Burn on

Viele Menschen fühlen sich erschöpft: zu viele Pflichten, zu viel Druck. Über den Zustand kurz vorm Burn-out – und wie wir uns daraus befreien.

Die Illustration zeigt einen Rennwagenfahrer mit Helm, der in einem brennenden Wagen sitzt und rast.
Was macht mich noch aus, jenseits von Job und Pflichten? © Golden Cosmos

Manche Patientinnen und Patienten geben Timo Schiele Rätsel auf. Sie sitzen vor dem leitenden Psychologen der Psychosomatischen Kli­nik Kloster Dießen am Ammersee im Aufnahmegespräch und in ihren Unterlagen finden sich Begriffe wie Burnout und Erschöpfungsdepression. Doch diese Patienten wirken gar nicht so ausgebrannt. Manche erzählen recht munter von ihrem guten Job und der liebevollen Familie. Viele möchten wissen, wie schnell sie wiederhergestellt sein werden.

„Diese Tatkraft passt nicht zum klassischen…

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Viele möchten wissen, wie schnell sie wiederhergestellt sein werden.

„Diese Tatkraft passt nicht zum klassischen Burnoutpatienten“, sagt Schiele. Dieser sei extrem erschöpft und habe nicht selten eine ausgeprägte Abneigung gegen seine Arbeit entwickelt, bis hin zum Zynismus.

Nicht so diese Patientinnen, zum Beispiel Frau W. Die 42-jährige Mutter von drei Kindern sprach Schiele gegenüber von Blackouts und psychosomatischen Beschwerden, weshalb sie sich für einen Aufenthalt in der Klinik entschieden habe. Doch sie erzählte auch, dass ihr Ziel sei, wieder auf vierzig Stunden aufzustocken, sobald die Kinder etwas größer seien. Und dass sie in vier Wochen gerne wieder fit für den Beruf sein möchte. Als sei die Klinik eine Art Reparaturservice für die geschaffte Psyche.

Freudlosigkeit und Sinnfragen

Schiele und sein Kollege Bert te Wildt schufen für den Zustand dieser innerlich ausgelaugten Patienten, die jedoch immer weiter funktionieren, den Begriff Burn on. „Während das Burnout eine akute Erschöpfungskrise beschreibt, steht das Burn on für einen chronischen Erschöpfungszustand“, erklärt Schiele.

Erst wenn der Psychologe genauer nachfragt, wird das Ausmaß der Erschöpfung bei Patientinnen wie Frau W. greifbar. Dann hört Schiele von innerer Leere, Freudlosigkeit und Sinnfragen. Von Schmerzen und Beschwerden. Die berufstätige Mutter litt seit Monaten an heftigen Migräneattacken und hatte eine schmerzhafte Gürtelrose entwickelt, beides sind Leiden, die durch eine hohe innere Anspannung wahrscheinlicher auftreten.

Die Verhaltenstherapeutin, mit der sie seit einigen Monaten arbeitete, um ihren Stresspegel in den Griff zu bekommen, hatte Frau W. nun diesen Aufenthalt in der Klinik nahegelegt. Sie sah sich außerstande, der Frau nachhaltig zu helfen.

Glänzende Oberfläche, aber innere Zerissenheit

Häufig wirkten die Betroffenen selbst ein wenig erstaunt über ihren Zustand, sagt Timo Schiele. Sie denken oft lange Zeit, die Schweißausbrüche oder Blackouts hätten eine körperliche Ursache. Sie wundern sich, warum sie nicht mehr schlafen und nichts mehr so richtig Freude macht. Denn eigentlich ist doch alles in Ordnung in ihrem Leben: guter Job, ausreichender Verdienst, funktionierende Familie… „In die Klinik kommen diese Menschen, weil sie spüren, dass es so nicht weitergehen kann, aber auch nicht wissen, was falsch läuft“, meint Schiele.

Das Umfeld merkt von dieser inneren Not oft wenig. Denn nach außen funktionieren die Menschen über lange Zeit hinweg perfekt. Die Müdigkeit wird weggeschminkt. Die Unlust verdrängt. Die Überforderung ignoriert. Die Oberfläche glänzt, doch darunter splittert es.

„Innerlich fühlen sie sich wie Hochstapler“, sagt der Psychologe. Schließlich wissen sie ja selbst genau, dass sie das Meeting nur noch durchstehen und nicht mehr wirklich leiten. Sie sehen, dass sie immer weniger produktiv werden und ständig etwas vergessen. Sie spüren, dass sie nicht mit dem Herzen dabei sind, wenn sie mit dem Partner, der Partnerin oder ihren Kindern sprechen. Und viele stellen fest, dass sie eigentlich schon seit Jahren in diesem Zustand leben.

