Selfcare ist kein Luxushobby

Self-Care: Ist das Körperöl plus Yoga, ein Lifestyle-Kreiseln um sich selbst? Nicht unbedingt. Über die sozialen Ursprünge eines Modebegriffs.

Eine Mutter hält gestresst zwei Kinder auf dem Arm, während ein drittes Kindes sie am Arm zieht, weil es auch noch auf den Arm möchte
Selfcare kann als Bündel von Strategien verstanden werden, die Menschen erlauben, als unerträglich empfundenen Druck abzubauen. © Robert Niedring/Getty Images

Brettspiele, Yoga, Tanzen, Angeln, Hunde, Sprachen: Auf der Dating-Plattform Tinder kann man sein Profil ausschmücken, indem man aus vorgegebenen Interessen diejenigen anhakt, die auf einen zutreffen. Doch irgendwo zwischen Deutschrap und Sushi taucht ein Eintrag auf, den man dort nicht vermutet hätte: Selfcare. Als mir eine Bekannte, die viel auf der Plattform unterwegs ist, davon das erste Mal erzählte, war ich baff. Und offen gestanden auch ein wenig belustigt von der Vorstellung, es gebe ernsthaft…

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Vorstellung, es gebe ernsthaft Menschen, die die inhaltlich nicht näher bestimmte Beschäftigung mit sich selbst als eine Art Hobby betreiben und damit auch noch hausieren gehen.

Selfcare sei eine auf Tinder durchaus gerne verwendete Kategorie, belehrte mich meine Bekannte. Überhaupt sei das Thema jetzt „ein großes Ding“. Tatsächlich bestätigt diesen Eindruck eine schnelle Recherche auf der Seite Google Trends, auf der man die Beliebtheit bestimmter Ausdrücke anhand der Häufigkeit ihrer Suche ermitteln kann: Weltweit hat das Interesse an der Wortkombination „self“ und „care“ seit 2016 merklich zugenommen.

Schaut man in die sozialen Medien, dann scheint der Selfcare-Begriff praktisch deckungsgleich mit dem der „Wellness“ zu sein. Auf Instagram etwa findet man unter dem Hashtag #selfcare etwa 57 Millionen Einträge. Körperöle, Smoothie-Nahaufnahmen, Kosmetikprodukte, Badewannen- und Massagebilder, Strand- und Wanderfotos, dazu die notorischen Motivationsaphorismen.

Wurzeln in der Frauen- und Bürgerrechtsbewegung

Die Kosmetikindustrie hat das natürlich mitbekommen. „So schaffst du dir deinen Self-Care-Moment“, proklamiert der Naturheilkundehersteller Kneipp auf seiner Website und bietet die Duftkerze „Goodbye Stress“ für 6,49 Euro feil. Und auch die Ratgeberliteratur ist längst auf den Trend aufgesprungen. So will etwa eine dezidierte Selfcare-Buchreihe des Bastei-Lübbe-Verlags die Leserschaft „inspirieren, dein bewusstes, gutes und entspanntes Leben genau jetzt zu starten“ – mit Titeln zu zuckerfreier Ernährung, Astrologie und allerlei Abnehm- und Schönheitsstrategien.

Also, klarer Fall: Selfcare, ein Modeslogan der Wohlfühlindustrie, ein Gimmick für Lifestyle-Hedonistinnen und -Hedonisten. Oder ist das doch nicht alles? Bohrt man etwas tiefer, stellt sich heraus, dass die Wurzeln des Begriffs mit der Glitzerwelt von Wellness und Beauty kaum etwas zu tun haben.

Die erste Wurzel liegt in der amerikanischen Frauen- und Bürgerrechtsbewegung. „Mich um mich selbst zu kümmern dient nicht der Genusssucht, sondern der Selbsterhaltung, und diese ist ein Akt der politischen Kriegsführung“, heißt es bei der US-Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde.

Um diese Worte zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass es in den USA bis tief in die 1960er hinein noch viele Kliniken gab, die Schwarze gar nicht oder nur gesondert von den weißen Patientinnen und Patienten behandelten. Wenn uns die Politik nicht hilft, müssen wir uns um uns selbst kümmern, lautete die politische Idee der Selfcare. Um 1970 entstand eine Reihe freier Behandlungszentren, die von der Black-Panther-Bewegung initiiert worden waren.

