehen die Bedeutungen, die wir diesen Erlebnissen beimessen. Zeigen sie unsere Fähigkeiten oder Defizite, Freude oder Leid, Erfolge oder Erfahrungen des Scheiterns? In der Lebensrückblicktherapie, die Andreas Maercker entwickelt hat, werden gezielt alle Aspekte aktiviert. Maercker, Professor für Psychopathologie und klinische Intervention an der Universität Zürich, erläutert: „Wir stellen für jede Lebensphase drei Fragen: nach einem positiven Lebensereignis, nach einem negativen und nach einem Erlebnis, in dem ein Problem gut bewältigt werden konnte.“ Wie Therapiestudien zeigen, bessern sich allein mithilfe dieses angeleiteten Erzählens im Verlauf von drei Monaten Depressionen, Selbstwert, Wohlbefinden. Auch der Erinnerungs- und Erzählstil verändert sich.

Aktivierung von Selbstheilungskräften

Das Erzählen aktiviert gleichsam unsere Selbstheilungskräfte. Vier Faktoren sind dabei wirksam, wie die Psychoanalytikerin Brigitte Boothe in ihrem Buch Das Narrativ beschreibt.

Aktualisierung: Jeder, der erzählt, vergegenwärtigt sich seine Biografie. Man ist in eine Kontinuität des Lebens eingebunden, es gibt einen „Faden vom Hier und Jetzt zum Dort und Damals“, wie Boothe es nennt.

Bewältigung: Diese Wirkung des Erzählens ist wohl jedem geläufig: Etwas hat uns destabilisiert, und jetzt empfinden wir den Drang, es bei jemandem wieder „loszuwerden“. Viele Menschen wollen belastende Erlebnisse immer aufs Neue erzählen, um ihnen eine Struktur und einen Rahmen zu geben, der auch die aufkommenden Emotionen einhegt.

Wunscherfüllung: „Die Welt interessiert sich ja leider nie für das, was mir gerade wichtig ist“, sagt Brigitte Boothe, „und die Menschen sind oft anders zu mir, als ich mir das vorstelle. Aber durch das Erzählen gestalte ich mir die Welt so – meistens ohne es zu merken! –, dass meine Wünsche ein wenig mehr bedient werden. Und wenn mir diese Geschichte geglaubt wird, hilft mir das, dass sich meine erlebte Wirklichkeit der annähert, die ich mir wünsche.“

Soziale Integration: Wir bringen uns als Individuum in die Gemeinschaft ein, können mit unserer Geschichte für uns werben. Wir werden erzählend erkannt und bekommen die Bestätigung, dass andere uns unsere Erzählung abnehmen. Das ist zentral für eine Erzählung: Sie muss angenommen werden! Andersherum ist es tragisch: wenn wir niemanden finden, der zuhören will, oder andere uns nicht glauben.

Gerade diese Widerrede gegen die eigene Erzählung sei ein kritischer Punkt in der Psychotherapie, erläutert Brigitte Boothe. „Einem Patienten ist nur bedingt gedient, wenn man ihn in seiner Erzählung einfach bestätigt. Eine Erzählung kann zwar helfen, sein Selbstgefühl zu stabilisieren, häufig aber hält er dabei Manöver der Selbsttäuschung aufrecht, um eine Konfrontation mit Ängsten zu vermeiden. Ihn darauf hinzuweisen kann den therapeutischen Prozess empfindlich stören. Deswegen sollten Therapeuten dann eher von der narrativen auf die reflexive oder kommunikative Ebene übergehen.“

Geschichten von Trauma und Krise

Je nach Befund seien es andere Aspekte des Erinnerns und Erzählens, die deren heilsame Kraft ausmachten, erläutert Andreas Maercker. „Ist ein Mensch depressiv, helfen Geschichten, die einen Zugang schaffen zu Erinnerungen, in denen er etwas gut bewältigt hat, in denen etwas schön und positiv war. Das ist bei Depressiven häufig verschüttet.“

Bei einem Traumapatienten sei es der behutsame gefühlsmäßige Kontakt mit der traumatisierenden Erinnerung, der eine langsame Verarbeitung ermögliche. Das geschieht etwa bei der narrativen Expositionstherapie, die an der Universität Konstanz speziell für die Behandlung von Kriegsflüchtlingen und Opfern organisierter Gewalt entwickelt wurde. Gemeinsam mit den Therapeuten erarbeiten die Betroffenen eine Kontinuität ihrer Lebensgeschichte und bauen übers Erzählen ihr autobiografisches Gedächtnis neu auf – mit Betonung der „Hotspots“, der traumatischen Erlebnisse. So gelingt schließlich ihre Integration.

