Erste Hilfe für die Seele

Im Notfall hilft Verband anlegen oder stabile Seitenlage. Doch was tun bei seelischer Not? Erste-Hilfe-Kurse für mentale Gesundheit sollen das lehren.

Die Illustration zeigt einen Kopf mit einem Boot darin, das auf Wellen schwimmt und in die Dunkelheit leuchtet
Jedes Jahr erleidet ein Drittel der deutschen Erwachsenen eine psychische Erkrankung. Wie können Laien ihnen helfend beistehen? © Karsten Petrat

Vor einigen Jahren erkrankte eine Freundin von Eva Luther (Name geändert) an einer schweren Depression. Durch eine professionelle Behandlung ging es ihr irgendwann besser, doch der Weg dorthin war steinig und dauerte. Als im Frühjahr 2020 die Coronapandemie zu starken Einschränkungen im Alltag führte, glaubte Luther, bei ihrer Freundin erneut Anzeichen für eine Depression zu erkennen. „Diesmal wollte ich mich schlau machen, wie ich ihr helfen kann, wie ich sehen kann, ob sie wieder in eine Depression…

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eine Depression rutscht“, sagt die 57-Jährige. Doch Luther ist Ingenieurin und Laiin auf die­sem Gebiet – sie wollte helfen, wusste aber nicht, wie. So wie ihr ergeht es der Mehrheit der Bevölkerung.

Denn die meisten von uns hatten bereits Kontakt mit psychischem Leid, sei es im Familien- oder Freundeskreis oder bei der Arbeit. Jedes Jahr erleidet ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland eine psychische Erkrankung, zeigen repräsentative Erhebungen wie die DEGS-Studie vom Robert-Koch-Institut. Noch häufiger erleben Menschen seelische Krisen, etwa nach dem Tod eines nahestehenden Menschen, bei plötzlicher Arbeitslosigkeit oder körperlicher Gewalt. Nur wenige Menschen nehmen in diesen Fällen die Hilfe von Beratungsstellen, Therapeutinnen und Ärzten in Anspruch. Die Scham ist oft zu groß, gleichzeitig wissen viele nicht, wohin sie sich wenden sollen.

Erstversorgung psychischer Wunden

Erste-Hilfe-Kurse, die auf psychische Belange zugeschnitten sind, sollen nun Laien dazu befähigen, anderen helfend beizustehen, wenn diese in eine seelische Krise rutschen. Seit Herbst 2020 gibt es eine spezielle Ausbildung zur Erst-helferin oder zum Ersthelfer in Deutschland. Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim hat dafür das Projekt Mental Health First Aid (MHFA) aus Australien nach Baden-Württemberg geholt, wo seither mehr als 2000 solcher MHFA-Ersthelferinnen und -Ersthelfer ausgebildet wurden.

Mittlerweile werden die Kurse bundesweit angeboten. Sie richten sich an Menschen wie Eva Luther, die lernen wollen, anderen in psychischer Not zu helfen. Helfer kann werden, wer sich dafür interessiert: Nachbarn und Freundinnen, Lehrer oder Studierende, Führungskräfte genauso wie Angestellte.

Angelehnt an reguläre Erste-Hilfe-Kurse, lernen Teilnehmende an vier Tagen in dreistündigen Workshops, auf seelische Notfälle zu reagieren und psychische Wunden erstzuversorgen. Sie leisten wie bei körperlicher Erster Hilfe Beistand und wenden Maßnahmen an, bis die akute Krise vorüber oder die betroffene Person in profes-sioneller Obhut ist. Die Ersthelfer sollen dabei weder einen Psychotherapeuten ersetzen noch eine handfeste Diagnose erstellen können. Aber sie lernen in dem MHFA-Ersthelferkurs Grundlagenwissen, zum Beispiel woran sich eine Depression, eine Angsterkrankung oder eine Psychose erkennen lassen.

Symptome erkennen lernen

Die Kursleiterinnen und -leiter vermitteln, wie sich Menschen mit Suizidgedanken verhalten und was eine Sucht ausmacht. Zusätzlich erlernen die künftigen Ersthelferinnen eine Art stabile Seitenlage für die Seele: In Rollenspielen üben sie, wie sie reagieren können, wenn jemand in ihrem Umfeld Wahnvorstellungen hat oder Stimmen hört, oder auch, was zu tun ist, wenn einen Menschen eine Panikattacke packt. Und wie sie einer Person mit Suizidgedanken Halt geben können. Statt eines Verbandkastens bekommen Teilnehmende Kommunikationsstrategien an die Hand.

