Was die Eltern hinterlassen

Mit dem Tod der Eltern stirbt häufig auch der geschwisterliche Frieden.

Die Illustration zeigt ein großes Haus mit einem Baum daneben, darin sind die alten Eltern im Obergeschoss und die erwachsenen Kinder im Haus verstreut, die sich nicht einig sind
© Magda Wel

Friedhelm entschlummerte am Morgen des 2. November 2012. Sein Sohn Hartmut, der im Hannoveraner Elternhaus ein Einliegerapartment bewohnte, benachrichtigte sofort seine Brüder Roman und Wilfried, die in anderen Städten leben. Der eine kündigte sein Kommen für den nächsten Tag an, „schließlich haben wir ja viel zu besprechen“, der andere hatte es noch etwas eiliger. „Ich dachte, da rumpelt doch was, und bin hoch in Papas Wohnung“, erinnert sich Hartmut. „Da blättert mein Bruder Roman in lauter Akten und…

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durchwühlt die Schubladen. Beide behaupten, sie wollten nur dafür sorgen, dass alles gerecht aufgeteilt wird.“

Wilfried verlangte schon am nächsten Tag die Herausgabe von zwei Ölbildern, einem Konto mit 243 Euro und einer Münzsammlung. Und er plädierte für den möglichst raschen Verkauf des elterlichen Hauses, das die drei Brüder, wie den Rest, gemeinsam erben würden. „Ich gehe hier nicht einfach raus“, wehrte sich Hartmut. Mittlerweile wohnt er zwei Straßen weiter, das Haus mit komplettem Inventar steht seit drei Jahren leer.

Die drei Geschwister können sich nicht einigen und kommunizieren nur noch über ihre Anwälte miteinander. „Die beiden werfen mir vor, ich hätte nur bei Papa gelebt, um umsonst zu wohnen und weil er mir immer mal was zugesteckt habe. Dabei habe ich mich um ihn gekümmert. Unglaublich: Bis dahin war ich mit meinen Brüdern einmal im Jahr angeln, wir haben sogar Weihnachten miteinander gefeiert“, sagt Hartmut. „Jetzt reden wir kein Wort mehr miteinander.“

Das Sterben des Friedens

Plötzlich und unerwartet: Mit dem letzten Elternteil stirbt immer öfter auch der Familienfrieden. Die deutsche Nachkriegsgeneration hat das Wirtschaftswunder eingefahren. Jetzt tritt sie ab, hinterlässt dabei jährlich rund 350 Milliarden Euro – und laut Allensbacher Institut in jedem fünften Erbfall jede Menge Ärger.

Vor allem unter ihren Kindern. „Ich erlebe häufig, dass erwachsene Menschen – das sind ja keine jungen Leute mehr – im Erbfall in eine echte Lebenskrise geraten“, sagt die Kölner Rechtsanwältin Katharina Mosel, die auch als Mediatorin regelmäßig Streit zwischen erbenden Brüdern oder Schwestern zu schlichten versucht. „Weil sie sich mit ihren Geschwistern über das Erbe einigen müssen und das nicht hinkriegen, habe ich manchmal Leute vor mir sitzen, die wie Scheidungswillige von ihrem Ex-Bruder oder ihrer Ex-Schwester reden, weil sie in diesem Leben nichts mehr mit denen zu tun haben wollen.“

Nur auf den ersten Blick geht es dabei um Geld. In Wirklichkeit rankt der Konflikt zwischen den Geschwistern fast immer um innere Werte: Macht, verletzte Gefühle, Eifersucht. Und um nicht weniger als die Frage aller Fragen: Wer bin ich? Und wie möchte ich innerhalb meiner Familie eigentlich wahrgenommen werden?

Die Sanften und die Aufsässigen

Der Grund dafür liegt gewissermaßen im System. Familie ist immer auch ein Rollenspiel, die Besetzung erledigen die Eltern. „Es gibt oft ein Lieblingskind, das als Projektionsfläche dient, ein schwaches Kind, das man unterstützen muss, oder auch ein Mittelskind, das die Beziehungen untereinander abgrenzt“, sagt die Schweizer Psychologin Gabrielle Rütschi, Autorin von Erben. Büchse der Pandora. Die uns unbewusst zugewiesenen Rollen lassen wir später beim Auszug aus dem Elternhaus nicht einfach in unserem Kinderzimmer zurück. Sie nähren unser Selbst­bild und das Bild, das sich unsere Geschwister von uns machen.

Auch in ihrer Erinnerung bleiben wir die Kratzbürstigen, Sanften, Aufsässigen oder Weinerlichen. Sterben die Eltern, kommt es zum systemischen Konflikt: „Die ordnende Macht entfällt, das Chaos bricht aus, weil man sich selbst nie Gedanken machte, ob die Rollen eigentlich noch stimmen“, sagt die Autorin Susann Sitzler, die sich in einem Buch mit Geschwisterbeziehungen beschäftigt hat.

Plötzlich merke man womöglich, wie toxisch sich das Familienkonstrukt anfühle. Erlebte Ungerechtigkeiten, verletzte Gefühle, Frustmomente als Kind der eigenen Eltern sind nämlich keineswegs in Vergessenheit geraten. „Wir alle führen heimlich innere Konten darüber, wie wir innerhalb der Familie in Bezug auf erfüllte Erwartungen stehen“, erklärt Psychotherapeut Arist von Schlippe, Lehrstuhlinhaber an der Universität Witten-Herdecke. Diese Buchführung kommt beim Tod der Eltern auf den Tisch. Höchstpersönlich – und meistens ordentlich frisiert, denn „Menschen neigen dazu, sich ihre Selbsterzählung so zu gestalten, dass sie selbst unschuldig und mit weißem Kleid dastehen“.

Die Illusion der Gerechtigkeit

Payback-Time unter den Geschwistern. Gibt es ein Testament, kommt sogar eine weitere Abrechnung zum Abgleich mit der eigenen Kontoführung dazu: die der Eltern. Im Letzten Willen zeigt sich die schonungslose Wahrheit, in der Zuteilung spiegeln sich die Sympathien für ihre Kinder. „Solange Eltern leben, ist das kein Thema, man lebt gemeinsam in einer Illusion von Gerechtigkeit“, sagt Rütschi. „Ich habe noch nie erlebt, dass offen gesagt wurde: Dein Bruder ist mir näher, deshalb bekommt er auch mehr.

Das Thema ist ein Tabu. Ein Geheimnis, das mit ins Grab genommen und im Testament sichtbar wird.“ Für manche gibt es deshalb weniger monetär als emotional ein böses Erwachen. Nun hat man es sozusagen schwarz auf weiß, dass man weniger geliebt wurde als die Geschwister. „Im Erbfall zeigt sich, wie wir von den Eltern wahrgenommen wurden und wie wir eigentlich wahrgenommen werden wollten“, schreiben die Autoren Grant Gordon und Nigel Nicholson in ihrem Buch Family Wars.

Ein Testament ist demnach Schlussstrich, aber auch Abschlusszeugnis: Oft enthält es die unterschwellige Botschaft, dass ein Kind nicht gut genug ist, sein Verhalten nicht passt. Daraus erwächst oft unerträgliches Leid, erleben Psychologen und Mediatoren bei vielen ihrer Klienten.

Eine biografische Sollbruchstelle

„In dem Moment wird klar, wer der Liebling war und wer die Arschkarte gezogen hat“, resümiert die Berliner Autorin Susann Sitzler. Die Büchse der Pandora ist damit geöffnet. Besonders bitter: Da hat man sich vor Ort rührend um seine Eltern gekümmert, und im Testament werden die außerhalb wohnenden Geschwister bevorzugt. Die Logik dahinter entspringt oft der Seele gebrechlicher, bettlägeriger Väter und Mütter: Kinder, die nicht täglich greifbar sind, werden schon mal idealisiert.

