„Früher hatte Religion diese Funktion“

Perfektionismus ist das Leitbild unserer Gesellschaft. Warum das so ist und was Trost dabei für eine Rolle spielt, erklärt Soziologin Vera King.

Die Illustration zeigt eine Frau vor einer gelben Wand mit verschiedenen Bildern, die ein schiefes Bild gerade hängt, wobei das Motiv der schiefe Turm von Pisa ist.
Hängt das Bild schief oder doch gerade? Perfektionismus kann uns bis zu einem gewissen Maß ein gutes Gefühl geben. Problematisch wird es aber, wenn wir uns selbst schaden. © Golden Cosmos für Psychologie Heute

Der gesellschaftliche Imperativ lautet: „Streng dich an. Mach das Beste aus dir. Strebe Höchstleistungen in allen Bereichen an.“ Wie greifen gesellschaftlicher Druck und persönliche Neigung zu Perfektionismus ineinander?

Menschen gehen unterschiedlich mit Optimierungsdruck um. In unserem Forschungsprojekt „Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne“ haben wir grob vereinfacht fünf Typen gefunden.

Der Erschöpfte versucht, den Perfektionsanforderungen von außen zu genügen, realisiert, dass er…

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gefunden.

Der Erschöpfte versucht, den Perfektionsanforderungen von außen zu genügen, realisiert, dass er es kaum oder nur unter Schmerzen schafft, und leidet daran. Die forcierte Affirmiererin hingegen hat die Perfektionszwänge so stark verinnerlicht, dass sie Überforderungssignale ignoriert und gar keinen Leidensdruck mehr spürt. Nach außen wirkt sie angepasst, aber die Gefahr, sich selbst zu schädigen, ist groß. Das sind die Extrempole.

Dazwischen gibt es noch den Bagatellisierer: Der Körper zeigt ihm deutlich Grenzen auf, aber er redet die Symptome klein. Eine typische Äußerung war: „Mein Körper schreit zwar, aber so schlimm kann es nicht sein.“ Die widersprüchliche Balanciererin versucht, auf inkonsequente Weise teils perfekt zu sein, teils gegenzusteuern. Typ fünf ist eher abgegrenzt. Menschen dieses Typs gelingt es – nicht selten nach Krisenerfahrungen, die zu Veränderungen führten –, trotz hoher Erwartungen von außen gut für sich und andere zu sorgen und Grenzen zu ziehen.

Welche biografischen Prägungen machen besonders empfänglich für ungesunde Formen von Perfektions- und Leistungsdruck?

Ganz allgemein sind Menschen besonders empfänglich, die ein labiles Selbstwertgefühl haben, sich ihrer selbst unsicher sind. Ein zwanghafter Perfektionismus kann überdies dazu dienen, inneres Chaos oder eigene aggressive Regungen in Schach zu halten. Auffällig war aber in unserer Studie, die stärker die biografischen Umstände einbezieht, dass etliche ihre Beziehung zu den Eltern nach dem Muster einer Art bedingter Zuwendung erlebten. Sie hatten das Gefühl, in den Augen ihrer Eltern nur dann liebenswert zu sein, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllten. Dazu gehörten dann etwa besondere Leistungen oder Fähigkeiten.

Im Kern geht es dabei um eine Anpassungsbereitschaft, die bedeutet, es den anderen recht machen zu wollen. Solche Menschen reagieren stark auf äußeren Perfektionsdruck. Es ist ihnen sehr wichtig, in den Augen der anderen gut dazustehen und zu performen. Andere versuchen, Ängste vor Abhängigkeit durch einen perfekten Körper und ein makelloses Aussehen in Schach zu halten. Eine Frau in unserer Studie plante minutiös ihre Körperoptimierung, um sich zu stabilisieren. Auch operativ: Nach der ersten Schönheitsoperation war schon eine weitere angedacht. Aber auch danach besteht die Gefahr, dass die Fassade weitere Risse bekommt, vor allem wenn es unterschwellig um andere Ängste und psychische Nöte geht.

Perfektionismus als eine unendliche Geschichte?

Wenn man tiefer schaut, ist Perfektionismus eine Vermeidungsstrategie. Im Bild einer perfekten Glätte steckt die Fantasie, dadurch unempfindlich zu sein. Perfektion kann sich verbinden mit der Vorstellung, autonom und eingekapselt zu sein in eine Hülle, die vor allen möglichen Verletzungen schützt, zum Beispiel davor, verlassen zu werden. Die Idee ist dann: Wenn ich einen perfekten Körper habe und makellos schön bin, werde ich nicht verlassen. Das Tragische ist: Perfektion ist eine illusionäre Konstruktion.

Es geht also um die Illusion der perfekten Kontrolle. Lässt sich das auch auf Perfektionismus im Beruf übertragen?

Es gibt auf jeden Fall analoge Muster. Oft zeigen sich Ähnlichkeiten in der Art, wie Menschen ihre berufliche Karriere gestalten und wie sie mit ihrer Freizeit oder dem Körper umgehen. Gleichzeitig gibt es Optimierungsdilemmata. Wenn man sich im Beruf stark verausgabt, kann es schwierig werden, sich um die Gesundheit zu kümmern oder Freundschaften zu pflegen.

In unserer Untersuchung sind interessanterweise nicht so sehr diejenigen hervorgetreten, die über Leiden oder Erschöpfung geklagt haben. Auffällig waren vielmehr vor allem der erwähnte Typus des forcierten Affirmierers oder auch der Bagatellisiererin, die jeweils das Leiden gar nicht wahrnehmen. Daraus haben wir die These entwickelt, dass in vielen Bereichen eher das Ausblenden von Überforderung zur Normalität geworden ist und den gesellschaftlichen Prototyp verkörpert. Insbesondere gut ausgebildete Menschen stellen Optimierungsanforderungen gerne als etwas dar, was sie selbst wollen und freiwillig wählen.

