Das brandenburgische Havelland ist einer der dunkelsten Landstriche in Deutschland. Dort ist es so dunkel, dass in der Region der erste Sternenpark der Bundesrepublik eröffnet wurde. Im nächtlichen Himmel sieht man direkt auf die Milchstraße, dieses unendliche Meer der Sterne samt ihren wunderbaren Nebelschlieren. Wie von selbst packt einen die Ehrfurcht: Der Mund bleibt einem offen stehen, die Augen weiten sich. Die Seele konzentriert sich nur auf das, was man sieht, versinkt im Gefühl, wie winzig und…
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nur auf das, was man sieht, versinkt im Gefühl, wie winzig und marginal der Mensch doch ist. Die Dinge rücken sich zurecht.
Solch eine wie von selbst kommende Ehrfurcht „macht den Menschen nicht klein, sondern erhebt ihn zu seiner wahren Größe“, erklärt der Religionspädagoge Anton A. Bucher von der Universität Salzburg. „Sie kann das Leben enorm bereichern und vertiefen.“ Das wusste schon Albert Einstein: „Wer sich nicht … in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.“
Das Schöne: „Sie ist für jeden universell erreichbar“, findet der Ultra-Ausdauerathlet und Autor Christopher Bergland und ist geradezu hingerissen von diesem mächtigen Gefühl und seinen Effekten, die sich jüngst in mehreren Studien offenbarten. Natürlich auch aus eigener Erfahrung: Der Mann ist in 24 Stunden rund 247 Kilometer gerannt und erlebt Ehrfurcht am laufenden Meter.
Niemand allerdings muss sich die Lunge aus dem Hals rennen, um einen Hauch von Ehrfurcht zu ergattern. Anton Bucher hat 500 Frauen und Männer aller Altersklassen befragt – und zunächst eine Rangliste der stärksten Ehrfurchtsauslöser ermittelt. Nummer 5: das neugeborene Kind. Nummer 4: der hohe Berggipfel. Nummer 3: die Gedenkstätte eines Konzentrationslagers. Nummer 2: Menschen mit viel Zivilcourage. Nummer 1: das Leben an sich. Die Ehrfurcht kann im nächsten Museum warten. Oder im Gotteshaus. Im Kreißsaal bei einer Geburt. Auf der Website der NASA, wenn man sich die Aufnahmen aus dem All ansieht. Oder in einem begnadeten Stück Musik, das uns umhaut. Keinerlei Ehrfurcht flößen den meisten von uns beispielsweise Generäle, Multimillionäre oder Promis ein.
Was Buchers Studie auch zutage bringt: „Viele Menschen stoßen sich an Ehrfurcht, weil sie religiös aufgeladen ist.“ Die Ehrfurcht hat einen schlechten Ruf. Denn am Anfang war sie ein rein kirchliches Phänomen: Ehrfurcht vor Gott, vor seinen Vertretern auf Erden, vor dem Fegefeuer, vor der Hölle. Meist überlagerte die untertänige Furcht die Ehr bei weitem. Skeptisch erinnert sich das kulturelle Gedächtnis daran, wie weltliche Herrscher und Gottes Vertreter auf Erden Menschen mit der Ehrfurcht eingeschüchtert und klein gemacht haben.
Umgekehrt klagen gerade konservative Kirchenvertreter über einen grassierenden Verlust von Ehrfurcht – vor Gott und Religion. Was stimmen mag. Aber „auch heute verbinden Menschen, wenn sie nach Ehrfurcht gefragt werden, starke Erlebnisse mit dem Begriff“, weiß Bucher – und das obwohl das Wort nicht gerade als cool gilt. Im Alltag hört man es selten, dennoch ist das Phänomen verbreiteter, als man denken würde. Gut ein Drittel der Probanden von Bucher empfindet mindestens einmal wöchentlich, dass sie „vor Ergriffenheit Gänsehaut überrieselt“.