Wichtiger Rückblick bei Krisen

Doch auch in „gewöhnlichen Lebenskrisen“, etwa nach einer Trennung, einem Arbeitsplatzverlust oder dem Tod eines Angehörigen, kann das Einbetten dieses Schicksalsschlags in ein umfassenderes Narrativ sehr hilfreich sein. „Gerade in Krisensituationen ist der Blick auf das bisherige Leben hilfreich“, schreiben Christin Köber und Tilmann Habermas von der Universität Frankfurt: „Menschen sind in der Lage, die Vergangenheit neu zu deuten, diese bewusst mit der Gegenwart in Einklang zu bringen und sich selbst in einem neuen Licht zu sehen. Sie können für sich und mit anderen klären, wie es so weit kommen konnte und was die momentane Situation für sie bedeutet.“

Gelingt der Prozess, entsteht eine neue Kohärenz – das Bewusstsein, dass das Erlebte nun ein akzeptierter und integrierter Teil der eigenen Biografie ist. Eine Langzeitstudie der Uni Frankfurt konnte den Zusammenhang stärker ausleuchten, so Köber und Habermas: „Teilnehmer um die 40 erkannten überwiegend, dass sie sich selbst über die Jahre sowohl treu blieben als auch veränderten – und reflektierten das in ihrer Erzählung. Neu Erlebtes webten sie in ihre bereits stabile Identität ein.“ Die Verbindung von Erinnerung und Gedächtnis mit der persönlichen Identität ist eng. Andreas Maercker: „Wir sind, was wir erinnern.“ Und davon erzählen wir dann.

Das eigene Leben aufschreiben

Wobei „Erzählen“ nicht notwendigerweise den mündlichen Vortrag mit direktem Gegenüber, etwa einem leibhaftigen Therapeuten bedeuten muss. Die Lebensrückblicktherapie wird beispielsweise auch gestützt durch ein Onlinetool, in das die Patienten ihre Erlebnisse und Reflektionen eintragen können.

Wie ungemein positiv sich die schriftliche Bearbeitung von Erlebnissen aufs Wohlbefinden auswirken kann, ist durch zahlreiche Studien belegt, zuerst in den 1980er Jahren von dem amerikanischen Psychologen James Pennebaker. Er wies nach, dass bereits 10 bis 30 Minuten des Schreibens über emotional Belastendes an drei bis fünf Tagen hintereinander signifikante Effekte auf Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden haben.

Die von Andreas Maercker entwickelte Lebensrückblicktherapie hat gar eine Effektstärke, die der von Antidepressiva entspricht – nur komplett ohne deren Nebenwirkungen. „Man muss relativieren“, schränkt Maercker ein, „dass die Ergebnisse wohl nicht so stabil sind wie etwa bei einer kognitiven Verhaltenstherapie. Die Erinnerung an die positiven Erlebnisse und Bewertungen, die in der Therapie aktiviert wurde, kann auch wieder verblassen. Deswegen unterstützen wir Menschen dabei, im Anschluss an die Therapie ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Das hilft, den sehr guten Effekt aufrechtzuerhalten.“

Zugang zu vergessenen Erinnerungen

Das Bedürfnis danach wächst ohnehin, wie die große Nachfrage nach Seminaren und Gruppenangeboten zur Biografiearbeit zeigt. Ein häufiger Anlass, berichtet Brigitte Boothe, die selbst Fortbildungen anleitet: „Wie schreibe ich meine Biografie, damit meine Enkel Freude daran haben?“ Im Verlauf der Sitzungen seien die Erfahrungen aber viel tiefgehender. „Die Teilnehmer bekommen Zugang zu vergessenen Erinnerungen. Sie werden aufgewühlt. Auf einmal steht ihnen ein Erlebnis wieder vor Augen. Durch das Schreiben bekommt es erneut Gestalt, wird vielleicht neu bewältigt, kann aber auch zu einer neuen Einsicht führen. Das ist enorm belebend und bereichernd.“

Das Schreiben entwickelt dabei seine eigene Kraft, denn auf einmal werden wir zu Regisseuren unseres Lebens – selbst wenn wir Erfahrungen des Scheiterns beschreiben. Wir können in eine souveräne Position gelangen, von der aus wir auf Augenhöhe mit inneren Beziehungen kommen, die vorher überwältigend schienen. „Das gelingt beim Schreiben leichter als beim Sprechen“, hat Brigitte Boothe beobachtet, „weil ein Dokument entsteht, auf das ich zurückkommen, das ich verändern kann.“ Was enorm hilft: die Möglichkeit, dabei die Tonart zu wechseln. Wir können komisch erzählen, ironisch, tragisch, empört, distanziert wie ein Reporter oder fabulierend wie Scheherazade. Mit diesem Spiel der Tonarten des eigenen Lebens erobern wir eine neue Freiheit des Blicks.

„Ich nehme eine Haltung zu meinem Leben ein“, erzählt die Psychoanalytikerin, „und das Gefühl, das der jeweiligen Tonart entspricht, ist immer ein anderes. Wenn aber dann alles stimmt, entfaltet sich eine Art inneres Lächeln. Und auf einmal fühle ich mich mit meinem Leben wohl.“

Unser Autor Sven Rohde hat sich von einer begnadeten Geschichtenerzählerin ihr Leben schildern lassen – und ein Buch darüber geschrieben: Der Traum vom Leben in dir (Books on Demand 2018) ist die Geschichte von Ruth Rupp, die im Alter von 77 Jahren ihre Bühnenkarriere begann.

Zum Weiterlesen

Winfried Eckel, Anja Müller-Wood (Hg.): Die Macht des Erzählens. Transdisziplinäre Perspektiven. Gardez, Remscheid 2017

Brigitte Boothe: Das Narrativ. Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Schattauer, Stuttgart 2011

Andreas Maercker, Simon Forstmeier (Hg.): Der Lebensrückblick in Therapie und Beratung. Springer, Berlin, Heidelberg 2013

Michael White, David Epston: Die Zähmung der Monster. Der narrative Ansatz in der Familientherapie. Carl-Auer, Heidelberg 2013 (7. Auflage)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille