Lieber unperfekt

Perfektionismus kann uns bis zur Erschöpfung treiben. Wie es gelingt, ihn in gesunde Bahnen zu lenken und sich von schlechten Seiten zu befreien.

Die Illustration zeigt einen perfekt gestutzten Garten mit einer großen grünen Hecke. Darin ist ein Durchgang in die helle freie Natur, der mit einer Gartenschere herausgeschnitten wurde. Ein Mann geht hindurch auf die andere Seite.
Perfektionismus muss nicht immer etwas Schlechtes sein. Dennoch kann es gut tun, sich von ihm frei zu machen. © Golden Cosmos für Psychologie Heute

„Heute mache ich aber um 17 Uhr Schluss, ganz egal wie voll der Schreibtisch ist, und gehe endlich mal wieder zum Sport.“ Wie oft schon hat Petra Weber (Name geändert) morgens mit diesem Vorsatz ihr Büro im Kulturamt betreten. Geht es jedoch auf 17 Uhr zu, wird sie nervös. Ist der Flyer für die Ausstellungseröffnung gelungen? Die pinkfarbene Schrift nicht eine Spur zu schrill? Das Foto wirklich das Beste? Der Flyer ist zwar schon in der Druckerei. Aber wenn sie noch schnell anruft, könnte sie den Druck…

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wirklich das Beste? Der Flyer ist zwar schon in der Druckerei. Aber wenn sie noch schnell anruft, könnte sie den Druck stoppen und das Layout noch mal verbessern.

Plötzlich ist es 20 Uhr. Sie sitzt immer noch im Büro. Mitten in der Nacht schreckt sie aus dem Schlaf hoch und fragt sich, ob sie in der Einladungs-E-Mail einen Rechtschreibfehler übersehen hat. Gleich am Morgen muss sie das überprüfen. Ihr Mann ist sauer, weil sie keine Ruhe hat, mit ihm zu frühstücken. „Musst du immer alles hundertfünfzigprozentig machen? Lass doch mal locker.“ Petra Weber würde gerne lockerlassen, sie ist selbst genervt von ihrem inneren Druck. Aber so einfach ist das nicht. In einem Coaching überschlägt sie, wie viele Überstunden ihr Perfektionismus sie im vergangenen Jahr gekostet hat. Sie kommt auf 180. Als sie die Zahl aufschreibt, laufen die Tränen.

„In dem Moment habe ich den Preis gefühlt. Vorher habe ich das alles vor mir selbst heruntergespielt. Plötzlich hat es mir wehgetan zu spüren, was ich alles verpasse durch meinen Perfektionismus. Ich sehe meine Freundinnen und Freunde kaum noch und komme zu nichts anderem mehr. Das war ein heilsamer Schock.“

Optimierung um jeden Preis

Das Beispiel mag extrem klingen. Doch wir schlagen uns alle mehr oder weniger mit perfektionistischen Tendenzen herum. Denn das Streben nach Perfektion hat Konjunktur. Im Job werden hohe Ansprüche nicht nur gerne gesehen, sondern zum Standard erklärt. Sich täglich um Bestleistungen zu bemühen gilt als selbstverständlich. Auch im Privatleben wächst der Druck. Wir sollen uns perfekt ernähren, eine tolle Ehe führen, die Kinder optimal fördern, dreimal in der Woche Sport machen und natürlich bei all dem auch noch gut aussehen. In unserer Optimierungsgesellschaft wird das Streben nach Verbesserung zum Grundmuster und zum Fluch.

Wir ahnen, dass es schier unmöglich ist, auf allen Feldern des Lebens zu glänzen. Wir spüren, dass der Druck, ständig überall nachzubessern, für hohe Anspannung und Stress sorgt, uns die Lebensfreude vermiest und uns dazu bringt, über unsere Grenzen zu gehen. Doch gleichzeitig fällt es schwer, fünfe gerade sein zu lassen. Warum?