Genau andersherum, aber nicht weniger turbulent verlief es bei Anna. Die hatte sich die letzten Jahre aufopfernd um ihre pflegebedürftige Mutter Lisa gekümmert, für sie eingekauft, sie zum Arzt gefahren, ihre Wohnung geputzt. Als Lisa starb, fielen Annas Brüder Lukas und Jan aus allen Wolken, als sie hörten, dass die Mutter Anna nicht nur das Haus plus Inventar, sondern auch 200000 Euro Barvermögen überschrieben hatte, während sie mit ein paar Wertgegenständen abgespeist wurden. „Eine Sauerei“, schimpften die beiden, während ihre Schwester es nur gerecht fand, dass sie für ihre Mühen belohnt wurde.

„Wenn einer selbst Schuldgefühle gegenüber den Eltern hat, weil er sich zu wenig gekümmert hat, kann er wahrscheinlich damit leben, benachteiligt zu werden“, sagt Sitzler. „Wenn der eigene Kompass aber anders eingestellt ist, fühlt man wahnsinnige, fast kindliche Machtlosigkeit, die totale Vernichtung des eigenen Willens und der eigenen Orientierung. Dazu kommt noch die Trauer an sich. Der Erbfall wird damit zur Sollbruchstelle der eigenen Biografie.“

Rückfall in die Kindheit

Nicht selten kann eine Identitätskrise folgen, denn jetzt läuft ein Mechanismus auf Hochtouren, den Psychologen mit der Theorie des sozialen Vergleichs beschreiben: Wir vergewissern uns unserer selbst dadurch, dass wir uns mit Menschen in unserer Nähe vergleichen. Geschwister fragen im Erbfall: Habe ich zu wenig bekommen oder wurden die Anteile unfair verteilt? Nur Letzteres macht richtig wütend.

Für die Buchautoren Grant Gordon und Nigel Nicholson ähnelt das Ohnmachtsgefühl dabei dem, das man erlebt, wenn einem jemand die Parklücke vor der Nase wegschnappt, obwohl man schon dafür zurückgesetzt hatte. Gerade in der Familie gehen wir davon aus, dass alle Geschwister gleich behandelt werden sollten. Das Gefühl, ungerecht behandelt oder gar über den Tisch gezogen zu werden, rüttele deshalb an unserem Selbstverständnis, sagt Arist von Schlippe: „Es versorgt uns mit enormer emotionaler Energie und kann uns verleiten, unbesonnen zu handeln.“ Erwachsene Menschen mutieren darüber zu ungerechten Kleinkindern, vergraben sich in der Vergangenheit.

Die Eskalationsspirale in den meisten Gerechtigkeitskonflikten folgt dabei ihrer ureigenen Choreografie. Für von Schlippe beginnt damit eine innere „Reise nach Dämonistan“, bei der alle Kontrahenten verunglimpft werden. Eine Prise Verfolgungswahn und andere Wahrnehmungsstörungen kommen dazu, die Reaktionen werden feindseliger. Um Geld, Immobilien, Wertsachen geht es dabei nur noch am Rande, und mancher Flächenbrand im Erbfall entzündet sich an überraschend kleinen Funken. Rechtsanwältin und Mediatorin Mosel erlebte schon Streitigkeiten über Tassen, aus denen zwei Schwestern als Kinder ihren Kakao getrunken hatten.

Verdrängung bis zum Tode

Für Horst Petri, Psychoanalytiker in Berlin, lassen sich Erbstücke mit Schmusetuch oder Teddybär vergleichen – den Übergangsobjekten der Kindheit. Sie stehen für die abwesenden Eltern, verbinden uns mit ihnen auch nach ihrem Tod. „Eltern lassen ihren Besitz symbolisch als Liebespfand zurück, als Teil von sich selbst, den sich die Kinder einverleiben sollen“, erklärt Petri die heftigen Scharmützel um oft scheinbar unbedeutende Erbstücke.