Je häufiger dieses Staunen uns befällt, desto öfter empfinden wir auch „tiefste Dankbarkeit für alles“. Eine amerikanische Untersuchung erzielte ähnliche Ergebnisse. Drei Viertel der Befragten hielten Ehrfurcht demnach für „etwas Großes“. Zwei Drittel hielten sie für „wünschenswert, wichtig und positiv“. „Der ehrfürchtige Mensch“, so Bucher, „gesteht seine Grenzen und Kleinheit angesichts des Kosmos ein und gewinnt gerade dadurch an Größe.“
Ehrfurcht ist nicht nur deshalb eine der positiven Emotionen, die dem Menschen das Gefühl vermitteln, dass gerade irgendetwas gut und richtig verläuft. Wie jede Emotion wird sie begleitet von körperlichen Empfindungen: ein wohliger Schauer fährt über den Rücken, die Pupillen öffnen sich, man zittert leicht und so weiter. Meist vergeht sie schneller, als eine Sternschnuppe am Firmament verglüht. Das gehört zu ihrem Wesen, das macht sie besonders.
Wobei die Furcht dem Begriff einen negativen Touch verleiht, jedenfalls im Deutschen. „Aber Ehrfurcht ist mit Furcht in der Tat nicht gleichzusetzen“, betont Bucher. Anders als die Angst löst sie keine instinktiven Reaktionen aus – zum Beispiel einen Fluchtreflex. Ohne einen Schuss Angst würde die Ehrfurcht allerdings „blasser“, meint Bucher, und zu „Achtung oder Respekt“. Doch: Wer hat Respekt vor der Milchstraße? Niemand! Achtung und Respekt beziehen sich allein auf Menschen. Ehrfurcht ist auch kein Staunen, obwohl Staunen zur Ehrfurcht führen kann. Irgendwie entzieht sich diese eigentümliche Emotion einer „abschließenden Definiton“, resümiert Bucher. Das macht aber nichts. Wer sie spürt, weiß um ihre Präsenz.
Die Psychologie hat das Gefühl der Ehrfurcht lange links liegengelassen. Zu komplex zu erforschen, hieß es. Findige Wissenschaftler allerdings gingen in jüngster Zeit mit neuer Courage an das Phänomen heran, um herauszufinden, was es mit dem Menschen macht.
Das Zeitgefühl verändert sich
Ehrfurcht befeuert beispielsweise soziales Verhalten, wie die Studienergebnisse von Paul Piff zeigen. Das Team des Psychologen von der University of alifornia in Irvine hat zunächst 1500 US-Bürger befragt, wie sehr sie zu Ehrfurcht neigten. Die Leute nahmen dann an einem Spiel teil, bei dem sie zehn Lotterielose bekamen und entscheiden mussten, ob sie Lose an andere Probanden abgeben würden, die keines erhielten. Wer in seinem Alltag häufiger Ehrfurcht erlebte, verhielt sich in diesem Experiment großzügiger.
In vier weiteren Versuchen lösten die Forscher in Hunderten Teilnehmern durch gezielte Videos Ehrfurcht oder andere Gefühle wie Stolz aus. Dann zeigten die Probanden in bestimmten Situationen, wie sozial sie handelten. In jedem der Experimente begünstigte Ehrfurcht altruistisches Gebaren. Piff ahnt, warum das so ist: Die Präsenz von etwas Großem und Mächtigem motiviert die Menschen, sich weniger auf das eigene Selbst zu konzentrieren und sich stattdessen auch um die Bedürfnisse der Mitbürger zu kümmern, im Sinne des großen Ganzen. „Wenn Sie Ehrfurcht erleben, fühlen Sie sich nicht mehr als Zentrum der Welt“, sagt Piff.
Der Forscher ist besonders davon beeindruckt, wie unterschiedliche Auslöser von Ehrfurcht zu kooperativem Verhalten führen – ob es nun Tropfen gefärbten Wassers sind, die in Zeitlupe in Milch fallen, Videos von Tornados oder Vulkanen oder ob die Probanden in einen Wald gewaltiger Eukalyptusbäume gesetzt wurden. Immer fühlten sich die Leute dadurch weniger wichtig. Je mehr Ehrfurcht eine Gesellschaft durchwebt, glaubt Piff, „desto mehr dient das der Wohlfahrt der Gemeinschaft“.
