„Ich habe oft gedacht: Tue ich es für ihn oder für mich?“

Psychologie und Literatur: Die Schriftstellerin Gabriele von Arnim erzählt von der Beziehung zu ihrem Mann, als sie ihn zehn Jahre lang pflegte.

Die Schriftstellerin und Journalistin Gabriele von Arnim steht in einem dunkelblauen Oberteil in einer knallroten Eingangstür aus Holz
© Lena Giovanazzi für Psychologie Heute

Kurz nachdem sie schon entschieden hat, sich von ihrem Mann zu trennen, erleidet er einen Schlaganfall. Nichts ist mehr, wie es war. Gabriele von Arnim bleibt bei ihm, pflegt ihn bis zu seinem Tod zehn Jahre später und schreibt über diese Zeit ein Buch, das zum Bestseller wird. Das Leben ist ein vorübergehender Zustand ist jedoch viel mehr als eine Geschichte über Sorge und Hoffnung, Stärke und Schwäche, Krankheit und Tod. Es ist auch ein Sprachkunstwerk, weil die Autorin Schönes und Schmerzliches in…

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und Schwäche, Krankheit und Tod. Es ist auch ein Sprachkunstwerk, weil die Autorin Schönes und Schmerzliches in wunderbar klare, manchmal messerscharfe Sätze verwandelt. Für das Interview in Berlin lädt von Arnim zu sich nach Hause ein.

In Ihrem Buch Das Leben ist ein vorübergehender Zustand schreiben Sie über die Zeit vor und nach dem Schlaganfall Ihres Mannes und die zehn Jahre, in denen Sie Ihren Mann gepflegt haben. Schon die Verständigung war nicht leicht. Seine Worte, schreiben Sie, „klingen wie geplatzte Knallerbsen. Und dann liegen die Sätze herum, und man muss versuchen, sie aufzusammeln, sie zu entziffern.“ Wie haben Sie es geschafft, sie zu verstehen?

Man gewöhnt sich an die Aussprache. Bei meinem Mann war es ja nicht so, dass er die Worte nicht fand. Das Artikulationszentrum war getroffen – deshalb hat er sie auf eine Art und Weise ausgesprochen, dass man lernen musste, was er sagen wollte. Für Fremde war es fast unmöglich, ihn zu verstehen. Aber ich habe ihn meistens gut verstanden. Und er hat mir auch irgendwann Geschichten erzählen können. Er hat ja immer wahnsinnig gerne geredet und wollte auch so gerne reden, als er schon krank war. Es war wirklich eine Zeit des genauen Hinhörens.

Sie beschreiben, dass Ihr Mann nach wie vor scharfsinnig denken konnte. Wann haben Sie das nach dem Schlaganfall zum ersten Mal verstanden?

Es gab eine Szene, die war grandios. Meine Tochter hatte ihm eine CD von Gerhard Polt mitgebracht. Und Polt hat er immer geliebt. Sie kannten sich auch ein bisschen, als wir in München lebten, und haben zusammen Tennis gespielt. Wir hatten also diese CD angestellt, da war mein Mann noch in der Rehaklinik.

Und plötzlich wackelte das Bett. Ich kriegte einen wahnsinnigen Schreck, weil ich dachte: Jetzt haben sie ihm wieder nicht genug Wasser angehängt und wahrscheinlich ist er dehydriert. Bis wir plötzlich merkten: Er lacht. Das ganze Bett wackelte, weil er so lachen musste. Das war der erste Moment, in dem ich gemerkt habe: Der Kopf funktioniert. Es war überwältigend.

Wie hat sich Ihr Austausch verändert, wenn man nicht mehr mal eben zwischen Tür und Angel sprechen kann?