In denen, ist er überzeugt, offenbare sich ein „unvollständiger Loslösungs- und Individuationsprozess, eine starke innere Bindung und letztlich der Ausdruck einer mangelhaft erfahrenen Liebe“. An Rivalitäten und Eifersucht sind Geschwister eigentlich seit ihrer frühesten Kindheit gewöhnt. Nur wird der innere Wettkampf offenbar oft verdrängt, solange die Eltern noch leben. „In der Therapie“, beobachtete Psychologin und Autorin Gabrielle Rütschi, „spielte der Geschwisterkonflikt in den Jahren vor dem Tod der Eltern oft gar keine Rolle.“

Aber irgendwann hebt er das Köpfchen, denn „haben Geschwister sich ihre Konflikte nicht bewusstgemacht, sie reflektiert und bearbeitet, können diese später wieder aufbrechen. Dies geschieht insbesondere unter extremen Belastungssituationen wie etwa dem Tod der Eltern – und dann durchaus vehement“, ergänzt Gestalttherapeutin Cordula Ziebell, die zusammen mit ihrer Schwester, der Pädagogin Barbara Ziebell, Workshops für Frauen anbietet, die ihre Geschwisterbeziehungen aufarbeiten wollen.

Ich bekam zwei, sie drei Kugeln

Schwesternkonflikte, sagt Ziebell, werden häufig intensiver wahrgenommen als die unter Brüdern, deren Rivalitätskämpfe man eher als etwas Normales betrachte. Von Schwestern dagegen erwarten Familie und Gesellschaft meist eher ein harmonisches Miteinander. Sie übernehmen die Erwartungen, trauen sich oft nicht, für ihre Bedürfnisse einzutreten, und merken dies dann, wenn sie sich im Erbfall ungerecht behandelt fühlen.

Was Ziebell zufolge für die Wucht des Konflikts immer eine Rolle spielt: wie die Beteiligten selbst im Leben stehen, wie erfolgreich sie waren, wie stabil sie sich fühlen. „Es geht letztlich“, sagt Ziebell, „immer um das eigene Selbstwertgefühl; darum, sich selbst wertzuschätzen. Dann fällt es leichter, mit sich selbst und somit auch mit den Geschwistern versöhnlicher umzugehen.“

So weit hat es Corinna noch nicht geschafft. Um das Verhältnis zu ihrer acht Jahre jüngeren Schwester Ulla zu beschreiben, zeigt sie auf ein Bild, das sie als Kinder daheim in Würzburg mit Eiswaffeln in der Hand zeigt: „Ich bekam zwei, sie drei Kugeln“, erzählt Corinna. „Sie hat immer so lange gebettelt, bis unsere Mutter nachgegeben hat.“ Das Nesthäkchen wurde verhätschelt.

Der innere Groll

Corinna zog früh aus, machte Karriere, sparte sich mit ihrem Mann das Geld für ein Eigenheim zusammen, während Ulla ein Studium nach dem anderen abbrach, bis sie und ihr Mann das Buchgeschäft des Vaters übernahmen. „Irgendwann luden uns Ulla und Martin zur Einweihung ihres Hauses ein. Mitten in den Weinbergen, wahnsinnig protzig. Papa hatte ihnen das Geld dafür geliehen. Mir hatten sie nie was vorgestreckt, das piekte natürlich. Aber ich dachte auch: Meine Eltern können mit ihrem Geld machen, was sie wollen.“ Ullas Leben auf Pump ging irgendwann die Puste aus, das Geld war weg und auch das Elternhaus kam unter den Hammer.

