Es würde unserer Vorstellung von einem normalen Verhalten entsprechen, dass wir die Gesellschaft von Personen suchen, die uns guttun, und Kontakte mit den Menschen meiden, die uns kränken. Aber Erwachsene verhalten sich oft gänzlich anders. Es gibt Menschen, die jedes zweite Wochenende weite Fahrten auf sich nehmen, um Eltern zu besuchen, die sie kränken. Sie weisen Gaben – etwa bares Geld – empört zurück, die sonst erfreut eingesteckt werden. Sie wollen verstanden werden und fühlen sich unverstanden.
Entwer…
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werden und fühlen sich unverstanden.
Entwertend und voller Klagen über Eltern zu sprechen bedeutet keineswegs, dass die Bindung an sie schwach, die Wünsche an sie zurückgenommen sind. Sie werden nach wie vor gebraucht. Manches an den Äußerungen der erwachsenen Kinder hört sich an, als gehe es um die Rechtfertigung für einen eigenen Mangel an Lebenszufriedenheit oder Zukunftshoffnung. Die Eltern sind etwas schuldig geblieben, was sie hätten geben können, wenn sie nur gewollt hätten, und die Folgen sind schlimm.
Erwachsene Kinder, die Fehler ihrer Eltern beklagen, sprechen heute vor allem über Mängel in der Erziehung. Sie vergleichen ihre Eltern mit dem Bild, das sie von „wirklich guten“ Eltern entworfen haben. Sie überzeugen sich, dass die Probleme, die sie jetzt als Erwachsene haben, mit der Differenz zwischen den realen Eltern und diesem Idealbild zusammenhängen.
Damit sind die Eltern nicht in der Vergangenheit und in der äußeren Welt angesiedelt. Sie halten einen Brückenkopf im Inneren der erwachsenen Kinder und kontrollieren vermeintlich von dort aus das Kind. Diese fiktiv fortbestehende Einflussnahme ruft nach Verteidigungsmaßnahmen. Die Eltern ahnen oft gar nicht, welche Macht ihnen zugeschrieben wird. Sie sind hilflos gegenüber Aktionen des erwachsenen Kindes, die sich gegen eine Besatzungsmacht richten, von der die Eltern nicht wissen, dass sie existiert. Selbst dementen Eltern schreiben die erwachsenen Kinder eine Energie zu, die nur sie selbst besitzen.
Erziehungsexperten werden überschätzt
Erst haben die einen Psychoexperten den Müttern gesagt, dass sie nur dann seelisch gesunde Kinder haben werden, wenn sie diese nicht durch Versagungen traumatisieren. Jetzt kommen andere Experten und behaupten, dass die so erzogenen Kinder keine gesunde Zukunft vor sich haben, weil sie Versagungen nicht ertragen. Verunsicherte Eltern fallen unter die Ratgeber wie unter die Räuber. Sie kommen nicht mehr mit den Instrumenten an Disziplinierungen aus, die in traditionellen Gesellschaften problemlos funktionieren. Sie müssten einfallsreicher sein und mehr Energie besitzen, als das Eltern früher jemals abverlangt wurde. Aber woher nehmen? Es ist kaum möglich, durch persönliche Festigkeit und emotionale Ressourcen auszugleichen, was an Rahmen um die Familie herum fehlt.
Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Aber woher die Dörfer nehmen? Eltern bräuchten eine Halt gebende Umwelt, nicht Pädagogen und Kinderpsychiater mit wechselnden Meinungen. Experten werden krass überschätzt, wenn sie die Defizite in der Familienumwelt durch ihre Empfehlungen zu kompensieren trachten. Manche haben die Selbstdistanz, sich das einzugestehen; andere zögern keine Minute, den Eltern die Schuld zu geben, wenn ihre Ratschläge nicht funktionieren.
Die Bedeutung und die Macht der Eltern schwinden. Sie müssen mit den optischen Medien, den Schulkameraden, den Computerspielen und womöglich den Kicks durch Drogen konkurrieren. Gleichzeitig sollen sie ihre Kinder längere Zeit und durch viel schwierigeres Gelände führen als früher. Vielleicht sollten wir uns eher wundern, wie viele Eltern dennoch zufriedenstellend navigieren. Der Vers des Dichters Rainer Maria Rilke gilt für die meisten hochidealisierten Beziehungen der Moderne: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ Oft genug gelingt es ja doch, dass sich nach heftigen Auseinandersetzungen und dem Gefühl chronischen Scheiterns am eigenen pädagogischen Ideal Eltern und Kinder in aufrichtiger Dankbarkeit in die Autonomie entlassen.