Mit dem Streben nach Perfektion ist die Hoffnung auf ein schöneres, reicheres und bunteres Leben verknüpft. Optimierung scheint Schutz zu versprechen vor den Unwägbarkeiten des beschleunigten Lebens in einer globalisierten Welt. Die innere Logik lautet: Wenn ich keine Fehler mache und immer super Leistungen bringe, werde ich nicht entlassen. Wenn ich toll aussehe und einen trainierten Körper habe, werde ich nicht verlassen. Die Crux ist jedoch: Das Leben bleibt voller Unwägbarkeiten und lässt sich nur bedingt kontrollieren.

Der Drang zur Selbstverbesserung gehört zum menschlichen Wesenskern und ist ein wichtiger Motor für Weiterentwicklung und Fortschritt. Dass Menschen von sich selbst Bestleistungen erwarten, ist in vielen Berufen existenziell. Wir sind darauf angewiesen, dass die Chirurgin ihre Operation mit höchster Sorgfalt ausführt und der Installateur den Wasserrohrbruch hundertprozentig abdichtet. Doch wenn die hohen Ansprüche sich verselbständigen, starr werden und außer Kontrolle geraten, wird es schwierig.

Perfektionismus – Freund oder Feind?

Bis weit in die 1980er Jahre galt Perfektionismus in der Psychologie als etwas Negatives. Das hat sich geändert. Auch heute noch gibt es Forscherinnen, die in ihm grundsätzlich ein Problem sehen, andere unterscheiden zwischen funktionalem und dysfunktionalem Perfektionismus, sie betrachten nur Letzteren kritisch. Perfektionismus wird also nicht mehr per se pathologisiert, sondern auch als ein gesundes Exzellenzstreben gedeutet. „Perfektionismus steht auf der Liste attraktiver Laster weit oben“, sagt der Wiener Psychiater Raphael M. Bonelli.

Und der Psychologe und Psychotherapeut Nils Spitzer schreibt in seinem Buch Perfektionismus überwinden: „Die meisten Perfektionisten haben ein überaus positives Bild ihrer streng verpflichtenden und hohen Ansprüche.“ In einer Umfrage gaben 45 Prozent der Befragten an, ihr Perfektionsstreben habe überwiegend positive Konsequenzen. Sie glauben, bessere Leistungen zu erbringen, wenn sie sich ständig selbst antreiben, und freuen sich über mehr Lob von Vorgesetzten. Die Kehrseite spüren sie oft erst, wenn sie sich erschöpft fühlen, unter Schlafstörungen leiden, vor lauter Stress an einfachen Aufgaben scheitern oder die Partnerin ihnen die rote Karte zeigt.

Die aktuell meistzitierten Perfektionismusforscher, die kanadischen Psychologen Gordon L. Flett und Paul L. Hewitt, konzentrieren sich auf die Kehrseite des Perfektionismus. Sie bezeichnen ihn als „die Epidemie der westlichen Welt“. Der Psychologe Thomas Curran kam in einer intergene­rationalen Studie zu dem Ergebnis, dass Perfektionismus unter jungen Menschen heute stärker verbreitet ist als jemals zuvor.

Er verglich Selbsteinschätzungen von über 40 000 Collegestudenten aus den USA, Kanada und Großbritannien aus drei Jahrzehnten. Den Daten zufolge ist der Anteil der Perfektionisten in der Generation der Studenten um 33 Prozent gestiegen. Aus Deutschland liegen bisher noch keine Zahlen vor. Es gibt jedoch deutliche Hinweise, dass die Generation Z eine Menge von sich und dem Leben erwartet. Sie strebt nicht nach Höchstleistungen, sondern nach dem idealen Lebensentwurf. „Es geht in dieser Generation nicht um das Streben nach Exzellenz, sondern darum, das eigene Selbst zu verbessern oder genauer gesagt ein natürlicherweise unvollkommenes Selbst zu vervollkommnen“, erklärt Thomas Curran.

Woher kommen die Ansprüche?