Wir haben früher sehr viel miteinander gesprochen. Wir haben sehr viel diskutiert. Wir haben uns sehr viel über Themen in die Wolle gekriegt. Gezankt haben wir uns auch in der Zeit, als er schon nicht mehr richtig sprechen konnte. Und ich fand, immer wenn wir uns zankten, sprach er besonders deutlich. Es hat sich alles verändert durch die Krankheit. Dieses schnelle Hin und Her, das gab es natürlich nicht mehr. Aber es gab ja so unendlich viel nicht mehr. Auch die ganze Konstruktion der Beziehung hatte sich verändert. Weil ich jetzt diejenige war, die alles organisierte und unter Kontrolle zu halten versuchte.

Kurz vor dem Schlaganfall Ihres Mannes hatten Sie mit der Beziehung abgeschlossen und ihm gesagt, dass Sie sich trennen wollten. Gab es darüber danach noch ein Gespräch?

Nein. Ich denke, es gab dafür zwei Gründe. Der erste war: Er hatte ja so eine Art Delirium und war lange im Koma. Und er hat sich wohl tatsächlich auch nicht daran erinnert. Er wusste es wohl nicht mehr oder hat es verdrängt. Das kann man ja oft schwer unterscheiden. Und der zweite Grund war, dass auch ich mich nicht ständig daran erinnern wollte. Wenn Sie jemanden über einen so langen Zeitraum hegen und pflegen in dem Bewusstsein: „Eigentlich ist dies der Mann, den ich gerade verlassen wollte“, ist das kein guter Zustand für eine zwangsläufig enge Beziehung, die entsteht, wenn einer braucht und der andere gibt.

Waren Sie vielleicht doch verbundener mit ihm, als Sie zuvor geglaubt hatten?

Die Verbundenheit war immer da, deshalb habe ich ja auch so lange gezögert, mich zu trennen. Wir haben nicht nur viel geredet, sondern viel gelacht miteinander. Das hat uns auch immer wieder gerettet – übrigens auch in den Jahren der Krankheit. Unsere Beziehung hat sich in dieser Zeit tatsächlich vollkommen verändert. Aus der Wut des Gehenwollens ist noch einmal eine innige Beziehung geworden.

Wir haben auf eine neue Art Zärtlichkeit füreinander empfunden. Natürlich war das eine Liebe einer ganz anderen Art, ohne Begehren. Eine Liebe aus Mitgefühl, eine Liebe aus Vernunft. Sie könnten vielleicht sogar sagen: ein bisschen aus Egoismus, damit es mir auch selbst besser ging. Im Buch steht ja auch der Satz: Liebe muss sein. Sie machte das Leben für beide leichter.

Hatten Sie das Gefühl, gut zu verstehen, was in ihm emotional vorging?

Das ist eine Frage, die ich mir ehrlich gesagt bis heute stelle. Jemanden zu verstehen, der so dramatisch aus seinem Leben herauskatapultiert worden ist – ich weiß nicht, ob man das kann. Ich habe immer wieder versucht, mir vorzustellen, wie es in ihm aussieht. In einem Mann, der vorher ein Berserker war, der öffentlich aufgetreten ist, diskutiert hat, der es liebte, Menschen die Welt zu erklären.

Auch in seinem Beruf, er war ja ein prominenter Journalist.

Ja, und der sitzt plötzlich im Rollstuhl, sabbert ein bisschen und brabbelt so, dass andere ihn eigentlich nicht verstehen können. Ob ich das nachvollziehen konnte? Ob ich das richtig verstanden habe? Ich habe gewusst, wie es war, aber ich behaupte ja immer, wir begreifen erst, was wir wissen, wenn wir es auch fühlen. Und ob ich das wirklich nachfühlen konnte – ich bezweifle das.

Und wenn es um die kleineren Dinge ging, wie etwa die Launen?