Leben neben dem Beruf führen

Auch die zweite Wurzel des Begriffs liegt im medizinischen Bereich. Wie die Autorin Aisha Harris in einem Artikel für das Onlinemagazin Slate mit Blick auf die USA schildert, zielte das Konzept Selfcare ursprünglich auf ältere oder psychisch kranke Menschen ab, die beständiger Pflege bedurften. Sie sollten unter Anleitung von medizinischem Fachpersonal lernen, wie sie selbst zu ihrer Gesundheit beitragen konnten.

Zu Beginn der 1970er Jahre wurde das Konzept schließlich auf von Berufs wegen gefährdete Personen ausgedehnt: Es ging nun auch darum, dass sich Traumatherapeutinnen, Notfallsanitäter oder Sozialarbeiterinnen Fähigkeiten aneignen konnten, um emotionalen Stress besser zu verkraften. Wer anderen helfen will, muss lernen, sich selbst zu helfen – und auch mal abzuschalten.

Offensichtlich muss diese Lektion auch heute noch so mancher Psychotherapeutin nahegebracht werden. Deshalb hat sich geradezu ein eigenes Genre an Ratgeberliteratur für diese Berufsgruppe herausgebildet. „Lernen Sie, Grenzen zu setzen“, „Hören Sie auf Ihren Körper“ oder „Haben Sie ein Leben neben dem Beruf“ lauten die Imperative aus dem Therapist’s Guide to Self-Care von Lillie Weiss. Und auch The Psychologist’s Guide to Professional Development von Mary-Jo Bautista und Greg Bohall verspricht einen emotional schonenden Umgang mit stressbehafteten Ereignissen während des psychologischen Berufslebens.

Gegen Stress und Erschöpfung

Einer solchen Fürsorge für sich selbst bedürfen nicht nur Psychologinnen und Therapeuten, sondern alle Angehörigen von sozialen und Heilberufen, die auf die Sorge für und um andere Personen ausgerichtet sind. Angehörige dieser Berufsgruppen profitieren nachweislich von angeleiteten Übungen für das eigene Wohlergehen. So belegt eine Studie von Christina Dahl aus dem Jahr 2017, dass bei psychosozialen Fachkräften nach der Teilnahme an einem Selfcare-Seminar das subjektive Stress­erleben, aber auch das Ausmaß an Erschöpfung reduziert werden konnte.

All das zeigt, dass es bei Selfcare eigentlich weniger um die genussvolle Anreicherung des Alltags gehen sollte als um das physische und psychische Intaktbleiben in einem belastenden Umfeld. In dem weniger lifestylelastig aufgeladenen deutschen Begriffspendant Selbstfürsorge schwingt diese soziale Komponente deutlicher mit. Selbstfürsorge, das seien all jene „Aktivitäten, die physisches und psychisches Wohlbefinden aufrechterhalten oder wiederherstellen und emotionalen und körperlichen Stress ausgleichen“, wie es die Psychotherapeutin Friederike Potreck formuliert.

Pointiert könnte man sagen: Wer Selfcare als Luxushobby betreibt, geht darüber hinweg, dass sie eigentlich jenen zugedacht ist, die sie auch zum Überleben brauchen. Und das mit dem Überleben ist in manchen Fällen wörtlich zu nehmen. So vertritt der Jugendpsychiater Franz Resch die These, dass auch Selbstverletzungen eine – freilich paradoxe – Form der Selbstfürsorge seien:

„Sie reduzieren unerträgliche Spannungszustände, lassen drängende Suizidideen in den Hintergrund treten und unterbrechen die Angst vor Selbstverlust und ein Gefühl, verrückt zu werden“. Das mag ein extremes Beispiel sein, doch es zeigt, dass unter Selfcare in psychologischer Hinsicht ein ganzes Bündel von Strategien zu verstehen ist, die Menschen erlauben, als unerträglich empfundenen Druck abzubauen.

Selbstbeschränkung – bei der Arbeit, beim Shoppen

Und solche Strategien könnten nach mehr als zwei vollen Pandemiejahren viele Menschen gut gebrauchen: der Krankenpfleger, der sich mehr als einmal gefragt hat, wie das gehen soll, auf der voll belegten Station jeden Tag aufs Neue 120 Prozent zu geben; die Mutter im Homeoffice, die ihre drei Kinder im Homeschooling-Modus bei Laune halten und nebenbei im eigenen Firmen-Zoom-Meeting glänzen will; das junge Paar, das Anfang 2020 in die winzige Stadtwohnung gezogen ist, die eigentlich ein Provisorium sein sollte – und dann im Lockdown zum gefühlten Beziehungsgefängnis wurde.