Ist das nicht verständlich? Es ist ja auch verführerisch, sich super anzustrengen, weil Belohnungen warten. Und tatsächlich erwarten Arbeitgeber eine Menge.

Im Job gibt es realen Druck und objektive Zwänge. Diese Zwänge vermischen sich jedoch mit äußerst attraktiven Verführungsangeboten, die es sehr verlo­ckend erscheinen lassen, sich doppelt anzustrengen, in der Arbeit aufzugehen, permanentes Engagement zu zeigen – in der Hoffnung, viel Anerkennung zu bekommen. Daraus kann die Fantasie entstehen: Wenn ich alles gebe, kann ich auch alles bekommen. Je nach biografischer Prägung kann das Berufsleben zu einem Feld werden, auf das sich alle Anerkennungs- und Bindungswünsche konzentrieren. Zwang und Verführung liegen oft nah beieinander. Einerseits gibt es einen Druck, viel zu leisten, der Stress verursacht. Gleichzeitig erscheint es auch attraktiv, sich ins Zeug zu legen.

Warum? Was genau ist daran so verlockend?

Das Gefühl, unersetzlich zu sein, kann ein starker Motor sein, immer noch mehr aus sich herauszuholen. Und je mehr die Menschen ihre privaten Beziehungen vernachlässigen, was leicht passiert bei zeitintensiven Berufen, desto stärker geraten sie in einen Zirkel, der die Arbeit und ihre Anforderungen immer mehr ins Zentrum rückt. Die Kolleginnen werden dann zur Familie. Solche Tendenzen werden auch befeuert durch die gesellschaftliche Leitfigur und mediale Botschaften: „Erschaffe die beste Version deines Ich.“

Nicht zu vergessen ist, dass der unüberschaubare Vergleichshorizont in den Social Media auf besondere Weise Optimierungsdruck miterzeugt. Das Versprechen, unendlich viele Möglichkeiten zu haben, und der Druck, sie auch zu nutzen, durchziehen mittlerweile alle Lebensbereiche. Das könnte man schon fast als religiöses Muster bezeichnen, eine Art Transzendenzangebot. Indem man sich optimiert, erhofft man sich eine größere Beglückung.

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Das ist eine sehr narzisstische Leit­figur.

In der Tat werden narzisstische Fantasien getriggert. Unsere Gesellschaft setzt auf fortwährende Steigerung und Optimierung durch Grenzüberschreitung. Wie schwer es fällt, solche Muster zu ändern, wird in Krisen wie der Pandemie oder dem Klimawandel umso deutlicher. Und das perfektionistische Leitmotiv verändert auch Eltern-Kind-Beziehungen. In der Familienforschung finden sich Hinweise darauf, dass Kinder häufig zu einem narzisstischen Projekt ihrer Eltern werden. Eltern vermitteln dann indirekt die Botschaft: „Wir lieben dich, wenn du ein erfolgreiches oder funktionierendes Kind bist.“

Kinder reagieren darauf sehr unterschiedlich. Manche versuchen verzweifelt, sich die Zuwendung durch entsprechende Leistung zu erkämpfen. Ihr Selbstwert bleibt jedoch wie erwähnt labil, weil die Zuwendung an Bedingungen geknüpft ist. Andere ziehen sich resigniert zurück, werden passiv und verweigern sich den Ansprüchen. Überrascht hat mich, dass circa sechzig Prozent der Befragten in unserer Studie der Aussage zugestimmt haben: „Mir ist es wichtig, dass mein Kind von Anfang an zu den Besten gehört.“

Steckt dahinter nicht auch die verständliche Sorge der Eltern, ob ihre Kinder im gesellschaftlichen Wettbewerb bestehen?

Ganz sicher. Eltern befinden sich auch in einem Spannungsfeld und geben Widersprüche weiter. Einerseits fordert unsere moderne Gesellschaft hochgradige Autonomie. Gleichzeitig wird der Raum fürs Großwerden dadurch kleiner. Wenn Kinder durch Effizienzdruck und hohe Leistungsansprüche unter Druck gesetzt werden, bekommen sie nicht den Raum, den sie brauchen, um zu reifen und sich abnabeln zu können.

Was sagt es über unsere kollektiven Ängste aus, wenn Perfektion so wichtig ist?

Perfektionismus ist ein Angebot, um die schmerzhafte Erfahrung von Begrenztheit und Vergänglichkeit bewältigen zu können. Früher hatte die Religion diese Funktion, sie hat den irdischen Zumutungen das Versprechen auf ein besseres Leben im Jenseits entgegengesetzt. In der Moderne haben wir die Vorstellung, dass die Erfüllung hier und jetzt stattfindet.

Perfektionismus hat etwas Tröstliches. Ich kann mir sagen, wenn ich ordentlich an mir arbeite, gelingt es mir, etwas Besseres, Schöneres und Bedeutsameres aus meinem Leben zu machen. Gegen diesen Gedanken ist an sich nichts einzuwenden. Problematisch wird es, wenn Grenzen auf zerstörerische und illusionäre Weise geleugnet werden, was dann zu selbstschädigendem Verhalten führt.

Vera King ist Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts und Professorin für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie hat viel zu Optimierung geforscht und das Buch Lost in Perfection mither­ausgegeben (Suhrkamp 2021).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2022: Lieber unperfekt