Das war gut zu verstehen, aber da musste ich auch immer wieder lernen, mich zu verstehen. Meine eigenen Reaktionen einzuordnen. Ich wusste ja, wenn er verzweifelt war und wenn er wütend reagierte. Er konnte toben und brüllen und dann wieder unendlich lachen. Diese Widersprüchlichkeit ist wirklich toll. Die gibt es ja immer im Leben, aber sie war in diesen Jahren extrem. Morgens sitzt er im Rollstuhl und sagt: Ich bringe mich um. Und nachmittags sitzt er im selben Rollstuhl und lacht sich schlapp. Ich konnte verstehen, wenn er wütend war, trotzdem fand ich es schwer, damit umzugehen. Ich musste auch die Situation verstehen. Nicht nur ihn.

Wie meinen Sie das?

Ich habe oft nachträglich, manchmal auch schon damals gedacht: Warum tue ich das eigentlich alles? Fordere, überfordere ihn mit allen möglichen Therapien und Übungen? Tue ich es für ihn oder für mich? Will ich, dass es ihm gutgeht oder mir? Weil ich mir sagen kann: Ich versuche alles. Und ist das, was ich als Zuwendung, ich sage jetzt mal, tarne, auch Herrschsucht? Ich wollte natürlich, dass er meinen Weg geht. Weil ich ja dachte, ich weiß, was ihm guttun würde, weil ich so viel recherchiert und mit Ärzten gesprochen hatte. Aber es stimmt einfach nicht. Jeder geht seinen Weg. Und das ist so schwer zu verstehen und zu akzeptieren.

Haben Sie sich von ihm verstanden gefühlt?

Immer wieder. Und zwar fast mehr als früher. Auch wenn mich etwas bedrückte, konnte ich gut zu ihm gehen und ihm das erzählen. Und er konnte mir etwas sagen dazu und mir oft helfen. Jetzt hörte er auf einmal sehr viel genauer zu. Er hatte schon immer eine intensive Begabung zuzuhören, und die ist noch mal sehr viel ausgeprägter geworden in dieser Zeit der Krankheit. Aber natürlich hat er mich nicht immer verstanden. Ich habe mich ja selbst nicht immer verstanden.

In Ihrem Buch offenbaren Sie viel Privates, Intimes über die Pflege und Ihre Gedanken.

Ich weiß nicht, ob ich so viel Privates erzähle. Ich mache ja immer die Unterscheidung zwischen persönlich und privat. Ich erzähle sehr viel, aber ich erzähle natürlich viel mehr nicht. Ich werde sehr persönlich, das stimmt, denn ich habe gedacht: Wenn ich über diese Zeit schreibe, muss ich es mit einer ziemlichen Radikalität tun. Ich muss auch beschreiben, was so eine Krankheit körperlich bedeutet.

Es hat Leute gegeben, die haben gesagt: Sie haben das Wort Scheiße benutzt und über den entzündeten Hintern Ihres Mannes geschrieben, so ein Buch wollte ich nicht lesen. Und dann habe ich gesagt: Ja, verstehe ich. Aber wenn man über Krankheit schreibt, muss man auch die kruden Dinge beschreiben. Sonst wird es so ein freundliches Sonntagspicknick. Darum ging es ja nicht.

Worum ging es Ihnen vor allem?

Ich fand, ich musste auch beschreiben, durch was man als Frau des Kranken geht. Und durch welche Phasen man geht, wenn man selbst krank wird. Und wie man versucht, mit der eigenen Aggression, Angst, Zuwendung und Übergriffigkeit umzugehen. Das ist immer wieder eine Gratwanderung. Und ich wüsste auch heute nicht zu sagen, wie es richtig geht.

Man versucht, ab und zu mal nachzudenken. Meistens aber hat man dazu gar nicht die Kraft, weil es so unglaublich auslaugend ist. Nicht nur physisch – das muss ich noch dazusagen: Wir hatten ja das unglaubliche Glück, Geld für eine Pflegerin zu haben –, sondern auch psychisch. Ich musste ihn ja fast jeden Tag irgendwie aufbauen, jeden Tag wieder sagen: Schau doch mal, das ist schon besser geworden.