„Perfektionismus gilt als kognitives Schema, das zumindest in allen Mitgliedern einer Leistungsgesellschaft schlummert, mal mehr, mal weniger ausgeprägt“, sagt Nils Spitzer. Die Forschungsergebnisse zu den zahlreichen Aspekten, die bei dysfunktionalem Perfektionismus eine Rolle spielen, sind komplex. Vereinfacht gesagt geht es um einen Mix aus ausgeprägter Fehlersensibilität, hohen Zweifeln an der eigenen Leistungsfähigkeit, Defizitorientierung, Angst vor negativen Konsequenzen, einer extremen Bindung des eigenen Selbstwerts an Erfolg und Anerkennung und Neigung zu Schwarz-Weiß-Denken.

In seinem Buch Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen fasst Spitzer den Stand der Forschung zusammen und beleuchtet die unterschiedlichen Facetten von Perfektionismus. Je nach Ausprägung dominiert die Angst, in den Augen der anderen zu versagen (sozialer Perfektionismus) oder vor sich selbst eine jämmerliche Figur abzugeben (selbstorientierter Perfektionismus). Selbstschädigend wird Perfektionismus, wenn jemand unter allen Umständen starr an seinen hohen Maßstäben festhält und gefühlt die gesamte Existenz auf dem Spiel steht, wenn sie nicht erreicht werden.

Wie bei der Leiterin einer Musikschule, die vier Wochen vor der großen Aufführung jeden Abend das Smartphone erst um Mitternacht ausschaltet, weil Eltern, Kinder, der Catering­service und viele andere immer neue Fragen stellen und sie jede formvollendet, sofort und ausführlich beantworten will. Was, wenn das Essen nicht pünktlich geliefert wird oder die Dekoration nicht vollkommen ist? Dann ist sie geliefert. Dann wird alles eine Riesenblamage – und sie steht als Versagerin da. „Scheitern ist keine Option“ erklärt Nils Spitzer. „Wenn man das Ziel doch verfehlt, bricht der gesamte Selbstwert zusammen.“ Dysfunktionale Perfektionistinnen können sich nicht damit trösten, dass nur eine einzige Sache nicht optimal gelaufen ist. Sie fühlen sich gleich als Totalversager.

Coronapandemie als Katalysator

Die Pandemie hat ihr Leiden noch verschlimmert. In einem Kommentar, den Gordon L. Flett und Paul L. Hewitt in der Krise veröffentlichten, beschreiben sie, dass Perfektionistinnen und Perfektionisten mit äußeren Stressoren besonders schlecht zurechtkommen, und erwähnen Berichte von Menschen, die ihre Arbeitssucht auf ein neues Level trieben. Die Tendenz, psychisch oder physisch von anderen isoliert zu sein, sei ohnehin schon einer der Hauptgründe für den Stress mancher Perfektionisten – und sie hat sich in der Pandemie wahrscheinlich noch verstärkt.

Doch wie entsteht Perfektionismus überhaupt? Vereinzelt gibt es Hinweise auf genetische Einflüsse. Als gesichert gilt, dass das soziale Umfeld, der Erziehungsstil und die Eltern eine Rolle spielen. Doch die Thesen zum Einfluss der Eltern sind widersprüchlich. Eine besagt, dass Perfektionistinnen anspruchsvolle Eltern hatten und sehr leistungsorientiert erzogen wurden.

In Kombination mit einem eher kalten und strafenden Erziehungsstil können hohe Standards zum Problem werden, weil Kinder lernen, dass sie nur etwas wert sind, wenn sie hohe Leistungen bringen. Aber auch in einem chaotischen oder gewalttätigen Elternhaus entwickeln manche Kinder hohe Ansprüche an sich selbst als Schutzstrategie. Einige Fallstudien zeigen, dass Kinder, die vernachlässigt wurden, sich selbst unkorrigiert hohe Erwartungen setzen. Die kindliche Logik dahinter: Wenn ich es nur schaffe, alles richtig zu machen und gut genug zu sein, werde ich nicht mehr verletzt. Dann gibt es keinen Grund mehr, mich zu schlagen oder zu verspotten.