Doch wären da nicht diese Beschwerden, die man nicht mehr leugnen kann – man würde ewig so weitermachen. „Ich dachte wirklich immer, Vereinbarkeit sei einfach eine Frage guter Organisation“, erzählt die 42-jährige Mutter. Dass sie Tag für Tag wie eine Maschine funktionieren musste, um die reibungslosen Abläufe zu garantieren, empfand sie als normal. „Ich dachte, das machen alle so.“

Der Unterschied zum Burnout

Das Burn on, das Schiele und te Wildt erstmals vergangenes Jahr in dem populären Sachbuch Burn On. Immer kurz vorm Burn Out beschrieben haben, ist keine offizielle Diagnose. Sie riefen damit in Fachkreisen auch keine besondere Resonanz hervor. Und dennoch ist ihr Beitrag wertvoll, da er einen ungesunden Zustand beschreibt, in dem manche Menschen über Jahre verharren.

Man könnte ihn auch als eine Variante des klassischen Burnouts beschreiben: Die Ursache der beiden Syndrome ist dieselbe und die Abgrenzung nicht ganz klar vorzunehmen, doch ein wesentlicher Unterschied ist, dass es beim Burn on nicht zum totalen Zusammenbruch kommt.

Schiele und te Wildt setzen sich dafür ein, dass solche Beschwerden ernster genommen und von Psychologie und Medizin differenzierter betrachtet werden. Dabei ist selbst das traditionelle Burnout inzwischen zwar bekannt, aber nicht als Krankheit anerkannt. Dass die betroffenen Menschen leiden, mag keiner bezweifeln. Aber Fachgremien wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde stufen die stressbedingte Erschöpfung als „Risikozustand“ ein, der in handfeste Erkrankungen münden kann – wie Depressionen, Angst- oder Schlafstörungen –, aber eben nicht muss.

Drei Hauptsymptome

Ärzte orientieren sich bei ihren Diagnosen am ICD-11, dem neuen, seit Januar gültigen Manual der Weltgesundheitsorganisation. Burnout wird dort unter dem Kürzel QD85 aufgelistet. Demnach sind drei Symptome typisch: emotionale Erschöpfung, Distanzierung bis hin zum Zynismus gegenüber der Arbeit sowie eine empfundene Ineffektivität.

„Seelische Erschöpfung ist ein Prozess, der sich über viele Jahre hinzieht“, erklärt der Psychiater Hans-Peter Unger, wenn er über Burnoutpatientinnen spricht. Er leitet das Zentrum für Seelische Gesundheit am Asklepios-Klinikum Harburg und hat vor Jahren eine achtsamkeitsbasierte Therapie für sie entwickelt.

Wenn es zum Zusammenbruch kommt

Die meisten seiner Patienten erleben einen veritablen psychischen Zusammenbruch. Sie wachen eines Morgens auf und fühlen sich sogar zu schwach, um zur Toilette zu gehen, oder erleben eine Art Weinkrampf, den sie nicht mehr stoppen können. Manche entwickeln so starke Ängste, dass sie nicht mehr aus dem Haus gehen, Auto oder U-Bahn fahren können.

Andere erleiden einen Hörsturz mit schwerem Tinnitus oder einen Bandscheibenvorfall, der ihren hochtourigen Alltag mit einer Vollbremsung zum Stillstand bringt. „Häufig wird den Menschen erst im Rahmen der Behandlung bewusst, dass ihre Erkrankungen die Folge der Dauerstress­belastung in ihrem Leben sind“, erklärt Unger.

Dabei ist dem Psychiater und Psychotherapeuten wichtig, zu betonen, dass dauerhafter Stress etwas völlig anderes ist als der akute Stress, den wir empfinden, wenn wir spät dran sind und den Zug noch erwischen wollen. Beim akuten Stress führt die Stressreaktion schlicht dazu, dass wir Energien mobilisieren, die uns helfen, zügig zum Bahnsteig zu hasten.

Das Problem für Psyche und Körper ist der dauerhafte Stress. Und dieser entsteht, wenn wir Tag für Tag durch unseren Alltag hetzen und uns permanent überfordern – wenn Pausen und Auszeiten aus unserem Leben verschwinden.