Sie und viele andere bräuchten gerade jetzt eine Anleitung dazu, „mit sich gut umzugehen, zu sich selbst gut zu sein, sich zu schützen und nach sich selbst zu schauen, die eigenen Bedürfnisse zu berücksichtigen, Belastungen richtig einzuschätzen, sich nicht zu überfordern oder sensibel auf Überforderungen zu bleiben“. So definiert der Psychiater und Psychoanalytiker Joachim Küchenhoff Selbstfürsorge.

Konkret kann das bedeuten zu lernen, sich selbst gegenüber mit jener Sorgfalt und Verantwortungsbereitschaft zu verhalten, die ein Erziehungsberechtigter einem kleinen Kind gegenüber an den Tag legt – nicht zuletzt dadurch, dass man vermeintliche Banalitäten beherzigt, die im gehetzten Alltag dann doch oft auf der Strecke bleiben.

Die Krankenkasse AOK nennt zum Beispiel diese einfachen Imperative als wichtige Prinzipien der Selbstfürsorge: „Achten Sie auf das, was Sie essen und trinken.“ „Schlafen Sie ausreichend.“ „Bewegen Sie sich möglichst viel.“ „Pflegen Sie Freundschaften und andere soziale Kontakte.“ Und Psychotherapeutin Friederike Potreck betont: „Selbstfürsorge ist nicht identisch mit sich verwöhnen, sich gehen lassen oder sich etwas gönnen, wenn auch einzelne Aktivitäten der Selbstfürsorge solche Elemente enthalten können. Selbstfürsorge kann genauso gut Selbstbeschränkung bedeuten, etwa bei der Arbeit, beim Essen oder beim Einkaufen.“

Sich selbst lieben

Leichter gesagt als getan: Vielen Menschen fehlt die fundamentale Bereitschaft, sich um sich selbst kümmern zu wollen. Potreck glaubt, dass dabei tiefverankerte Überzeugungen eine Rolle spielen: „Selbstfürsorge ist etwas für Weichlinge.“ „Für sich selbst zu sorgen ist egozentrisch.“

Manchen Menschen steht auch ihr geringer Selbstwert im Weg. Sie sagen dann: „Ich muss erst mal was leisten.“ „Ich muss erst mal meine Arbeit auf die Reihe kriegen, bevor ich mich um mich selbst kümmern kann.“ Problematisch wird es auch dann, wenn sich der Selbstwert ausschließlich aus externen Quellen speist und sich die Betreffenden hinter Sätzen verstecken wie: „Dafür zu sorgen, dass es anderen gutgeht, ist mein größtes Glück.“

Dabei ist es genau andersherum: Ein funktionierendes Ich ist die unumgängliche Voraussetzung dafür, sich um das Du zu kümmern. So findet sich denn auch in der Selbstfürsorgeliteratur immer wieder eine Analogie, die aus der Luftfahrt stammt.

Wer schon einmal in einem größeren Passagierflugzeug unterwegs war, kennt die Vorschrift: Sollte ein Druckabfall in der Kabine auftreten, ist unbedingt darauf zu achten, sich zuerst selbst die Atemmaske überzustreifen – erst wenn man selbst ausreichend gut atmen kann, ist es möglich, den anderen Passagieren zu helfen. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, heißt es im Markusevangelium, doch damit der Satz überhaupt Sinn ergeben und Nächstenliebe möglich werden kann, muss erst mal so etwas wie Selbstliebe vorhanden sein.

Individuelle Energiespeicher

Wie diese beschaffen ist und wie sie angesteuert wird, ist eine äußerst individuelle Frage. Das Problem mit Lifestylefloskeln von Selfcare à la Instagram ist unter anderem, dass sie so tun, als wüssten sie ganz genau, was Menschen brauchen, um aus einem fragilen wieder in einen stabilen Zustand zu kommen. So, als gäbe es nur ein Bedürfnis, das es zu befriedigen gilt, nämlich das nach Duschpeeling, Sauna & Co. Wenn Selfcare aber bedeuten soll, seine je eigenen Wünsche ernst zu nehmen, dann ist Vielfalt die Devise – und soziale Normzwänge sind der Feind.

Der eine sehnt sich vielleicht danach, endlich in Ruhe arbeiten zu können; die andere hingegen wünscht sich nichts sehnlicher, als einmal eine Woche lang keinen einzigen Gedanken an irgendetwas verschwenden zu müssen, was auch nur im Entferntesten nach Broterwerb klingt. Die eine erträumt sich die Einsamkeit einer nordnorwegischen Hütte; der andere will endlich Zeit finden für den geselligen Vereinsausflug. Und es darf auch abseitig werden.