Der Körper leidet mit

Auch wenn keine absoluten Zahlen zu ungesundem Perfektionismus vorliegen, könnte man doch aus der drastisch gestiegenen Zahl der Krankschreibungen wegen seelischer Erkrankungen indirekt schließen, dass diese Form von Perfektionismus in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben muss. Denn Perfektionismus gilt als „transdiagnostischer Faktor“ (siehe Definition unten). Eine Studie des kanadischen Trinity College stellte zudem fest, dass Perfektionisten ein rund 50 Prozent höheres Risiko haben, frühzeitig zu sterben. Die Forschenden vermuten, dass Menschen, die Perfektion in vielen Lebensbereichen anstreben, chronisch unter einer hohen Stressanspannung leiden. Diese Spannung lässt den Kortisolspiegel und den Blutdruck ansteigen und erhöht das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Als transdiagnostischer Faktor gilt in der Psychologie ein Aspekt, der an der Entstehung und Aufrecht­erhaltung verschiedener psychischer Krankheiten beteiligt ist. Empirische Befunde legen nahe, dass perfektionistische Überzeugungen bei Burnout, Depression, Angststörungen und Essstörungen eine Rolle spielen. Erste Studien zeigen zum Beispiel, dass Therapien, die vor allem am Perfektionismus ansetzten, erfolgreicher waren als die Standardbehandlung von Bulimie.

Doch wo genau verläuft die Grenze? Wann wird Perfektionismus belastend und gesundheitsgefährdend? Internationale Studien haben mittlerweile eine Reihe von Prozessen identifiziert. So wurde in der neueren Forschung ein Element entdeckt, das bis dato nicht bekannt war: das Diskrepanz-Erleben. „Wenn jemand hohe Ansprüche hat und sie auch erreicht, geht es ihm gut. Klinische Perfektionistinnen haben jedoch das Unglück, dass sie ständig glauben, ihre Ziele nicht zu erreichen, selbst wenn sie in einem Test 95 von 100 Punkten bekommen“, erklärt Nils Spitzer.

Petra Weber erkannte im Coaching, dass sie vor allem unter sozialem Perfektionismus litt und ihr Diskrepanz-Erleben stark ausgeprägt war. „Wegen zwei unbeantworteter Mails habe ich mich als Versagerin gefühlt, die anderen achtzig, die ich erledigt hatte, zählten nicht.“ Ermuntert durch ihren Berater, suchte sie das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten und den Kolleginnen und stellte verwundert fest, dass die Erwartungen der anderen an sie sehr viel niedriger waren als vermutet. Sie lernte, Aufgaben abzugeben, und setzte sich dafür ein, dass sie eine Aushilfe bekam.

„Als ich gemerkt habe, dass sie die Aufgaben auf ihre Art umsetzt und auch zu guten Ergebnissen kommt, konnte ich an manchen Stellen, an denen es mir vorher unmöglich war aufzuhören, lockerlassen. Und ich habe gelernt, nach Hause zu gehen, auch wenn ich noch nicht alles geschafft habe.“

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Einfach mal über den Daumen peilen

Für die Psychologin Christine Altstötter-Gleich, die an der Universität Koblenz-Landau zu Perfektionismus forscht, ist entscheidend, ob die Hoffnung auf Erfolg oder die Angst vor Misserfolg die treibende Kraft ist. Wer hohe Ansprüche hat, sich über Erfolge freut und sich verzeihen kann, wenn er den eigenen Maßstäben nicht hundertprozentig genügt, hat kein Problem. Gefährlich wird es, wenn die Angst vor Misserfolg der Hauptmotor für Anstrengung ist und kleinste Fehler auf keinen Fall sein dürfen und einen Teufelskreis von Selbstbeschimpfung und Selbstabwertung in Gang setzen.

Um ungesunden Perfektionismus zu überwinden, reicht es jedoch nicht aus, die eigenen Gedanken infrage zu stellen. Nils Spitzer setzt auch auf praktische Übungen. Mit seinen Patienten vereinbart er beispielsweise „Die perfekte Woche“. Eine Perfektionistin bekommt die Aufgabe, eine Woche oder mehrere Tage lang wirklich alles auf perfekte Weise zu erledigen. Danach wird gemeinsam ausgewertet: Wie war das? Gab es Nachteile? Lohnt sich das, so zu leben? Gelegentlich lässt Spitzer auch eine Liste anfertigen. Was bleibt durch meine starren Ansprüche alles liegen, was ich auch noch gerne tun würde? Was verpasse ich in meinem Leben? Wofür habe ich keine Zeit?