Die Erschöpfungsspirale

Gerade hat die Techniker-Krankenkasse (TK) in einer Umfrage herausgefunden, dass sich mehr als ein Viertel der Deutschen häufig gestresst fühlt. Als Stressor Nummer eins nennen die Befragten den Job. Aber schon an zweiter Stelle steht der hohe Anspruch an sich selbst.

Der Anteil der häufig Gestressten sei seit der letzten Befragung im Jahr 2013 um 30 Prozent gestiegen, so die TK. Ein Teil der Mehrbelastung sei der Coronakrise geschuldet, aber die Tendenz halte schon länger an. Auch steige die Zahl der Krankheitstage aufgrund psychischer Probleme seit Jahren. Die Hauptdiagnosen: Depressionen und Ängste, vielfach getriggert durch zu viel Stress.

Psychiater Hans-Peter Unger zeigt seinen Burnoutpatientinnen gerne anhand einer anschaulichen Beschreibung, wie der Dauerstress die Psyche langsam, aber kontinuierlich aushöhlt: Er spricht von der Erschöpfungsspirale. Demnach entwickelt sich die seelische Entkräftung grob in drei Stufen. Nach einigen Wochen im Dauerstress können Kopf- und Schulterschmerzen, Schlafprobleme und das Gefühl von Energielosigkeit auftreten.

Auf physiologischer Ebene sind dafür Stresshormone verantwortlich: Der Kortisolspiegel steigt unter Dauerstress an und verliert seine 24-Stunden-Rhythmik. Schlafprobleme stellen sich oft als Erstes ein. Abschalten gelingt nicht mehr. Schmerzen aller Art konnen auftreten, denn im Stress sind die Muskeln dauerhaft angespannt. Das Gefühl von Energieverlust macht sich breit, eine Folge der Schlafstörungen und der Daueranspannung.

Die Energielosigkeit kompensieren

Die wissenschaftliche Grundlage der Erschöpfungsspirale entwickelte die schwedische Psychiaterin Marie Åsberg vom Karolinska-Institut in Stockholm bereits in den 1990er Jahren. Åsberg und ihr Team befragten Menschen, die ein Burnout erlitten hatten, welche Frühwarnzeichen sie rückblickend ausmachen konnten. Die Ärztin fand heraus, dass die Patientinnen und Patienten diese Warnsignale in ihrer damaligen Situation nicht hatten richtig deuten können. Im Gegenteil: Sie waren eher verärgert über die Schlafprobleme oder ihre Energielosigkeit und versuchten, die vermeintliche Schwäche mit noch mehr Arbeit zu kompensieren.

Dadurch setzten sie unbewusst eine Art Teufelskreis in Gang, der sie immer tiefer in die Erschöpfung brachte. „Die Betroffenen fangen auf der zweiten Stufe der Erschöpfungsspirale an, ihre Freizeitaktivitäten immer mehr einzuschränken“, erklärt Unger. Die sozialen Kontakte werden reduziert, Familie und Partnerschaft müssen hintanstehen.

Die Arbeit dehnt sich dagegen immer weiter aus. Nicht selten nehmen Beschäftigte dann Akten und Aufgaben mit in den Abend, das Wochenende oder den Urlaub, um sie endlich „in Ruhe“ zu erledigen. Um die Energielosigkeit zu kompensieren, fangen sie an, Überstunden zu machen. „Dauerstress führt dazu, dass der Blick sich immer stärker auf das vermeintliche Problem verengt“, erläutert Unger. Die Fähigkeit, sinnvolle Prioritäten zu setzen, verschwinde dagegen.

Immer unter Anspannung

Unter Stress sei das Frontalhirn, in dem die Areale sitzen, die für das wohlabgewogene Handeln zuständig sind, in seiner Funktion eingeschränkt, erklärt Unger. Stattdessen seien Zentren im Gehirn aktiver, die Angst und Gefahr signalisieren. Und im Stress greifen wir auf eingespielte Denk- und Handlungsmuster zurück.

In Gefahrensituationen ist es ja durchaus angebracht, nicht zu lange über neue Lösungen nachzusinnen, im schlimmsten Fall könnte dies schließlich dazu führen, dass man zu spät reagiert. Man handle also schnell und in gewohnter Weise. Beim berufsbedingten Dauerstress könne dies jedoch fatal sein. „In unserer Leistungsgesellschaft ist die gewohnte Handlung, noch mehr zu leisten“, so Unger.