Ich fand diese eine Stelle im Buch sehr berührend, als Sie ­schreiben, Sie wollten einmal am liebsten das Fenster aufmachen, sich „weit hinauslehnen und sehr laut Hilfe schreien“.

Und zwar in dem Moment, als er sagte: Ich lebe ja nur für dich. Da hatte ich das Gefühl, jetzt muss ich ans Fenster gehen und einmal laut Hilfe in die Nacht schreien. Weil das so eine Belastung ist, wenn jemand das sagt. Ich wollte diese Last nicht und andererseits wusste ich ja, dass es gleichzeitig eine Liebeserklärung war.

Haben Sie sich auch manchmal erlaubt, es ihm zu sagen, wenn Sie nicht mehr konnten?

Ja. Wenn ich wirklich nicht mehr konnte und sagte, ich kann nicht mehr, ist er entweder störrisch geworden und hat gesagt: Du musst auch nicht, ich kann hier ja einfach im Bett liegen. Also völlig irrational. Und es hat ihm auch große Angst gemacht, weil ich natürlich sein Anker war. Insofern war auch das wieder eine Gratwanderung. Was kann ich ihm sagen und was sage ich ihm lieber nicht? Wo täusche ich Stärke vor und wo zeige ich Schwäche?

Sie schreiben im Buch über Ihre Momente der Ohnmacht, aber auch über Ihre Kraftquellen. Zum Beispiel Wohnen. Wie wird das zu einer Kraftquelle?

Ich wohne unglaublich gern. Ich bin wohnsüchtig, sage ich immer. Das ist mehr als zu Hause sein. Es bedeutet, sich in diesem Zuhause wohl und geborgen zu fühlen, eine Beziehung zwischen der Wohnung und mir zu spüren. Wenn ich nach Hause komme, ist die Wohnung manchmal so kalt und lieblos mit mir. Dann muss ich mich erst einmal hinsetzen und vielleicht ein Glas Wein trinken oder ein Lied in die Wohnung singen oder irgendwo eine Kerze anmachen. Ich habe wirklich eine Beziehung zu der Wohnung, in der ich bin. Das hat sicher zu tun mit einer Suche nach Geborgenheit. Ich wollte mal ein Buch schreiben, das sollte heißen: Die Kunst, zu Hause zu sein.

Das würde ich gerne lesen.

Wohnen war für mich immer eine ganz besondere Herausforderung. Ich war unglaublich zickig bei der Wohnungssuche. Weil ich immer wusste: Ich muss irgendwo reinkommen und das Gefühl haben: Hier kann ich schreiben. Hier kann ich sitzen und lesen. Das gute Wohnen beruhigt auch mein Nervensystem. Deshalb habe ich es in diesen Zeiten der Krankheit ganz besonders gestaltet. Irgendwann werden Wände einsam und hohl. Wenn da keine Leute sind und wenn man nicht mehr das Echo gemeinsamer Abende in den Wänden hat. Deshalb habe ich auch in der Zeit der Krankheit meines Mannes viele Menschen eingeladen.

Das war eine Ihrer anderen Kraftquellen: andere Menschen.

Freundinnen und Freunde finde ich unglaublich wichtig. Wenn man so bedürftig ist, wie ich es war in diesen Jahren der Krankheit, muss man aufpassen, dass man andere nicht so damit belastet, dass man sie ausraubt. Man wird selbst ein bisschen wie ein Vakuum, schlingt alle Wärme von anderen, die man um sich hat, in sich hinein. Da muss man schauen, wer das aushalten kann und wer nicht. Es gibt Menschen, die dann selbst sehr mit in den Schmerz gehen, was übrigens weder ihnen noch mir guttut.

Sie betonen auch die Bedeutung der Bücher. Wie gab Ihnen die Literatur Kraft?

