Autsch, wie furchtbar!

Awkward nennt man im Englischen unbehagliche Alltagssituationen an der Grenze zur Peinlichkeit: komisch, wenn man nicht gerade in ihnen steckt.

Die Illustration zeigt eine Figur, die sich bei etwas ertappt fühlt und schämt und dabei die Hände vor das schamrote Gesicht hält
Unangenehme Situationen können sehr unterhaltsam sein – zumindest für die anderen. © Martin Nicolausson

Die Bankangestellte aus Oldenburg ist zu einer Fachkonferenz nach Frankfurt gereist. Der Flug war nervig, und die nächsten zwei Tage wird sie von einem Vortrag zum nächsten hetzen müssen. Warum sich nicht was Gutes gönnen? Sie wirft sich also in den Hotelbademantel, fährt mit dem Aufzug hinunter in den Spabereich und öffnet die Saunatür. Dort empfängt sie ein angenehmer Eukalyptusduft – und ein älterer Kollege aus ihrer Filiale.

„Oh, hallo. Sie auch hier“, quält sie sich ab. Dann weiß sie nicht mehr, was sie…

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sie nicht mehr, was sie sagen soll, doch in ihrem Kopf rasen die Gedanken: „Wenigstens habe ich mir ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Bloß nicht auf seinen dicken Bauch schauen.“ Nach zehn langen Minuten steht sie auf und strebt Richtung Tür. „Heiß hier“, murmelt sie und merkt sogleich, wie blöd das klingt.

Jeder kennt diese Sorte von Situationen, in denen man sich sehr unbehaglich fühlt und sich am liebsten in Luft auflösen würde. Awkwardness nennt man sie im Englischen, ein Begriff, der etwas vage ist und für den es im Deutschen keine passgenaue Entsprechung gibt. Gern wird er mit Peinlichkeit übersetzt, aber das trifft die situative Spannung und soziale Fehlkopplung, die gemeint ist, nicht ganz.

Ein breites Spektrum

Joshua Clegg, Psychologe an der City University of New York, hat das Phänomen untersucht. Awkwardness, so Clegg, beschreibt eine Situation, ein Verhalten oder eine Beziehung, in der das, was passiert, von dem abweicht, was eigentlich pas­sieren sollte. Üblicherweise stehen wir nicht plötzlich halbnackt vorm Kollegen. Wenn Menschen soziale Awkwardness erleben, können sie peinlich berührt sein, erläutert Clegg, sie können sich aber auch irritiert, ängstlich oder sogar amüsiert fühlen.

Das Spektrum solcher sonderbarer Momente ist breit. Oft handelt es sich um Ruckeleien im sozialen Getriebe, die eher harmlos wirken: Man fragt „Wie geht’s?“ und der andere antwortet „Morgen“. „Wann ist es denn so weit?“, erkundigt man sich bei der Verkäuferin mit dem dicken Bauch und merkt, noch während man spricht, dass sie gar nicht schwanger ist.

Doch auch wenn sozial merkwürdige Begebenheiten nicht unbedingt schwerwiegend erscheinen, deutet die Forschung darauf hin, dass sie Menschen erheblich belasten können. Nicht nur rufen sie unangenehme körperliche und emotionale Reaktionen hervor. Sie hängen einem mitunter auch noch lange nach und beeinträchtigen die Beziehungen zu anderen. Cleggs Studien liefern zudem Hinweise darauf, dass es einen Zusammenhang zwischen Awkwardness und einem Gefühl von Entfremdung und mangelnder Zugehörigkeit geben könnte. So berichteten Menschen, die sich selbst als sozial isoliert charakterisierten und die der Psychologe nach Alltagserfahrungen fragte, häufig von Erlebnissen, die in die Kategorie sozial sonderbar und unbehaglich fielen.

Völlig im Zeitgeist

Vermutlich haben Menschen zu allen Zeiten merkwürdige Situationen erlebt. Doch momentan scheint das Phänomen im Zeitgeist besonders präsent zu sein. Dies gilt insbesondere für die USA. Fernsehshows wie The Big Bang Theory oder Curb your Enthusiasm unterhalten die Zuschauerinnen und Zuschauer mit Szenen, in denen die Figuren ständig in Fettnäpfchen stiefeln. Irgendwie scheint Awkwardness grundlegende Veränderungen in der modernen Welt einzufangen. Wir lebten in einem „Zeitalter der Awkwardness“, schreibt der Religionswissenschaftler Adam Kotsko, weil in der heutigen Gesellschaft nicht nur althergebrachte Regeln immer wirkungsschwächer würden, sondern es oft gar keine klaren Normen mehr gebe, da unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Regeln aufeinandertreffen.

Welche Situationen empfinden Menschen als sozial sonderbar? Aufschluss über die Natur merkwürdiger Situationen gab eine kleine Experimentalstudie. Dazu bat Clegg jeweils drei Personen in einen Raum, der mit drei in einem Kreis stehenden Stühlen, einem Spiegel, einem Teller mit Keksen sowie Mikrofon und Kamera ausgestattet war. In den ersten drei Minuten ließ er die drei einfach nur dort sitzen; dann kam ein vierter Teilnehmer dazu (in Wahrheit ein Mitarbeiter) und fing eine Unterhaltung an. Schließlich sollten sich die vier in Zweiergruppen unterhalten und danach die Person, mit der sie gesprochen hatten, den anderen vorstellen.