Und so sind die Gestressten fest davon überzeugt, dass nur noch mehr Leistung sie aus der Misere befreien kann. Die Idee, einen Teil der Arbeit zu delegieren, mit der Chefin Rücksprache über neue Prioritäten zu halten oder schlicht zuzugeben, dass man es nicht schafft – all das ist im Stress kaum möglich. Dafür bräuchten wir unser wohlabwägendes Frontalhirn. Doch das steht uns ab einem gewissen Stress­pegel nicht mehr zur Verfügung. „Gestresste haben immer das Gefühl, dass sie noch eben dies und das und jenes erledigen müssten, bevor sie sich entspannen können“, erklärt Unger.

Spagat zwischen Funktionieren und Zusammenbruch

Nicht selten arbeiten sie sich mit dieser Haltung immer tiefer in die mentale und körperliche Erschöpfung hinein. So lange, bis gar nichts mehr geht. Das sich immer schneller drehende Hamsterrad kommt erst zum Stehen, wenn eine Depression, Ängste oder körperliche Erkrankungen es stoppen. Rückblickend erkennen auch Ungers Patienten all diese Warnzeichen. Doch ebenso wie die schwedischen Beschäftigten, die Marie Åsberg befragt hatte, konnten sie sie in der Krise nicht deuten.

Die Burn-on-Patientinnen, von denen der Psychologe Timo Schiele spricht, sind noch nicht ganz so weit. Sie scheinen Menschen zu sein, die sich mit enormem Kraftaufwand in einem Zustand zwischen Funktionieren und Zusammenbruch halten – oft über Jahre hinweg. „Sie verharren in einem Spagat zwischen zwei Polen“, meint Schiele.

Auf der einen Seite stehe die Arbeit oder Tätigkeit, für die man jede Energiereserve mobilisiere, um immer weiter zu funktionieren. „Nicht selten herrscht an diesem Pol regelrechter Aktionismus“, sagt Schiele. Die berufstätige Mutter am Anfang des Textes versorgte auch in der Woche, bevor sie in die Klinik ging, drei kleine Kinder, ging zur Arbeit, führte den Haushalt und machte den Wocheneinkauf. Doch abgesehen von dieser Pflichterfüllung lief schon lange gar nichts mehr. „Am anderen Pol des Lebens herrscht eine Art komplette Lähmung“, beschreibt es Schiele.

Alles, was nicht durch eine Deadline oder Leistungsvorgabe terminiert ist, wird nicht mehr wahrgenommen. „Das führt dazu, dass viele Lebensbereiche aufgeschoben werden“, sagt Schiele. Persönliche Träume, Hobbys, Zeit als Paar – all das findet nicht statt. Auch der nachträgliche Geburtstagsbesuch der Freundin oder der Ausflug mit dem Kind wird ständig vertagt. Wie beim Blick durch eine Lupe ist alles auf einen Punkt fokussiert (und damit auch geschrumpft): die Pflichten. Sogar die Strecke zwischen Firma und U-Bahn habe sie über Jahre rennend überwunden, erzählt die 42-Jährige. Um Zeit zu sparen.

Gefährliche Einstellungen

Aber was hält die Betroffenen in dieser ungesunden Lage fest? „Viele Patienten berichten, dass sie es einfach nicht anders kennen“, erzählt Schiele. Schon im Elternhaus hätten sie gelernt, dass Arbeit immer vorgeht. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ ist ein weitverbreitetes Sprichwort, ebenso „Ohne Fleiß kein Preis“. Manche Menschen haben solche Sätze offensichtlich zu ihrem Lebensmotto erhoben, unter das sie alles andere unterordnen.

Doch in der heutigen entgrenzten Welt werden solche Überzeugungen gefährlich: „Im modernen Arbeitssetting ist die Arbeit nie fertig und es gibt immer noch etwas zu tun“, weiß Johannes Wendsche, Psychologe mit dem Schwerpunkt Erholungsforschung an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dresden. Und wenn es nicht die Lohnarbeit ist, dann rufen die Familienpflichten. Wer mit der Pause oder dem Vergnügen wartet, bis alle Aufgaben erledigt sind, muss lange warten.

Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin berichtet im Stressreport Deutschland, dass ein Viertel der Beschäftigten häufig sogar die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen im Joballtag auslässt. Insbesondere weibliche Führungskräfte, rund 40 Prozent von ihnen, verzichten dem Bericht zufolge auf Pausen. Im Hinblick auf die Branchen sind es vor allem Beschäftigte in Gesundheits- und Sozialberufen sowie im Sicherheitsservice, die häufig auf die kleinen Auszeiten verzichten. Die häufigsten Begründungen dafür waren: „Passt nicht in den Arbeitsablauf“ und „Zu viel Arbeit“.