Das funktioniert einfach fantastisch. Ich kann mir ein Leben, ohne zu lesen, überhaupt nicht vorstellen. Literatur ist doch ein Geschenk. Man steigt ein in fremde Welten und Erfahrungen, steigt ein in fremden Verrat und muss sich nicht um den eigenen kümmern. Man ist irgendwie weggetragen aus dem eigenen Leben. Und wenn es gerade so schwierig ist wie in diesen zehn Jahren, ist nichts schöner, als wenn man mal zwei Stunden wirklich woanders gewesen ist.

Das führt einen weg und zu einem selbst. Das finde ich so spannend an Literatur. Ich kann entweichen in fremde Welten und gleichzeitig, wenn ich ehrlich lese, kommen sie manchmal ganz nah an mich heran und ich muss mich fragen: Wie würdest denn du mit so einer Situation umgehen?

Ein Roman spielte ja auch eine große Rolle in der Beziehung zu Ihrem Mann: Die Insel des zweiten Gesichts von Albert ­Vigoleis Thelen. Sie haben sogar gesagt, ohne dieses Buch wären Sie gar nicht zusammengekommen. Warum war dieses Werk so entscheidend?

Als ich meinem Mann begegnete, hat er irgendwann gesagt: Wenn Sie mich kennenlernen wollen, dann lesen Sie doch mal dieses Buch von Albert Vigoleis Thelen. Gut, dann habe ich mir irgendwann das Buch geschnappt, gelesen und konnte gar nicht wieder aufhören. Ich war absolut fasziniert. Es ist ein Schelmenroman, der auf Mallorca spielt, wohin der Autor mit seiner Frau geflohen ist vor den Nazis. Er hat unter kläglichen Umständen gelebt, aber immer mit den Bäckern auf den Mehlsäcken philosophiert. Er schreibt so witzig und böse und wortgewaltig.

Dann habe ich den Autor gesucht, er lebte tatsächlich noch, in der Nähe von Lausanne, in einem Hochhaus über der Autobahn. Er guckte dann runter und sagte: Ist es nicht wunderbar, wenn man schwerhörig ist? Weil er so die Autobahn nicht hörte. Ich habe über ihn geschrieben und dann habe ich den Mann, der mir das Buch empfohlen hat, geheiratet.

Das Buch spielt ja auch eine Rolle in der Zeit seiner Krankheit.

Dreimal hat er es sich vorlesen lassen. Und es hat etwa tausend Seiten. Es war sein absolutes Lieblingsbuch und er konnte einige Passagen auswendig. Wenn er die Anfangspassage mitsprach, haben die anderen ihn verstanden, weil sie es ja gleichzeitig lesen konnten. Es war ein schöner kleiner Moment. Vorleser zu haben, das war auch eine der großen Kraftquellen. Eine Schwester im Krankenhaus hat irgendwann gesagt: Lesen Sie Ihrem Mann vor, damit der Kopf angeregt wird.

Ich habe gedacht: Dann können ja vielleicht auch andere vorlesen. Und haben so gleich etwas zu tun, wenn sie ihn besuchen. Denn nichts ist ja schlimmer, als dazusitzen und nicht mit jemandem reden zu können. So war es sehr viel leichter, ihn zu besuchen und zu sagen: Was lesen wir heute? Dabei gab es wunderbare Begegnungen.

Sie haben ihm das Buch Die Insel des zweiten Gesichts sogar mitgegeben als Grabbeilage. Gibt es für Sie ein vergleichbar wichtiges Buch?