Nach der Mutter starb bald auch der Vater. „Auf dem Sterbebett bat er mich um Verzeihung, dass es nichts mehr zu erben gebe“, erinnert sich Corinna. „Ich sagte: Alles gut. Aber in mir ist ein wahnsinniger Groll. Dabei kann ich ja nicht mal neidisch auf Ulla sein, sie hat ja wirklich nichts mehr, während es uns gutgeht. Es fühlt sich fast an wie enttäuschte Liebe. Mit meinen Eltern kann ich das ja nicht mehr diskutieren.“ Ulla aber lässt sie es spüren. Sie will nichts mehr mit ihrer Schwester zu tun haben.

Die Krux ist: Gerechtigkeit kann es nicht geben, weil sie so subjektiv ist wie die innere Kontoführung. „Die meisten Menschen denken, Eltern müssten einfach nur alles zu gleichen Teilen unter den Geschwistern aufteilen“, erklärt Kai Jonas, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Maastricht und Mitautor des Ratgebers Konfliktfrei vererben.

Es geht um Emotionen

Gerechtigkeit kann aber auch bedeuten, das Kind zu bevorzugen, das im Leben weniger gut dasteht als seine Brüder und Schwestern – und damit einen Ausgleich zu erreichen. Oder ein Kind dafür zu belohnen, dass es sich wie Anna für die Eltern aufgeopfert hat. Allen recht machen werden es Eltern jedenfalls nie. „Wiedergutmachung“, sagt Jonas, „tritt im Erbfall nicht ein.“

Dass Nachlässe heutzutage mehr Dynamit denn je enthalten, liegt auch an gesellschaftlichen Veränderungen. Die neuen Familienmodelle – unter anderem die Patchworkkonstellationen – entpuppen sich dabei schon mal als Brandbeschleuniger.

Und: Früher war das Erbrecht durch entsprechende Normen der Gesellschaft streng geregelt. „Da konnte der Gründer des Familienunternehmens mit Tränen in den Augen zu seiner Tochter sagen: Du bist mir zwar die Liebste, aber du hast nun einmal einen Bruder“, sagt von Schlippe. Die starren Regeln wandeln sich, „das gehört ja auch zum Reifeprozess einer Gesellschaft, aber das Konfliktpotenzial wur­de wieder zurück in die Familie verlegt“.

Da es bei Erbstreitigkeiten oft weniger um bare Münzen als um Emotionen geht, liege die Lösung häufig auf der Gefühls­ebene, stellt die Anwältin und Mediatorin Katharina Mosel fest: „Ich habe schon erlebt, dass die eine Schwester einfach nur mal hören wollte, dass ihre Sicht der Dinge verstanden wird. Dass ihr der Bruder zuhörte und sagte: So hast du das also erlebt damals. Dass ihr Schmerz anerkannt wurde.“

Eltern düngen Zwietracht

Bei hochgekochten Emotionen, die noch aus der Kindheit rühren, empfiehlt sich oft der Weg der Vernunft, wie ein offenes Testament (siehe Kasten unten). Als Experte für Familienunternehmen weiß Arist von Schlippe, wie schwer das gerade Patriarchen oft fällt: „In ihren Firmen sind sie perfekt agierende Führungskräfte, aber zu Hause sind sie emotional oft ausgesprochen hilflos.

Deshalb schieben viele das Thema vor sich her oder lagern das Testament im Panzerschrank.“ Viele Erblasser beschwichtigen sich auch zeitlebens mit dem, was von Schlippe eine „Konsensfiktion“ nennt: den Glauben daran, dass sich das schon alles von selbst gut regeln wird. Dabei düngen viele Mütter und Väter den Keim für Zwietracht schon während der Jugendjahre ihrer Kinder, ohne es zu ahnen. Arist von Schlippe erlebte das am eigenen Leib.