Ein Freund erzählte mir einmal, in seinem Studium habe er einen Professor mit einem besonderen Hobby kennengelernt: In den Semesterferien, wenn die professoralen Standesgenossen sich gepflegt ins Landhaus zurückziehen, um in bildungsbürgerlichen Romanen zu schmökern, steigt er in die Fahrerkabine eines Lkw. Und fährt. Auf echten Touren mit echter Fracht und echtem Lohn. „Das braucht der einfach als Ausgleich“, meinte mein Freund.

Menschen sind unterschiedlich, und es gibt – solange kein anderer darunter leidet – keine illegitimen Formen der Selfcare. Wenn die Leitmetapher also die Batterie sein soll, die es aufzuladen gilt, dann sieht das eher so aus wie bei den Modellen aus den Pioniertagen des E-Auto-Herstellers Tesla. In diesen Fahrzeugen wurden seinerzeit unzählige handelsübliche Laptopbatterien gebündelt und verbaut. Wie dieses Auto haben auch Menschen nicht die eine große Batterie, sondern viele kleine und (allerdings anders als bei dem Ur-Tesla) höchst individuelle Energiespeicher mit unterschiedlichen Ladeständen.

Sich Freiraum verschaffen

Selbstfürsorge heißt, auf seine ganz persönliche Weise Energie zu tanken. Dazu ist es notwendig, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem diese spezifischen Bedürfnisse nicht abgewertet werden, weil jemand anderes dringendere Bedürfnisse hat (oder sie einfach nur lauter äußert). Deshalb ist die Frage eigentlich gar nicht so sehr, welche Tätigkeiten sich am besten zur Selbstfürsorge eignen, sondern wie man Letztere überhaupt möglich macht, wie man also lernt, sich – mitunter auch gegen Widerstände – den nötigen Freiraum zu verschaffen.

Und dazu braucht es keine gesonderte Rechtfertigung. Gerade Frauen, schreibt der amerikanische Psychologieprofessor Michael Karson, liefen Gefahr, eilfertige Begründungen vorauszuschicken. Das sei kontraproduktiv, denn: „Wer die Selbstfürsorge rechtfertigt, setzt damit die Vorstellung in die Welt, dass es für Selbstfürsorge überhaupt so etwas wie eine Rechtfertigung bräuchte.“ Also lieber: „Ich mache jetzt Pause, Punkt!“ Und nicht: „Ich habe mich dermaßen für die Familie abgerackert, wenn ich jetzt nicht Pause mache, klappe ich zusammen.“

Ein besserer Mitmensch werden

Wenn Selfcare also nicht bloß als Eskapismus vor den Härten des Alltags verstanden wird, sondern eher als Rüstung, die uns für diese Härten wappnet, dann stimmt das, was Tatjana Reichhart in ihrem Buch Das Prinzip Selbstfürsorge betont. Diese Selbstfürsorge nämlich sei nicht egoistisch, sondern vielmehr ein soziales Verhalten, das bedeute, „in Resonanz mit sich selbst und ebenso mit anderen Menschen zu sein und reale Kontakte zu leben“.

In dem Sinne wäre die Selfcare eine Nachkommin der antiken epimeleia (siehe Definition unten). Eine solche Fürsorge umfasst mehr als das eigene Ego und die persönlichen Befindlichkeiten, nämlich das gesamte Gemeinwesen, in das jeder Mensch eingebettet ist. Es ist eine Sorge, die nicht nur aus dem Bauch heraus kommt, sondern Reflexion erfordert.

So heißt es in Platons Dialog Alkibiades I: „Diese Sorge für uns selbst bedarf aber der Selbsterkenntnis: Sich auf das Seinige verstehen ist die Voraussetzung dafür, das, was die anderen betrifft, zu verstehen und ein politischer Mensch zu werden.“ Es ist ein schönes Paradox: Die Sorgfalt, die ich an mir erprobe, macht mich zu einem besseren Mitmenschen.

Literatur

Tatjana Reichhart: Das Prinzip Selbstfürsorge. Wie wir Verantwortung für uns übernehmen und gelassen und frei leben. Kösel, München 2019.

Friederike Potreck: Ich bin genug! Wege zu einem starken Selbstwert. Klett-Cotta, Stuttgart 2021.

Die Seele stärken. Psychologie Heute compact, Nr. 62. Zu beziehen über unsere Website: psychologie-heute.de/compact.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2022: Was treibt mich an?