Was ist schon „normal“?
Die Elternrolle ist deshalb so schwierig geworden, weil in einer individualisierten Kultur Eltern ihre Kinder durch starke persönliche Bindungen und intensive Aktivitäten „fördern“ sollen. Sie können nicht mehr für die elementare Fürsorge allein mit Anerkennung rechnen – schon früh vergleichen die Kinder ihr Konsumniveau mit dem anderer Familien und melden ebenso hier Ansprüche an wie in dem, was anderswo erlaubt und zu Hause verboten ist.
In traditionellen Gesellschaften ernähren und schützen die Eltern ihr Kind, solange es klein ist. Sobald es selbständiger wird, ist es ebenso wie die Eltern Traditionen unterworfen, die über beiden stehen.
Das ändert sich in der Moderne. Jetzt werden die Fantasien der Eltern mächtiger – und ebenso die des Kindes. Der Vater findet es beispielsweise „normal“, dass seine 15-jährige Tochter zur vorgeschriebenen Stunde zu Hause ist und ihm jeden jungen Mann vorstellt, mit dem sie Kontakt haben möchte. Die Tochter findet diese Auflagen sinnlos und grausam, gehen sie doch über das hinaus, was unter ihren Altersgenossinnen als „normal“ gilt.
Später lassen sich beispielsweise in diesem Fall zwei Positionen unterscheiden: eine, in der böse Eltern nachhaltig benötigt werden, und eine andere, in der das Versagen der Eltern als Ausdruck begrenzter menschlicher Möglichkeiten gesehen wird.
Position A: „Mein Vater hat mein Leben zerstört. Immer wenn ich ihn sehe und er so tut, als ob nichts wäre, steigt diese Wut in mir hoch. Er kapiert einfach nicht, was er mit mir gemacht hat.“
Position B: „Mein Vater war total überfordert, als ich in die Pubertät kam; damals habe ich ihn gehasst, jetzt denke ich nicht viel an ihn, aber wenn wir uns sehen, kommen wir miteinander aus.“
Mächtige Erwartungen
Im Fall B hat die Tochter ihre erwachsene Rolle angenommen; sie urteilt abwägend und differenziert. Sie erlebt Vergangenheit und Gegenwart unterschiedlich, kann differenzieren, was früher geschehen ist und wie sie die Beziehung gegenwärtig gestalten will. Im Fall A wird die Tochter von der Erwartung beherrscht, der Vater müsste ihr jetzt noch etwas geben, was sie für die Ängste und den Ärger der Pubertät entschädigt, was ihr hilft, ein Leben zu führen, welches das richtige für sie wäre. Diesmal ist es die Tochter, die sich bemüht, den Vater zu erziehen. Sie denkt nach, wie sie ihm klarmachen kann, was er ihr angetan hat und was er tun hätte müssen, um ihr eine gute seelische Entwicklung zu bescheren. Sie fasst diese Gedanken zusammen zu Urteilen, wie ein „richtiger Vater“ sein müsste und wie viele Defizite sie ertragen musste, weil er diesem Bild nicht entspricht.
In traditionellen Gesellschaften dominiert die physische Nähe von Eltern und erwachsenen Kindern – ohne sie wäre ja die Chance dahin, von den erwachsenen Kindern ernährt und gepflegt zu werden, sobald die eigenen Kräfte schwinden. In den modernen Gesellschaften leben erwachsene Kinder und Eltern nur noch ausnahmsweise in einem Haushalt. Dafür werden die meisten Kinder erst lange nach der körperlichen Reife auch wirtschaftlich unabhängig.
Falsche Dankbarkeit
Je länger die Abhängigkeit des Kindes von den Eltern dauert, desto mehr – oft nicht in ihrem vollen Umfang bewusste – Fantasien wachsen in den Eltern, das Kind müsste ihnen ihre Mühe danken. Umgekehrt wachsen aber auch in den Kindern ebenfalls zum Teil unbewusste Fantasien, die Eltern müssten dankbar sein, dass sie sich so lange über alle möglichen Hürden gequält haben, um die Erwartungen der Eltern zu erfüllen.
Das Kind hat acht Jahre den Eltern zuliebe Cello geübt; die Eltern haben acht Jahre dem Kind zuliebe Instrument und Musikstunden bezahlt. Wenn der 18-Jährige trotzt und sein Instrument in die Ecke stellt, liegt es für ihn nahe, zu sagen, dass seine Eltern ihn mit dem Musikunterricht gequält haben und er jetzt nicht mehr daran denkt, ihre Ansprüche zu erfüllen. Die Eltern hingegen finden ihn undankbar und lassen ihn ihre Enttäuschung spüren.
An der Wurzel solcher Frustrationen liegen Unsicherheiten auf beiden Seiten. Wenn eine Studentin sich nicht zutraut, ihr Lieblingsfach zu wählen, kann es geschehen, dass sie in ihrer Ratlosigkeit die Eltern fragt. Wenn diese nicht zugeben können, dass die Tochter einen weit besseren Überblick über die gegenwärtigen Studienmöglichkeiten hat als sie, und womöglich etwas empfehlen, was ihnen gefällt, sind Konflikte programmiert. Wird die Tochter unzufrieden und fühlt sich auf den falschen Weg geschickt, liegt der Vorwurf an die Eltern nahe, sie hätten ihr Kind nicht ausreichend in seiner Autonomieentwicklung unterstützt.
Wenn diese Tochter eine psychotherapeutische Behandlung aufsucht, kann es geschehen, dass das Wort „Parentifizierung“ fällt: Die Eltern haben ihr Kind nicht in seiner Selbständigkeit gefördert, sondern Ansprüche gestellt, es vereinnahmt, es für ihre eigenen Bedürfnisse funktionalisiert.
Angst vor der Wut des Sohnes
Der erwachsene Sohn hat sich in seinem Kinderzimmer eingenistet. Seine alleinerziehende Mutter lässt ihn aus Furcht vor seinen Wutausbrüchen und Selbstmorddrohungen gewähren; sie füllt für ihn den Kühlschrank, teilt mit ihm ihr WLAN. Wenn sie verlangt, er solle endlich ausziehen, wirft er ihr vor, dass sie ihn im Babyalter vernachlässigt und später als Partnerersatz missbraucht habe. Die Mutter schämt sich, von ihrer eigenen Not zu sprechen – wie ihr Freund sie während der Schwangerschaft sitzenließ und sie unbedingt weiterarbeiten wollte, wie viele Kontaktversuche zu Männern an der Eifersucht ihres Jungen gescheitert sind.
Wer sich lange unter Psychotherapeuten bewegt, kann nach meinen Eindrücken eigentlich der Scham nicht entgehen, dass seinesgleichen und womöglich auch er selbst zu Konstruktionen einer Schuld der Eltern beigetragen hat. Schuldzuschreibungen sind unfruchtbar. Kurzfristig entlasten sie das Selbstgefühl; langfristig schwächen sie einen nachdenklichen und offenen Umgang mit der Realität von Beziehungen. Vollends suspekt sind mir Therapeuten geworden, die einen Kontaktabbruch gegenüber den Eltern als heilsamen Schritt idealisieren und sich selbst als bessere Elternfiguren ins Spiel bringen.
Wenn ein Therapeut unsicher ist, ob seine Arbeit Früchte trägt, wenn er an sich selbst zweifelt und diesen Zweifel nicht sinnvoll und produktiv findet, sondern mit Schuld- und Schamgefühlen auf ihn reagiert, stehen ihm zwei Auswege offen. Er kann sich in Supervision und Intervision mit der Ursache seiner Versagensgefühle beschäftigen und so sein ramponiertes Selbstgefühl wieder aufbauen. Oder aber er wertet sich durch die Entwertung der Eltern seiner Patienten auf, erklärt diesen und sich selbst die unbefriedigenden Erfolge seiner Arbeit mit einem besonders gravierenden, bisher unbewussten narzisstischen Missbrauch durch die Eltern.
Schwelende Konflikte
Ob nun durch Fehlgriffe mangelhaft ausgebildeter Therapeuten bewogen oder durch Lektüre angeleitet: Erwachsene Kinder, die sich intensiv mit den Mängeln ihrer Erziehung beschäftigen, halten das Bild von Eltern fest, die stark und differenziert genug sein müssten, um bei gutem Willen und entsprechendem Einsatz der nächsten Generation genau das zu geben, was ihr fehlt. Doch nun kommt es ihnen so vor, als ob sich die Eltern böswillig oder gleichgültig dieser Aufgabe entzogen. Sie verweigerten dem Kind etwas, auf das es ein Recht zu haben glaubt: Eltern, die so stark und einsichtig sind, wie man sie gerne hätte.
Die Tochter hat ein Psychologiestudium abgeschlossen. Sie lebt in einem Dauerkonflikt mit ihrer Mutter, die nach langen Arbeitsjahren als Hilfskraft in der Paketsortierung in Rente ist. Die Tochter erscheint mit rotgeweinten Augen in ihrer Analyse. „Ich habe meine Mutter besucht, bin eigens die vierhundert Kilometer gefahren, und was hat sie gemacht? Sie hat mir einen Geldschein zugesteckt. Ich will doch kein Geld von ihr, ich verdiene selbst genug, ich will, dass sie endlich versteht, wie ich lebe und was ich geleistet habe! Aber das interessiert sie nicht, sie fragt nur, wann ich endlich schwanger bin, weil sie sich ein Enkelkind wünscht. Ich habe das Geld natürlich nicht genommen, aber ich hatte dann ein fürchterlich schlechtes Gewissen, weil ich sah, wie sie das gekränkt hat. Aber ich bin es leid, mich selbst zu verleugnen, nur damit sie glaubt, es sei alles in Ordnung.“
Hätte die Mutter Verständnis für diese Probleme? Sicher ist das nicht, aber die Tochter versucht gar nicht, ihre Geschichte zu erzählen. Sie hält umso energischer an einem Mutterbild fest, das ihr ebenbürtig ist, je weiter sie sich seit ihrem Eintritt in eine höhere Schule und ihrem Studium von der realen Mutter entfernt hat. Sie erinnert mit heftiger Scham, wie sie in den ersten Gymnasialklassen die Mutter entwertete und sich versteckte, wenn diese einmal vorbeikam, um sie abzuholen. Erst wenn die Kameradinnen verschwunden waren, wagte sie sich aus ihrem Versteck und näherte sich der Mutter wie einer Fremden. Neben den Müttern ihrer Klassenkameradinnen wirkte die Hilfsarbeiterin plump. Sie war schlecht gekleidet und wusste nichts von Smalltalk. Die Tochter wünschte sich eine andere Mutter, sie schämte sich dieser Frau und fühlte sich schuldig über diese Scham. Sie lernte fleißig, um zu verhindern, dass die Schule Kontakt zu ihren Eltern aufnahm. Sie fälschte die Unterschrift der Eltern unter die Mitteilungen über Elternsprechtage, weil sie vermeiden wollte, dass ihre Lehrer die Mutter kennenlernten.
Die Tochter will den Unterschied nicht sehen
Die Tochter hätte das Rüstzeug, die Mutter zu verstehen und die Differenz zwischen der eigenen und der Entwicklung der Mutter wahrzunehmen. Sie unterdrückt diese Möglichkeit, um ihre Schuldgefühle abzuwehren, dass sie es nicht nur weitergebracht hat als ihre Mutter, sondern dass sie ihr tatsächlich geistig überlegen ist. Sie ist doch nicht eingebildet! So leugnet sie die Grenzen der Mutter und erklärt sich deren Nichtverstehen als ein Desinteresse und den Wunsch nach einem Enkel als pure Bosheit.
Hilfreich sind hier zwei Einsichten: Die Fantasie einer Liebe, die alle Bedürfnisse erfüllt und das Selbstgefühl stützt, ist nicht schlecht oder böse. Sie kann beflügeln, aber sie beginnt zu lähmen, gar in Hass umzuschlagen, wenn sie zum Anspruch wird, der eingeklagt werden kann. Die Tochter sehnt sich nach dieser Liebe und empfindet sich und die Mutter als Versagerinnen, weil die Mutter sie nicht „versteht“ und sie sich der Mutter nicht verständlich machen kann.
Wie aber kann die Wärme einer Liebesbeziehung erhalten bleiben, auch wenn die Beteiligten erkennen müssen, dass sie in verschiedenen Welten leben? Es ist hilfreich zu erkennen, dass die Konsumgesellschaft der Trauerarbeit feindlich ist. Sie macht es den Menschen recht schwer, das Unperfekte aneinander zu lieben. Und dennoch gibt es Wege. Ich würde sagen, durch ein Gemisch aus Trauer und Humor – „meine Mutter hat mich nie verstanden, aber sie backt den besten Apfelstrudel der Welt“.