"Maskierte Pausen"

Die kleine Pause mag auf den ersten Blick nicht der wichtigste Dreh- und Angelpunkt für psychische Balance sein. Doch Wendsche meint: „Pausen sind unverzichtbar.“ In ihnen verarbeiten wir Erfahrungen und Emotionen aus der Leistungsphase. Im Idealfall entspannen wir uns sowohl körperlich als auch geistig. Wir tanken Energie, unter anderem in Form von Nahrung oder Getränken. Fenster aufmachen, die Augen im Fernblick entspannen, ein paar Mal tief durchatmen – das ist solch eine echte Pause.

Wie sehr unser Organismus diese Auszeiten braucht, zeigt sich darin, dass Beschäftigte, die echte Pausen ausfallen lassen, häufig „maskierte Pausen“ machen: Sie surfen zwischendurch im Internet, gucken bei Instagram oder checken die Nachrichten in Onlineportalen. Ablenkung ist dies durchaus, aber keine wirklich erholsame Pause. „Wer echte Pausen macht, arbeitet am Tag zwar im Mittel zehn Prozent kürzer, schafft aber circa fünf Prozent mehr Aufgaben und bearbeitet diese häufiger fehlerfrei“, fasst Psychologe Wendsche das Ergebnis seiner Übersichtsarbeit zusammen.

Dazu kommt: Wenn der Stress am Tag zu hoch ist, können wir abends schlechter abschalten. Dadurch erholen wir uns weniger von den Anstrengungen des Tages. Sabine Sonnentag, die den Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Mannheim leitet, zeigte diesen Zusammenhang gemeinsam mit der Psychologin Charlotte Fritz in mehreren Studien. Erholung tritt erst ein, wenn wir die Arbeit auch gedanklich loslassen. Detachment, Ablösung nennen Psychologinnen diesen Vorgang.

Der "Jobknopf"

Man macht nicht nur die Tür von Büro oder Werkhalle hinter sich zu, sondern lässt auch die Gedanken an die Arbeit los. Menschen, denen Detachment gut gelingt, zeigen seltener Ermüdungs- und Erschöpfungssymptome als solche, die über mangelndes Detachment klagen. „Insofern ist das Maß, in dem es Beschäftigten gelingt abzuschalten, ein guter Frühindikator, um eine drohende Erschöpfung vorherzusagen“, konstatiert Johannes Wendsche.

Fast jeder kennt Menschen, die einen eingebauten Schalter zu haben scheinen, mit dem sie vom „Jobkopf“ ins Freizeitgefühl switchen. Und jeder kennt andere, die auch samstagabends beim Joggen noch berufliche Probleme lösen. „Ob das Abschalten gelingt, ist zu 50 Prozent von Personenmerkmalen abhängig, zu 50 Prozent von der Arbeitsgestaltung“, sagt Wendsche. Wer zum Grübeln und zu übersteigerter Einsatzbereitschaft im Beruf neigt, schaltet schwerer ab. Doch genauso können manche Arbeitsbedingungen wie Zeitdruck und hohe emotionale Anforderungen dafür sorgen, dass unsere Gedanken ständig weiter um den Job kreisen (siehe den Kasten unten).

Frau W. hat beispielsweise schon immer viel gearbeitet. In jungen Jahren machte sie eine steile Karriere in der Marketingabteilung eines Konzerns: „Für mich war ein Vollzeitjob mit vierzig und mehr Stunden das einzig Denkbare.“ Auch mit zwei Kindern. Doch in der dritten Schwangerschaft wurde sie ernsthaft krank und entschied sich dann doch, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Ihren Verantwortungsbereich reduzierte sie allerdings nicht.

Die Leistungslogik durchbrechen

Stattdessen versuchte sie, einfach noch effizienter zu sein, um die Projekte in gewohnter Qualität am Laufen zu halten. Dass sie sich dafür meist abends noch mal an den Schreibtisch setzte, am Wochenende arbeitete und Freizeitaktivität nach und nach aus ihrem Leben strich, konnte sie sehen.