Etwas, das man mir mitgeben sollte? Bei mir wechselt es. Ich habe nicht das eine große Buch, aber jedes zweite Jahr ein Lieblingsbuch. Thelen ist es auch für mich. Es ist Das Geräusch einer Schnecke beim Essen. Von A.L. Kennedy gibt es dann ein Kinderbuch für Erwachsene, ganz ungewöhnlich für Kennedy, die ja sonst böse beißend schreibt, ein hinreißend schönes Buch, Leises Schlängeln. Dann ist es immer wieder David Grossman. Und Stoner, ein fantastisches Buch. Dann ein Buch von einem Norweger, Tarjei Vesaas, Die Vögel. Großartig und so hineinsteigend in die Not eines Menschen, der im Sinne der Gesellschaft überhaupt nicht funktioniert, sondern ein bisschen geistig behindert ist – und hoch empfindsam.

Sie bräuchten also eine kleine Bibliothek im Grab.

Ja, genau [lacht]. Bei mir müssten mehrere Bücher mit.

Sie reflektieren in Ihrem Buch auch über den Prozess des Schreibens. Was war dabei für Sie das Schwierigste?

Ich habe etwa zwei Jahre nach seinem Tod angefangen zu schreiben. Und nach vielleicht 60, 70 Seiten festgestellt: Geht nicht. Weil ich die ganze Zeit für mich noch nicht eingeordnet hatte in mein Leben. Es war noch so roh in mir. Und ich wollte kein Buch schreiben, das eine Therapie für mich ist. Dann habe ich es liegengelassen, sicher drei, vier Jahre. Und bin dann wieder drangegangen, nachdem ich mein eigenes Leben wiedergefunden hatte und wieder ein bisschen wusste, wer ich war.

Und dann war das Schwierigste wahrscheinlich, den richtigen Ton zu finden und zwischen persönlich und privat zu lavieren. Es ist ja nicht einfach, über jemanden zu schreiben, der gestorben ist und der keine Einwände mehr erheben kann. Ganz wichtig: Ich wollte ihn nicht desavouieren, nicht diskreditieren, ich wollte auch nicht zum Voyeurismus einladen. Ich wollte einfach die Geschichte erzählen in aller Radikalität und Ehrlichkeit, die mir möglich war. Und musste dafür auch noch mal in den alten Schmerz rein.

Die Krankheit Ihres Mannes wirkte als Katalysator, um Ihr eigenes Leben aufzuarbeiten. Wie hat das Pflegen dazu geführt, dass Sie sich selbst besser verstanden haben?

Ein Mangel, ein Manko – ich versuche jetzt mal das Wort Fehler zu vermeiden – war meine ständige Angst, mit der ich ihn auch traktiert habe. Er hatte weniger Angst um sich als ich um ihn. Da dachte ich manchmal, das ist nicht mehr normal, was auch immer das ist: normal. Und dann habe ich während dieser zehn Jahre immer wieder Therapien gemacht, weil ich das Gefühl hatte, ich schaffe das allein nicht, damit umzugehen. Ihn zu retten und mich zu retten, aber gleichzeitig zu wissen, dass ich ihn nicht retten kann. Und bin dann noch mal in die Kindheit zurückgestiegen und da bei einer Kinderkrankheit gelandet, die mich lange ans Bett gefesselt hat.

Wie muss man sich das vorstellen?

Ich lag da und an den Füßen waren schwere Gewichte, weil die Beine gestreckt werden mussten. So habe ich ein Dreivierteljahr gelegen und später noch mal mit Gips. Und da ist es wohl wirklich passiert, dass dieses Kind seine Gefühle abgestellt hat. Weil es einfach die Situation nicht aushalten konnte. Das habe ich aber lange nicht gemerkt und deswegen ist dieser Prozess des Aufwachens für mich über Jahrzehnte ganz existenziell gewesen.

Das beschreibe ich ja auch in diesem Buch, dass ich in einer verpanzerten Gefühlwelt gelebt habe und da erst mal wieder raus musste. Das ist der Weg, den ich als Aufwachen bezeichnen würde. Ich glaube, ich bin immer noch dabei aufzuwachen. Lebendigkeit hat für mich immer eine große Rolle gespielt, weil ich in einer eher unlebendigen Familie aufgewachsen bin.

Wie zeigte sich das konkret?