Die Ingenieurin Eva Luther hat im Oktober 2020 an einem dieser Kurse teilgenommen. „Das war sehr viel Wissen, was dort vermittelt wurde, da musste man nachher schon mal durchatmen“, sagt sie. Doch sie war froh über die neuen Fähigkeiten und hat diese umgehend angewandt: „Ich habe das Gespräch mit meiner Freundin gesucht. Anders als in unseren früheren Unterhaltungen habe ich diesmal meinen eigenen Redeanteil zurückgefahren und mehr nachgefragt“, berichtet Luther.

Ihr Bauchgefühl, weswegen sie überhaupt an dem Ersthelferkurs teilgenommen hatte, war richtig: Der Freundin ging es seelisch wieder schlechter. Also hat Luther gefragt: „Was hast du letztes Mal unternommen, damit es dir besser geht? Was hat dir gutgetan?“ Das Gespräch zeigte Wirkung: Die Freundin ging zu ihrem Hausarzt und ließ sich behandeln. Diesmal deutlich früher als bei der ersten Krise.

Die Zuversicht, helfen zu können

Hinter der Initiative Mental Health First Aid stehen der australische Psychologe Tony Jorm, emeritierter Professor an der University of Melbourne, und seine Partnerin, die Krankenschwester Betty Kitchener, die selbst mehrfach depressive Episoden durchlebte. Bereits vor mehr als 20 Jahren entwickelten die beiden das Ersthelferprogramm und gründeten die gemeinnützige Organisation MHFA mit dem Ziel, die Allgemeinbevölkerung besser über psychische Erkrankungen aufzuklären und ihr konkrete Erste-Hilfe-Strategien an die Hand zu geben.

Jorm und Kitchener entwickelten damals mit einem internationalen Expertengremium aus Psychotherapeuten und Psychiaterinnen Richtlinien für Laien. Dafür trugen die Expertinnen und Experten zunächst Empfehlungen zusammen, wie vorgegangen werden sollte, etwa wenn jemand alkoholabhängig scheint, eine Panikattacke erlebt oder suizidal ist. „In das Manual aufgenommen wurden dann nur jene Hilfestellungen, denen mindestens 80 Prozent der Experten zustimmten“, so Jorm.

Mittlerweile gibt es die Kurse in 24 Ländern auf vier Kontinenten. Rund vier Millionen Menschen haben an diesen Fortbildungen teilgenommen. Wohltätige Organisationen, Regierungsbehörden oder wie jetzt in Deutschland Forschungseinrichtungen haben dafür die Kurselemente und Handbücher in ihre Landessprachen übersetzt und der jeweiligen Bevölkerung zugänglich gemacht.

Wirksamkeit bei Teilnehmenden

Das Interesse ist groß. „Wir haben mit den regulären Ersthelferkursen im September 2020 begonnen und hatten direkt ausgebuchte Seminare“, sagt Psychotherapeutin Tabea Send vom Mannheimer Zentralinstitut, die gemeinsam mit dem Psychiater und Professor Michael Deuschle sowie der Psychotherapeutin Simona Maltese das Programm in Deutschland leitet. Aktuell gebe es zusätzlich eine Onlinevariante. Teilnehmen kann an den Kursen jeder, der sich dafür interessiert. Vereine, große Unternehmen und Behörden fragen die Kurse an. Viele Menschen kommen aus privatem Interesse.

Zahlreiche Studien bescheinigen dem internationalen Ersthelferprojekt positive Effekte. Die Befunde aus 18 Erhebungen mit rund 6000 Männern und Frauen haben australische Forscher in einer Übersichtsarbeit von 2018 zusammengefasst. Demnach wussten die Ersthelferinnen nach dem Kurs im Vergleich zu vorher deutlich mehr über psychische Erkrankungen, erkannten diese früher und glaubten eher daran, dass Betroffenen durch eine professionelle Behandlung geholfen werden könne.

Sie entwickelten die Zuversicht sowie das Selbstbewusstsein, einem Menschen in psychischer Not Erste Hilfe leisten zu können, und waren umso mehr gewillt, dies auch tatsächlich zu tun. „Der Kurs hat mir die Augen geöffnet, mir meine Vorurteile bewusstgemacht“, sagte ein schwedischer Ersthelfer, der im öffentlichen Dienst arbeitet und an einem MHFA-Kurs für Staatsbedienstete teilgenommen hatte.