Aber sie nahm es hin wie das Wetter – als unveränderliche Gegebenheit. Dass sie immer kränker wurde, störte sie einfach nur. „Etwas im Job zu verändern oder gar auszusteigen kam mir gar nicht in den Sinn.“ Der Wunsch zu funktionieren war für Frau W. wie eine Art zweite Haut, die so eng anliegt, dass man sie weder bemerkt noch ablegen kann.

„Vielen kann es nicht schnell genug gehen“, sagt Eva-Maria Röhreke, Achtsamkeitstrainerin und spezialisiert auf die Arbeit mit Menschen, die ein Burnout erlitten haben oder kurz davorstehen. „Sie möchten gern so viele Therapie­einheiten am Tag wie möglich und fragen nach den besten Tipps, die ihnen helfen könnten“, erzählt Röhreke und fügt hinzu: „Wenn man ihnen jedoch Tipps gibt, macht man sich zum Teil des Problems.“

Denn der Wunsch nach schneller Genesung folgt der gleichen Leistungslogik wie alles andere im Leben der Betroffenen. „Die Tipps würden vielleicht kurzzeitig entlasten, aber langfristig helfen sie nicht“, weiß die Achtsamkeitstrainerin. Langfristig führt nur eine Haltung aus der Erschöpfung, die das persönliche Wohlergehen als wichtig anerkennt.

Scham als Reaktion auf den gefühlten Kontrollverlust

„Menschen, die sich in die Erschöpfung arbeiten, fühlen sich nicht gut – und sie fühlen nicht gut“, sagt Helen Heinemann, die seit vielen Jahren Präventionskurse für burnoutgefährdete Menschen leitet. „Sie sind mit ihrer Wahrnehmung ständig im Außen“, erklärt die Sozialpädagogin. Der Blick ist fokussiert auf all die Dinge, die zu tun sind: Die Mail muss noch raus; der Chef wartet auf den Report; für morgen fehlt noch ein Geburtstagsgeschenk.

Die Anforderungen im Außen zu erfüllen ist das Maß des gelungenen Tages. Und wenn man das nicht schafft? „Dann setzt die Scham ein“, so Heinemann. Man schämt sich, dass die Haare der Kinder zu lang sind, weil man es nicht geschafft hat, mit ihnen zum Friseur zu gehen. Man schämt sich, wenn wichtige E-Mails liegenbleiben. Man schämt sich, dass man es nicht schafft, zum Sport zu gehen, und sich abends mit Schokolade tröstet. Man schämt sich, weil man die Kinder anbrüllt.

„Scham ist die Antwort auf den gefühlten Kontrollverlust.“ Und Scham führt auch dazu, dass die Erschöpfung häufig lange Zeit vertuscht und verschwiegen wird. Oft suchen Betroffene erst Hilfe, wenn die Aussetzer so heftig werden, dass sie sie nicht mehr verbergen können.

Mit Selbstbestimmung zur Genesung

Doch wie erlange ich die Kontrolle über mein Leben zurück? Indem ich wieder zur „Bestimmerin“ werde, wie Helen Heinemann es nennt. Sie beschreibt das so: „Ich selbst entscheide, was ich richtig finde – und lasse mir nicht länger vom Arbeitgeber, der Gesellschaft oder den Nachbarinnen einen unerreichbaren Maßstab vorsetzen.“

Das setzt jedoch voraus, dass ich mich selbst wieder spüre, Gefühle und Wünsche zulasse, mir bewusstmache, was mir wirklich wichtig ist und was mich sonst noch alles ausmacht – abgesehen von meinem Job und meinen Pflichten. „Ich bin ein vielfältiger Mensch und viel mehr als nur die ehrgeizige Berufstätige“, benennt Frau W. eine zentrale Erkenntnis ihrer Therapiewochen. „Das habe ich vorher ignoriert.“

Die persönlichen Werte können deshalb eine wichtige Rolle bei der Genesung spielen. In der Klinik Kloster Dießen wird die Akzeptanz- und Commitmenttherapie eingesetzt. Ganz zentral ist dabei einerseits, dass man unveränderliche Aspekte seiner Situation akzeptiert, andererseits, dass man sich über die eigenen Werte Klarheit verschafft – und sich selbst dazu verpflichtet, diese in seinem Alltag stimmig zu leben. Denn wertorientiertes Handeln stifte Sinnerleben, sagt Timo Schiele.