Zumal Menschen in Ehrfurcht offenbar entspannter zu Werke gehen, wie Melanie Rudd von der University of Houston und ihre Kollegen herausfanden. Ihre Probanden sollten sich an glückliche oder an ehrfurchtserfüllte Momente in ihrem Leben erinnern und sie aufschreiben. Dann wurden die Teilnehmer gefragt, ob sie bereit seien, etwas Zeit für eine gute Sache zu opfern. Die Probanden, die über Ehrfurcht sinniert hatten, taten das viel öfter als die Teilnehmer, die an die Glücksmomente gedacht hatten. Was zu einer These passt, wonach glückliche Menschen ihre Aufmerksamkeit eher auf das eigene Ich als auf das der anderen lenken. Anders der ehrfürchtige Mensch.
In einem zweiten Versuch teilten die Forscher ihre Probandinnen und Probanden ebenfalls in zwei Gruppen ein: Die einen schauten sich Werbung für einen LCD-Fernseher an, in der Wale, Wasserfälle und Astronauten in eine Straßenszene projiziert wurden; die anderen sahen stattdessen Konfetti vom Himmel auf bunt bemalte Menschen fallen.
Der erste Film sollte Ehrfurcht wecken, der zweite Freude. Wer die Wale und Astronauten betrachtet hatte, gab hinterher an, gefühlt mehr Zeit zur Verfügung zu haben. Ehrfurcht, folgert Melanie Rudd, scheint das Zeitgefühl zu verändern. Sie dehnt das Zeiterleben in die Länge, versetzt die Menschen ins Hier und Jetzt, fördert das Wohlbefinden und lindert empfundene Ungeduld. Und: Ein Team um Dacher Keltner, einen der „Päpste“ der positiven Psychologie, hat Hinweise entdeckt, dass Ehrfurcht kreativer machen kann – und den Menschen motiviert, über sich selbst hinauszuwachsen.
Allerdings verändern die gewöhnlichen Ehrfurchtsauslöser die Seele nur vorübergehend. Das ist zwar schon weitaus besser als nichts, doch schöner wäre es, wenn die positiven Effekte länger in der Psyche blieben und die Ehrfurcht zu einer Art Haltung erwachsen würde. So wie bei vielen Astronauten, wie Johannes Eichstaedt von der University of Pennsylvania betont. Indem sie von oben auf den blauen Planeten schauen dürfen, erklärt der deutsche Psychologe, „erfahren sie eine Ehrfurcht, die ihr gesamtes Leben nachhaltig verändert“. Überblickseffekt wird dieses Phänomen genannt.
Kann Ehrfurcht eine Grundhaltung werden?
Eichstaedt und sein Kollege David Yaden haben Berichte von Astronauten unterschiedlicher Länder analysiert, in denen diese beschrieben, was sie beim Blick auf die Erde gespürt hatten. Immer wieder fielen Begriffe wie „Verbundenheit“, „unermessliche Weite“ oder „Einheit“. „Ehrfurcht extrem“, wie Eichstaedt es nennt. Eine echte spirituelle, bewusstseinserweiternde Erfahrung, eine globale Perspektive – in einer komplett weltlichen, wissenschaftlichen Umgebung wie der Internationalen Raumstation. Was man von dort oben erkennt, sind „Menschlichkeit, Liebe, Gefühl und Bewusstsein“, wie es US-Astronaut Eugene Cernan nannte. „Da sieht man keine Grenzen zwischen Hautfarben, Religionen und Politik.“ „Die langfristigen Einstellungen dieser Leute zur Erde und ihren Bewohnern verändern sich“, sagt Eichstaedt weiter – in dem Sinne, dass Menschen freundlicher miteinander umgehen und die Schöpfung bewahren sollten. Sie leben mit Ehrfurcht als einer Grundhaltung, so wie sie der weltberühmte Urwaldarzt Albert Schweitzer predigte.
Lässt sich die Raumerfahrung auf der Erde auslösen? „Auf kurz oder lang bestimmt“, gibt sich Eichstaedt überzeugt und schwört auf die Technik der virtuellen Realität. Längst hat das Team aus den USA erste Versuche mit Probanden gestartet. Auch für ihn selbst sei der virtuelle Blick auf die Erde eine faszinierende Erfahrung gewesen. Angesichts der raschen Entwicklung der virtuellen Realität seien die Aussichten vielversprechend.