Fraglicher Effekt auf Hilfeempfangende

„Jeder Mensch sollte sich darin auskennen, wie man anderen in psychischer Not hilft“, unterstreicht der Psychiater Wolfgang Gaebel, Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, das sich für die Entstigmatisierung psychisch Erkrankter einsetzt. Psychologische Erste-Hilfe-Kurse seien daher eine lobenswerte Entwicklung. Mehr noch: „Angebote wie diese könnten die Gesellschaft verändern.“

Allerdings gibt es keine Belege dafür, dass die Kurse denjenigen nützen, die in psychischen Krisen von geschulten Ersthelfern Hilfe erhalten. „Die Idee Erster Hilfe ist wichtig und in den Kursen liegt eine Chance. Doch Studien fanden den erhofften Effekt bei Hilfeempfängern bislang nicht. Eine Frage ist daher, wie die Wirksamkeit der Kurse verbessert werden kann“, sagt der Psychiater Nicolas Rüsch, Professor für Public Mental Health an der Universität Ulm, der die australischen Kurse und den Gründer Tony Jorm kennengelernt hat. Im Rahmen des neugegründeten Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit werden er und Kolleginnen und Kollegen aus Mannheim, Heidelberg und Ulm diesen Fragen weiter nachgehen.

Die Waffe aus der Wohnung geholt

Möglicherweise ist das eine der wichtigsten Erkenntnisse aus den bisherigen Studien zu MHFA. „Wir müssen mehr Befunde dazu sammeln, ob die Hilfe bei den Menschen ankommt, die sie benötigen“, sagte auch Tony Jorm in seinem Vortrag beim Psychiaterkongress der DGPPN im November 2020. Das Problem sei, dass man für Befragungen gut an die Ersthelfer und Kursleiter herankomme, aber nicht an die Menschen, denen geholfen wurde.

Immerhin: Eine frühere Studie von Jorm verbucht, dass drei Viertel der Ersthelferinnen und Ersthelfer im Laufe von anderthalb Jahren zum Einsatz kamen – und psychische Erste Hilfe leisteten. Beispielsweise erzählte ein Mann aus den USA, der im Militärbereich arbeitet, in einer Interviewstudie von einem jungen Rekruten: „Der Kerl stand völlig neben sich. Ich habe ihn angesprochen. Er durchlebte gerade eine Trennung. Also fragte ich ihn ohne Umschweife, ob er darüber nachgedacht habe, sich das Leben zu nehmen, und er gab zu, dass er das getan hatte. Wir gingen gemeinsam zu ihm nach Hause, um seine Waffe von dort wegzuholen, und besorgten ihm professionelle Hilfe.“

Eine weitere US-Studie listet Erfolge normaler Bürger auf: eine Person, die einer ihr unbekannten Frau während einer Panikattacke im Flugzeug half. Jemand, der seine Kollegin dazu anleiten konnte, mit deren suizidaler Schwester ins Gespräch zu kommen. Oder der Ersthelfer, der nach dem Kurs erstmals ganz offen mit einer engen Verwandten über deren Angsterkrankung sprach.

Ausbildung von Kursleitenden

Solche Erfolgsberichte verbucht auch das deutsche MHFA-Team, wie etwa den von Eva Luther, die ihrer Freundin helfen konnte. Schritt für Schritt wollen die Initiatorinnen und Initiatoren die Basis an Hilfsmöglichkeiten erweitern. Nach dem Vorbild in Australien finden sich auf der hiesigen Internetseite bereits 13 Richtlinien für Erste-Hilfe-Maßnahmen kostenlos zum Herunterladen.

Darunter Hilfestellungen für den Umgang mit psychisch belasteten geflüchteten Menschen, bei Drogenproblemen, Essstörungen oder auch während der Coronapandemie. Bald soll es auch gezielte Kurse geben, wie Erwachsene Jugendliche in Krisen unterstützen können, etwa für Lehrerinnen oder Eltern, später auch, wie älteren Personen mit Demenz geholfen werden kann.

Gleichzeitig bilden die Initiatoren Send, Deuschle und Maltese sogenannte Instruktorinnen und Instruktoren aus dem gesamten Bundesgebiet aus, die die MHFA-Kurse leiten. Wer sich dafür bewirbt, muss Vorerfahrungen aufweisen, also bereits in einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Einrichtung gearbeitet haben, sei es als Therapeutin, Therapeut oder Pflegekraft. „In manchen Ländern können sich Laien zu Instruktoren ausbilden lassen. In Deutschland haben wir jedoch einen höheren Qualitätsanspruch an unsere Kursleiterinnen. Sie sind handverlesen“, sagt Deuschle, leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Zentralinstituts in Mannheim.