Erkennen, was wichtig ist

„Wenn die Menschen an einen Punkt kommen, an dem sie sich damit konfrontieren, was sie sich antun, verändert sich etwas“, beobachtet der Psychologe. Manche lassen diesen Gedanken in einer therapeutischen Sitzung an sich heran, andere trifft die Erkenntnis beim Spazierengehen im Park wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Für Frau W. öffnete sich das Tor in der Kunsttherapie. Als sie Farben intuitiv auf die Leinwand kleckste, sortierten sie sich wie von selbst zu einer Art Gruppe. Sie sah darin ihre Familie. Unter Tränen spürte sie, wie wichtig ihr diese ist. Und wie wenig sich dies in ihrem Alltag spiegelte.

Für Frau W. wurden aus den anfänglich gewünschten vier Wochen Klinikaufenthalt zehn. „Das ist ein Cut“, sagt sie. Aber sie sagt auch: „Ich stehe ganz am Anfang, wenn ich an die Umsetzung denke.“ Nach Hause hat sie die Erkenntnis mitgenommen, dass sie ein vielfältiger Mensch ist – und es keinen Sinn ergibt, sich ausschließlich über die Leistung im Beruf zu definieren. Sie hat sich auch vorgenommen, ihre Emotionen zu akzeptieren.

Offener Umgang mit Gefühlen

Seit ihrer Kindheit hatte sie geglaubt, dass es im Leben vor allem auf die Sachebene ankomme. „Im engeren Familienkreis traue ich mich inzwischen, offen darüber zu sprechen, wenn ich verärgert bin oder traurig“, erzählt sie. Und sie sei erstaunt, welch lebhafte und intensive Gespräche sich aus dieser neuen Offenheit entwickelt haben.

Außerdem begleitet sie seit der Klinik eine Frage: „Stimmt das wirklich?“ Immer wenn Frau W. eine Überzeugung erkennt, die sie unter Druck setzt, fragt sie sich: „Stimmt es wirklich, dass ich nur ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft bin, wenn ich Vollzeit arbeite?“ Oder: „Stimmt es wirklich, dass es nur eine Frage der Organisation ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, und wer das nicht schafft, ist selbst schuld?“ Sie freut sich über die Freiheit, die ihr jedes neu entdeckte Nein schenkt.

Protokoll eines Erschöpften

Ein 32-jähriger Familienvater erzählt von seinem Burn on und wie er lernte, auf seine Gesundheit zu achten

Ich saß beim Hausarzt, weil ich seit Wochen nicht gut schlafen konnte und mein Kopf ständig schmerzte. Der Arzt untersuchte mich, stellte ein paar Fragen und sagte: ‚Sie sind nicht krank. Sie haben zu viel Stress. Wenn Sie so weitermachen, laufen Sie geradewegs in ein Burnout.‘ Er wollte mich für vier Wochen krankschreiben. Ich begriff, dass er recht hatte, doch sagte: ‚Nein. Das geht nicht!‘ Ich wollte auf keinen Fall im Job ausfallen. Nicht jetzt.

Meine Arbeit ist immer fordernd, ich mag das. Doch normalerweise ist es so, dass man umso härter priorisiert, je stressiger es wird. Das war bei diesem Projekt nicht möglich. Es gab ständig mehrere Themen der gleichen Wichtigkeit. Unser Team war objektiv zu klein, aber Aufgeben keine Option. Schließlich gibt es niemanden, der mal eben so in ein Großprojekt einspringen kann.

Ich habe also auch die nächsten Monate weitergemacht, mit Kopfschmerzen und dieser Erschöpfung. Ich mochte mich selbst nicht mehr leiden. Ich hatte einige Kilo zugenommen. Für Sport hatte ich keine Energie mehr. Ich schlief weiter schlecht, nahm Schmerzmittel. Meine Partnerin war besorgt und auch ein enger Freund. Doch ich dachte nur daran, dass es irgendwann wieder vorbei sein würde.

Stopp!

Heute, mit etwas Abstand, kann ich mich kaum mehr selbst verstehen. Es ist mir sogar peinlich. Da stehen Menschen an deiner Seite und sagen: ‚Stopp! Du musst aufhören.‘ Meine Partnerin, mein Freund, mein Hausarzt. Und man stößt die helfenden Hände weg.

Zwischendurch haben wir ein paar Tage Urlaub gemacht. Die Auszeit war schön. Aber sobald ich wieder in der Firma war, war die Erholung verpufft. Da merkte ich, dass etwas nicht stimmt. Zum Glück bin ich in den sozialen Medien über einen Burnoutpräventionskurs meiner Krankenkasse gestolpert.