Daran könne man eine konträre Übung anschließen und vereinbaren, mehrere Tage lang alles nur über den Daumen gepeilt zu erledigen. Wer sich auf das Experiment einlässt, kann hinterher vergleichen: Was hat sich besser angefühlt – die perfekte oder die unperfekte Woche? „Es ist sehr wichtig, ein Bewusstsein für die Nachteile zu entwickeln und sie real zu spüren“, meint Spitzer.

Für den Datenschutzbeauftragten einer großen Behörde wurde diese Übung zum Aha-Erlebnis. Er bekam den Auftrag, E-Mails nur noch zweimal auf mögliche Fehler zu überprüfen, Konzeptpapiere deutlich früher abzuschicken und Aufgaben an seine Mitarbeiter zu delegieren. Anfangs war es für ihn eine Qual, E-Mails in einem Stadium abzuschicken, in dem sie in seinen Augen noch nicht perfekt waren.

„Doch das Eindrücklichste war für ihn die Erfahrung, dass er abends nicht wie sonst völlig erledigt war, sondern noch Kraft und Lust hatte, etwas zu unternehmen. Er hatte mehr Energie und bessere Laune.“ Zu seiner Überraschung beschwerte sich niemand über fehlerhafte E-Mails oder ungenügende Konzeptpapiere. Diese Erfahrung half ihm, die Zügel allmählich zu lockern.

„Come in and burn out“

Die größte Gefahr, durch ungesunden Perfektionismus in einen Teufelskreis von Erschöpfung und Angst zu geraten, besteht nachweislich im Job. Dabei ist nicht die Arbeitsmenge entscheidend, es ist der überhöhte und starre Leistungsanspruch, der krank machen kann. Da heute fast jedes Unternehmen hundertfünfzigprozentige Identifikation mit der Unternehmenskultur und den Unternehmenszielen einfordert, wird es immer schwieriger, sich zu distanzieren. Durch den Druck, der so aufgebaut wird, fallen wichtige Entlastungsstrategien weg. „Es ist, als stehe über fast jedem Arbeitsplatz: Come in and burn out“, meint Nils Spitzer.

Doch auch das Privatleben kann durch einen ungesunden Perfektionismus belastet werden. Eine in der Zeitschrift Archives of Sexual Behavior veröffentlichte Studie der Universität Kent untersuchte, wie sexueller Perfektionismus oder wahrgenommene perfektionistische Ansprüche beim Partner oder der Partnerin das Sexualleben beeinflussen.

Männer mit hohen Ansprüchen an ihre Performance im Bett leiden eher unter Erektionsstörungen. Frauen leiden eher unter hohen Erwartungen des Partners und reagieren mit verringerter Erregung und Ängsten, nicht zu genügen, die wiederum das Lustempfinden stören. Entspannter und lustvoller Sex ist aber nur möglich, wenn beide loslassen und sich hingeben können.

Leisten und Leben

Die Kernarbeit im Umgang mit Perfektionismus besteht für Nils Spitzer darin, die Rigidität etwas zu lockern, die Ansprüche flexibler zu gestalten und nicht bei jedem kleinen Misserfolg gleich sich selbst infrage zu stellen. Den Selbstwert von äußerem Erfolg unabhängig zu machen hält Spitzer allerdings für unrealistisch. Er hat jedoch gute Erfahrungen damit gemacht, mit seinen Patientinnen und Patienten an ihrem Selbstbild zu arbeiten. Das sei auch für Menschen mit mittelmäßig ausgeprägten perfektionistischen Neigungen hilfreich.

„Je differenzierter das Selbstbild ist, desto stabiler wird der Selbstwert.“ Wenn jemand sich nicht nur über seine Position im Job definiert, sondern auch über seine Rolle in der Familie oder im Freundeskreis, seine Leidenschaft für argentinischen Tango und das Interesse für Sternbilder, ist die Gefahr, sich mit einseitigen Ansprüchen zu verrennen, geringer.