Inneres Rüstzeug 

Die Inhalte, die im MHFA-Kurs vermittelt werden, sind nicht nur für Betroffene in Not, sondern mitunter auch für das Wohlbefinden der helfenden Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer entscheidend. Denn jemandem Erste Hilfe zu leisten, der suizidal ist oder eine Psychose entwickelt hat, kann für die Helfenden belastend sein. Das betont die Gestalttherapeutin Antje Hertling. Sie hat 16 Jahre als Beraterin im Berliner Krisendienst mitgearbeitet und leitet heute in Betrieben Seminare zur „Psychologischen Ersten Hilfe“. Dabei lernen die Teilnehmerinnen, Kollegen nach traumatisierenden Situationen wie etwa einem Überfall oder schweren Betriebsunfällen psychologisch zu betreuen.

Umfassende Erste-Hilfe-Kurse für die breite Bevölkerung und übers Katastrophenmanagement hinaus anzubieten hält Hertling für eine gute und menschenfreundliche Idee. Sie mahnt aber an: „Es braucht für diese Aufgabe inneres Rüstzeug. Es ist wichtig und gut, dass Laien lernen, andere in Krisen oder mit einer psychischen Erkrankung zu ermutigen, sich Hilfe zu holen.

Sie müssen aber wissen, wofür sie zuständig sind und wann eine Anbindung an das professionelle Hilfenetz sinnvoll ist. Genauso wichtig ist, zu klären: Wo bleiben die Helfer mit dem, was sie erlebt haben in dieser kritischen Situation, wo bleiben sie mit ihren Gedanken und Gefühlen?“ Eine suizidale Krise mit jemand durchzustehen, das macht etwas mit einem, das weiß Hertling aus eigener Erfahrung. Im Krisendienst haben sie und ihre Kollegen sich gegenseitig geholfen, auch habe es Supervisionssitzungen für die Mitarbeitenden gegeben.

Mit feineren Antennen durchs Leben

In einigen Ländern, in denen es bereits MHFA-Kurse gibt, tauschen sich die Ersthelferinnen und -helfer über Facebook-Gruppen aus. In Deutschland arbeiten die Initiatorinnen derzeit an einem Konzept, um solch eine Möglichkeit zu schaffen. Gleichzeitig legen sie großen Wert auf das Thema Selbstfürsorge. „Wir vermitteln in jedem Kurs: Du kannst nur psychologische Erste Hilfe leisten, wenn es dir selbst psychisch gutgeht“, sagt Psychotherapeutin Send.

Das sei analog zu Erster Hilfe bei körperlichen Problemen, da könne man auch nur Verletzten helfen, wenn man nicht selbst unter Schock steht. Daher sei ein Ersthelferkurs auch nicht dazu geeignet, eigene psychische Probleme aufzuarbeiten. „Strategien, die Kursteilnehmer lernen, um anderen zu helfen, können sie dennoch auch auf sich selbst anwenden“, so Send. In belastenden Situationen könne es sinnvoll sein, auch mal in sich hineinzuhorchen: Wie geht es mir im Moment, was benötige ich, damit es mir gutgeht?

Diese und weitere Erkenntnisse aus dem Kurs haben Eva Luther nachhaltig geprägt. „Ich gehe mit feineren Antennen durchs Leben, merke eher, wenn es jemandem nicht gutgeht – und kann darauf reagieren“, sagt sie. Zugleich habe sie verstanden, dass ihr Hilfsangebot nicht immer zu einem Erfolg führe. „Anders als bei körperlicher Erster Hilfe bin ich bei psychischen Problemen darauf angewiesen, dass die andere Person meine Hilfe auch möchte und sie annimmt“, sagt die Ingenieurin. Abhalten tut sie das nicht. Sie würde immer wieder ihre Unterstützung anbieten. Und wenn der andere ablehnt? Dann ist sie eben einfach da, für den Fall, dass die Person es sich anders überlegt.

Literatur

Michael Deuschle, Tabea Sarah Send: First aid for mental health in Germany. Psychiatria Danubina, 31/4, 2019, 487–490. DOI: 10.24869/psyd.2019.487

Amy J. Morgan u.a.: Systematic review and meta-analysis of Mental Health First Aid training: Effects on knowledge, stigma, and helping behaviour. Plos One, 13/5, 2018, e0197102. DOI: 10.1371/journal.pone.0197102

MHFA Ersthelfer: mhfa-ersthelfer.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2021: Egoisten