Das habe ich als Zeichen gesehen, aus meiner eigenen Tasche hätte ich mir so etwas nie geleistet. In den fünf Tagen des Seminars hatte ich das Gefühl, ich komme an einen Kern. Es ging um Selbstliebe. Ein Wort, das ich früher nicht verwendet hätte. Aber ich habe verstanden, dass ich nein sagen muss, wenn ich weiß, dass es mir schlechtgehen wird, wenn ich dies oder jenes auch noch übernehme. Ich muss für mich einstehen.

Wieder schlafen können

Nach dem Kurs habe ich zum Beispiel gesagt, dass ich im Homeoffice auch in der Kernzeit manchmal nicht erreichbar bin. Ich möchte meinen Sohn zum Sport begleiten können. Dafür fange ich dann früher an oder arbeite abends länger. Meine Arbeitszeit halte ich ein – aber nicht das starre Korsett, das die Firma uns vorschreibt. Das klingt nicht so groß, aber für mich ist es ein riesiger Schritt. Ich fahre auch wieder Rad. Und zwar nicht so wie früher als eine Art persönlicher Luxus, wenn ich mal Zeit habe. Sondern als feste Verabredung mit mir selbst.

Natürlich sehe ich meinen Anteil. Man hört ja oft, dass man es mit 80 Prozent der Anstrengung gut sein lassen sollte. Ich kann damit nichts anfangen, ich kann doch nicht wider besseres Wissen Arbeitsschritte auslassen. Aber ich sehe auch, wo ich es übertreibe. Ich habe zum Beispiel immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich krank bin. Da setze ich mich selbst unter Druck.

Ein Arbeitgeberwechsel? Alle Unternehmen in meiner Branche haben die gleichen Probleme und inhaltlich finde ich meinen Job rasend interessant und sinnvoll.

Ich habe mein Projekt durchgezogen. Ich kann wieder schlafen. Ich denke, es war pures Glück, dass ich keine Depression entwickelt habe. Wie es beim nächsten Mal sein wird? Ich hoffe, ich ziehe die Notbremse. Aber ich weiß es nicht.

Was Stress befördert, was ihn senkt

Unfertige Aufgaben Überlappen sich Projekte, kann man viele Aufgaben nicht zu einem befriedigenden Abschluss bringen und sie bleiben im Kopf. Die Erholungsfähigkeit sinkt. Trick: Aufgaben in kleine Schritte zu teilen kann dem Gefühl entgegenwirken. Wenn möglich: Die Vielfalt der Aufgaben reduzieren.

Negative Emotionen Emotional fordernde Berufe oder Konflikte im Job können es schwermachen, abends abzuschalten. Hier hilft eine Kultur, in der Konflikte gut geklärt werden und Beschäftigte sich sozial unterstützt fühlen.

Zeitliche Uberforderung Wenn der Zeitdruck zu hoch wird, machen wir zu wenig Pausen und die Zahl der unfertigen Aufgaben nimmt zu, weiß Psychologe Johannes Wendsche. Das löst Stress aus.

Geringe Handlungsspielraume Wer Aufgaben auf eigene Weise lösen kann, fühlt sich selbstwirksam; zu wenig Handlungsfreiheit treibt hingegen Stress und Burnoutrisiko nach oben.

Wertschätzungsmangel Menschen möchten, dass ihr Engagement gesehen und gewürdigt wird. Fehlt dies, fühlen sie sich gestresst. Wertschätzung drückt eine Firma aus durch Gehalt, persönliche Entwicklungsmöglichkeiten, persönliche Anerkennung, Fairness.

Marktnähe des Mitarbeitenden Managementmethoden, die Beschäftigte direkt an den Wettbewerb des Marktes anschließen, erhöhen den Stress, fand der Arbeitspsychologe Andreas Krause von der Fachhochschule Nordwestschweiz heraus. Beispiele dafür sind interne Wettbewerbe oder Ansagen wie: „Wenn die Abteilung den Gewinn nicht bringt, wird zugemacht.“

Quellen

Bert te Wildt, Timo Schiele: Burn On. Immer kurz vorm Burn Out. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft. Droemer, München 2021 

Helen Heinemann: Irgendwas muss anders werden! Neue Wege aus der Erschöpfung. Rowohlt, Hamburg 2021

Johannes Wendsche u.a.: Always on, never done? How the mind recovers after a stressful workday? German Journal of Human Resource Management, 35/2, 2021, 117–15. DOI: 10.1177/23970022211004598

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2022: Burn on