Sein Vater hatte einen Ring, den er auf abenteuerliche Weise durch seine Kriegsgefangenschaft gerettet hatte, im Laufe seines Lebens jedem einzelnen seiner fünf Kinder versprochen, als sie noch klein waren. „Für meinen Vater war das in jedem der Momente einfach ein Ausdruck großer Nähe, die er gerade empfand“, erinnert sich von Schlippe. „Aber für jedes der Kinder war jeweils ein psychologischer Kontrakt geschlossen worden, den es ernst nahm.“ Seine ganz persönliche Ringparabel führte durchaus zu Irritationen, glücklicherweise ließen sie sich klären, bevor es zu spät war – zu Lebzeiten des Vaters.

Am Ende hat es auch jeder selbst in der Hand, welchen Sprengstoff der Erbfall birgt. „Gier ist immer ein schlechter Berater“, warnt von Schlippe. Er rät, sich selbst stets zu sagen: „Es gibt kein Recht auf ein Erbe.“ Das eigene Verhalten zu reflektieren fällt oftmals schwer und wäre doch manchmal so hilfreich. „Alle sagen im Streitfall: Ich hätte nie gedacht, dass mein Bruder oder meine Schwester so handelt“, beschreibt Gabrielle Rütschi. „Doch keiner sagt: Ich hätte nie von mir gedacht, dass ich so reagiere.“ 

Erbstreitigkeiten lösen und vorbeugen

Mediation lohnt sich fast immer. Ein Mediator ist parteilos und versucht im gemeinsamen Gespräch zwischen den Erben zu vermitteln und eine Lösung zu finden, die für alle akzeptabel ist. Oft sind Mediatoren auch Rechtsanwälte mit einer Zusatzausbildung. Über 4000 gelistete Mediatorinnen und Mediatoren finden sich auf mediator-finden.de.

Nur die Beteiligten sollten an einem Tisch sitzen, sollte die Chance auf eine eigene gütliche Einigung bestehen. Nicht also die Ehepartner oder Lebensgefährten oder nichterbenden Halbgeschwister. Die Gefahr, aus bestehenden Animositäten oder Einflussnahmen den Konflikt noch zu verschärfen oder eine Lösung schwieriger zu machen, ist ansonsten erhöht.

Frühe Offenheit, dafür plädiert Sozialpsychologe Kai Jonas. Als Beispiel nennt er die Praxis in seiner Wahlheimat, den Niederlanden. „Wer hier ein Haus kauft, wird beim Notar auch gleich gefragt, wer es nach seinem Tod erben soll. Und alle sieben Jahre werden Eigentümer dann gebeten, die Festlegung auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen.“ Das kann auch hierzulande jeder vorab klären.

Ein offenes Testament wird von den meisten Experten empfohlen. Dafür besprechen Eltern schon frühzeitig mit ihren Kindern, was diese haben und wem sie selbst etwas vererben möchten. Notfalls muss man hier auch mal etwas Ärger aushalten.

Literatur

Gabrielle Rütschi: Erben. Büchse der Pandora. Bucher, München 2018

Arist von Schlippe: Die Selbstorganisation eskalierender Konflikte – Reiseberichte aus Dämonistan. In: Christian Fischer (Hg.): Kommunikation im Konflikt. C.H. Beck, München 2019

Susann Sitzler: Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens. Klett-Cotta, Stuttgart 2017

Literatur

Grant Gordon und Nigel Nicholson: Family wars: the real stories behind the most famous family business feuds. Kogan Page, London 2010

Kai Jonas und Hubertus Jonas: Konfliktfrei vererben. Hogrefe, Göttingen 2012

Christiane Kaniak-Urban u.a.: Wenn Geschwister streiten. Kösel, München 2016

Horst Petri: Geschwister - Liebe und Rivalität. Kreuz, Stuttgart 2006

Arist von Schlippe und Marcel Hülsbeck: Die Rolle psychologischer Kontrakte für die Entstehung von Konflikten. Konfliktdynamik 07/02, 2019, 92-101

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2020: Ruhe im Kopf