Bis es so weit ist, bleibt für ein derart profundes Erlebnis wohl nur die spirituelle Erfahrung der Religion als möglicher Weg zur nachhaltigen Ehrfurcht. Überraschenderweise, betont Piercarlo Valdesolo vom Claremont McKenna College in den USA, funktioniert es auch umgekehrt: Das Gefühl der Ehrfurcht kann einen Menschen empfänglicher für Übersinnliches machen.
Der Psychologe ließ seine Probanden atemberaubende Videos der BBC-Serie Planet Earth schauen: mit riesigen Gebirgsketten, endlosen Dünen in der Wüste und so weiter. Teilnehmer einer Vergleichsgruppe bekamen Interviews aus einer Nachrichtensendung zu sehen. Ergebnis: Die Probanden aus Gruppe eins gaben hinterher an, sie hätten Ehrfurcht empfunden, während die anderen Studienteilnehmer nach ihren Angaben nichts Besonderes gefühlt hatten. Ausschließlich Probanden der ersten Gruppe glaubten nach den Videos an ein göttliches Wesen, dem das Schicksal der Welt unterworfen sei und das einen wohlwollend beschütze. Angesichts einer dermaßen überwältigenden Schönheit der Natur suchten die Teilnehmer nach einer Erklärung für die Schöpfung – ganz egal wie.
Von Ehrfurcht erfüllte Probanden fühlten sich im Gegensatz zur Vergleichsgruppe in einem weiteren Experiment nicht wohl mit einer unsicheren Situation. Wer unsicher ist, sucht für natürliche Phänomene oft eine Lösung im Göttlichen. Wer gedanklich und emotional schon einmal im Übernatürlichen verweilt, dem fällt es schwerer, rational-wissenschaftliche Antworten zu suchen. Nicht nur Valdesolos Erkenntnisse zeigen, wie tief verwurzelt diese spirituellste aller Emotionen auch heute noch in uns ist – dem digitalen Zeitalter und der Ära des geballten Wissens zum Trotz.
„Boah – wie schön!“
Wenn Kinder regelmäßig frei draußen spielen, lernen sie Schönheit (in Form von Farbe, Symmetrie und Balance) und Staunen (in Form von Neugier, Vorstellungsvermögen und Kreativität) wertzuschätzen. Sie sind beispielsweise fasziniert von üppigen grünen Büschen oder von Mustern, die ein ins Wasser fallender Tropfen bildet. Das meinen die US-Wissenschaftler Gretel Van Wieren und Stephen Kellert nach einer Studie, bei der sie ausführlich mit Kindern und Eltern sprachen und gleichzeitig die Zeichnungen, Tagebücher und Beobachtungen der Mädchen und Jungen studierten. Kinder, die mehr als zehn Stunden wöchentlich im Freien spielen, so die Forscher weiter, fühlen sich der Erde spirituell verbunden. Und letztlich äußerten die kleinen Studienteilnehmer Ehrfurcht und Demut vor den Mächten der Natur.
Dankbar fürs Leben
Ein ehrfürchtiger – und dankbarer – Blick auf das Leben kann helfen, eine chronische Erkrankung besser zu bewältigen. Arndt Büssing von der Universität Witten/Herdecke hat mehr als 450 Patienten mit multipler Sklerose sowie Depressionen und anderen psychiatrischen Erkrankungen befragt. „Ehrfürchtigen Menschen gelingt oft ein positiver Blick auf ihre Erkrankung“, sagt der Mediziner. Häufiger als andere sehen sie auch eine Chance in der Krankheit – dass sie vielleicht etwas in ihrem Leben ändern, womöglich bewusster leben und die eigenen gesunden Anteile stärker anerkennen. „Bei Leuten ohne Ehrfurcht und Dankbarkeit ist das alles im Schnitt sehr schwach ausgeprägt“, erklärt Büssing. Diese Ehrfurcht zu erfahren gelinge nicht nur religiösen Menschen, „denen aber leichter als anderen, gerade in der katholischen Tradition“.
Literatur
Anton A. Bucher: Ehrfurcht. Psychologie einer Stärke. Patmos, Ostfildern 2016