Christine Altstötter-Gleich gibt zu bedenken, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben und Ansprüche nicht einfach herunterschrauben können. „Wir lernen von klein auf, dass gute Leistung uns Anerkennung, Wertschätzung, Macht und Geld bringt. Unser System ist darauf ausgerichtet, dass gute Leistung belohnt wird. Natürlich streben wir nach dem, was positive Konsequenzen hat.“ Der Ausweg ist für sie ein anderer Umgang mit Fehlern. Sie empfiehlt, sich zu überprüfen: Habe ich tatsächlich einen Fehler gemacht? Und wenn ja, ist das wirklich so schlimm? Gibt es vielleicht auch positive, entwicklungsfördernde Konsequenzen davon? Kann ich akzeptieren, dass ich Fehler mache genauso wie andere und es zwar unangenehm ist, aber ich sie nicht auf Teufel komm raus vermeiden muss?

Sie findet es hilfreich, sich klarzumachen, wie Kinder laufen lernen: Wir lernen nur laufen, indem wir hinfallen. Perfektionistinnen müssten zu Fehlern stehen und sich nicht vorschnell als gescheitert betrachten und aufgeben. „Es geht nicht darum, die eigenen Standards zu senken, sondern Klarheit zu gewinnen über die eigenen Kriterien des Scheiterns und Versagens und in der Bewertung flexibler und nachsichtiger zu werden.“

Perfektion auch beim Entspannen

Das bedeutet auch, mit sich selbst fürsorglicher und liebevoller umzugehen. Selbstfürsorge ist zum Modewort avanciert; das ist positiv, hat aber auch eine Schattenseite. Während die Leistungsanforderungen beständig steigen, kommt noch eine weitere Erwartung obendrauf, nämlich die, alles tief entspannt und mit einem Lächeln zu schaffen – dank optimaler Work-Life-Balance und effektiver Entspannungsmethoden.

Statt Arbeit besser zu verteilen oder gesamtgesellschaftlich von übertriebenen Maßstäben abzurücken und in Unternehmen eine andere Fehlerkultur zu entwickeln, wird erwartet, dass man privat einen Weg findet, das schier Unmögliche zu wuppen. Der Perfektionismusforscher Thomas Curran ging in einem Gespräch mit Psychologie Heute (Heft 4/2022, Editorial) so weit zu sagen, dass man Perfektionismus nicht individuell auflösen könne, sondern nur gesellschaftlich: indem wir uns für eine weniger wachstumsfixierte Wirtschaftsform entscheiden.

Auch Nils Spitzer betrachtet es als eine wichtige psychotherapeutische Aufgabe, Patientinnen und Patienten zu ermutigen, gesellschaftliche Ansprüche zu hinterfragen, und ein kritisches Bewusstsein für die Optimierungsforderungen zu fördern. „So dass man innerlich abrücken und sich klarmachen kann, dass Leistung allein noch keine Garantie für ein glückliches Leben ist.“

Quellen

Christine Altstötter-Gleich, Fay C.M. Geisler: Perfektionismus. Mit hohen Ansprüchen selbstbestimmt leben, Balance Köln 2018

Raphael M. Bonelli: Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird. Pattloch, München 2014

Thomas Curran, Andrew P. Hill: Perfectionism is increasing over time: A meta-analysis of birth cohort differences from 1989 to 2016. Psychological bulletin, 145/4, 2019, 410.

Gordon L. Flett, Paul H. Lewitt: The perfectionism pandemic meets COVID-19: Understanding the stress, distress and problems in living for perfectionists during the global health crisis. Journal of Concurrent Disorders, 2/1, 2020, 80-105.

Prem S Fry, Dominique L Debats: Perfectionism and the five-factor personality traits as predictors of mortality in older adults. Journal of Health Psychology, 14/4, 2009, 513-524.

Nils Spitzer: Perfektionismus überwinden. Müßiggang statt Selbstoptimierung, Springer, Berlin 2017

Nils Spitzer: Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen. Ein Leitfaden für Psychotherapie und Beratung, Springer Verlag, Berlin 2016

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2022: Lieber unperfekt