Das war eine mehr oder weniger typische deutsche Nachkriegsfamilie, in der Gefühle keine große Rolle spielten. Ich kenne das auch aus Geschichten von Gleichaltrigen. Es ist ja ohnehin schon ein deutsches Sittenbild, dass man Gefühle nicht zeigte. Es war wichtiger, dass man die Contenance bewahrte. Wenn man so aufwächst und dann plötzlich feststellt, was einem da alles gefehlt hat, geht die Reise los.

Es war in Ihrer Familie also ein Wert, sich beherrschen zu können?

Absolut. Selbstdisziplin war ein wichtiges Wort in der Erziehung. Und „Indianer kennen keinen Schmerz“ – natürlich auch im übertragenen Sinne, nicht nur wenn man sich das Bein aufgeschlagen hatte. Ich zitiere dann ja immer meinen geliebten Psychoanalytiker, bei dem ich leider nie war, aber den ich so großartig fand. Wir waren auch ein bisschen befreundet: Arno Gruen. Er hat gesagt: Wer Schmerz nicht empfinden will, der wird auch wahre Freude nicht empfinden können. Und das ist, finde ich, ein sehr kluger Satz.

Psychologie und Literatur

In unserer Serie sprachen zuletzt:

Sascha Mamczak über Science-Fiction und den sense of wonder (Heft 6/2022)

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Benjamin Maack über die Innenansicht eines Zusammenbruchs (Heft 9/2020)

Daniel Kehlmann über Magie und Wissenschaft (Heft 6/2020)

… und viele mehr.

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Leseprobe

Ich werde keine Idylle malen. Es war nicht idyllisch. Er war nicht das Schaf und ich nicht die liebliche Hirtin. Er hat gewütet. Ich habe gefaucht. Er konnte mich so kränken wie sonst niemand. Fast bis zum Ende. […] Sein Zustand hat mir so weh getan, dass ich manchmal wütend wurde mit ihm, um den Schmerz wegzuschimpfen. Emotionale Hilflosigkeit gebiert bekanntlich kleine oder auch größere Monster. Wir Menschen sind merkwürdige Wesen. Oft so rudimentär in unseren Gefühlen, so wenig kultiviert, so unerzogen. Ein Elternhaus, das keine Schule der Gefühle ist, entlässt emotional hilf- und haltlose Kinder in eine komplizierte Welt. Menschen, die ihre eigenen Gefühle nicht kennen und auch nicht die der anderen, sind nicht nur unglücklich, sie können gefährlich werden. Weil sie Härte mit Stärke verwechseln und Mitgefühl mit Schwäche. Weil sie denken, es sei besser zu nehmen als zu geben. Und Freundlichkeit sei nur was für Weicheier. Die ihren Schmerz in Verliese einmauern und riesige Felsbrocken aus Arroganz, Abwehr, Urteil und Zorn vor die Tür rollen, damit er unerreichbar bleibt. Es leiden die Individuen. Es leidet der soziale Zusammenhalt. Eine freie Gesellschaft lebt auch von der Empathie, der Achtsamkeit, dem Achten auf andere. Auf ihn zu achten und auch auf mich – ich hatte beides nicht gelernt. Und hatte nun zehn Jahre Zeit, es zu üben.

Aus dem Buch Das Leben ist ein vorübergehender Zustand von Gabriele von Arnim. Rowohlt, Hamburg 2021

Gabriele von Arnim, 1946 in Hamburg geboren, studierte Soziologie und Politikwissenschaften und promovierte über den Einfluss von Massenmedien auf politisches Verhalten. Sie arbeitete als politische Journalistin für Zeitungen, moderierte in Hörfunk und Fernsehen, schrieb Erzählungen und Sachbücher. Ihr 2021 erschienenes Buch Das Leben ist ein vorübergehender Zustand wurde zum Bestseller

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2022: Das Tempo der Liebe