Später berichteten die insgesamt 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass sie viele Momente als unbehaglich empfunden hätten: etwa dazusitzen und nicht zu wissen, was sie tun sollten; etwas zu sagen, das ein anderer offenkundig fragwürdig oder lächerlich fand; zu bemerken, dass man sich beim Keksessen vollgekrümelt hat. Die Bandbreite von Situationen, die als sozial merkwürdig empfunden wurden, war groß, doch Clegg konnte einige kennzeichnende Merkmale identifizieren: Eine soziale Norm wird überschritten oder eine soziale Erwartung enttäuscht; man wird von anderen negativ beurteilt; man rückt ungewollt ins soziale Rampenlicht.

Unbehagliche Momente, resümiert Clegg, entstehen aus einer Inkongruenz zwischen einer Erwartung oder Norm, was passieren sollte, und dem, was tatsächlich passiert. Die Wissenschaftsjournalistin Melissa Dahl hebt noch einen weiteren Aspekt hervor. Für ihr Buch Cringeworthy setzte sie sich in einer Art Selbsttest zahlreichen sozial unbehaglichen Situationen aus; beispielsweise trat sie bei einer Liveshow auf, bei der die Gäste zum Vergnügen eines dreihundertköpfigen Publikums aus ihren Teenagertagebüchern vorlesen mussten. In Momenten wie diesen, schreibt sie, werde man gezwungen, sich von außen zu sehen, „durch die Augen von anderen, und das macht einem meistens die enttäuschende Tatsache bewusst, dass man seinem eigenen Selbstkonzept nicht gerecht wird“.

Physiologie des offenen Hosenschlitzes

Die Abweichungen von sozialen Erwartungen, die eigenartigen Situationen im Kern zugrunde liegen, seien oft nur klein, betont Psychologe und Buchautor Ty Tashiro, doch sie könnten starke emotionale und physische Reaktionen hervorrufen: „Mit offenem Hosenschlitz rumzulaufen und das eigene Tagebuch vor anderen exponiert zu sehen ist nicht im körperlichen Sinne gefährlich. Dennoch reagiert man auf solche Dinge oft heftig.“ Jeder und jede kennt das: Man ist verunsichert und verlegen, verspürt Angst oder gerät sogar in Panik. Auch körperlich geht es rund: Das Herz schlägt wild; der Blutdruck steigt; der Mund wird trocken, es ist einem vielleicht mulmig zumute oder man läuft rot an. Der emotionale und physische Aufruhr, erklärt Tashiro, diene einem Zweck: „Soziale Regeln zu oft zu übertreten, selbst wenn die einzelne Übertretung klein ist, kann zu sozialem Ausschluss führen. Die heftige Reaktion alarmiert uns.“

Auch Clegg versteht Awkwardness als eine Art soziales Frühwarnsystem. Seine Studien zeigen, dass sich in merkwürdigen Situationen die Aufmerksamkeit der Anwesenden ändert. Zum einen konzentrieren sie sich plötzlich stark auf die Gesichtsausdrücke und sonstigen Signale von anderen. Gleichzeitig nehmen sie die eigenen unangenehmen Körperreaktionen intensiv wahr. „Awkwardness zu erleben mag im Moment unangenehm sein“, erläutert der Forscher, „aber es stößt Verhalten an, das letztlich die Sozialbeziehungen verbessert.“ Wer mit seinen sarkastischen Witzen oft genug auf betretenes Schweigen stößt, wird es vermutlich irgendwann bleiben lassen.

Das Unbehagen, das man so oft verspürt, trägt also dazu bei, das soziale Zusammenleben zu schmieren. Doch man kann es übertreiben. Manche Menschen empfinden sehr viele Begebenheiten als sozial merkwürdig oder sogar hochgradig peinlich. Nach Cleggs Erfahrung sind das oft Personen, die sich ständig selbst beobachten und bewerten, die in Gesellschaft generell zurückhaltend sind oder unter Sozialängsten leiden. Einige reagieren auf merkwürdige Momente so ängstlich oder gar panisch, dass sie wie gelähmt sind. „Sie bringen kein Wort mehr raus“, so Clegg, „oder ziehen sich ganz zurück.“ Und fatalerweise meiden sie peinlichkeitsträchtige Situationen, wie den Arzt auf eine Geschlechtskrankheit anzusprechen oder eine Überschuldungsberatung in Anspruch zu nehmen.

Die Makel im Kopf

Wer bei sich feststellt, dass das Unbehagen in sozial merkwürdigen Situationen oder auch nur die Angst davor so stark ist oder so häufig auftritt, dass es das Leben merkbar beeinträchtigt, sollte sich nicht scheuen, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, raten Experten. Die Psychologin Ellen Hendriksen hat früher selbst stark unter Sozialängsten gelitten. Heute arbeitet sie in einem Zentrum für Angststörungen an der Boston University und hilft Menschen, denen es ähnlich geht wie ihr früher. In ihrem 2018 erschienenen Buch How to Be Yourself beleuchtet sie die Verquickung von Sozialangst und Peinlichkeit.

Im Zentrum sozialer Ängste stehe die Furcht, erläutert Hendriksen im Gespräch mit Psychologie Heute, dass etwas an einem, das man für unzureichend oder mangelhaft hält, von anderen bemerkt werden könnte und sie einen dann ablehnen werden. Die Makel, betont sie, existieren meist nur im Kopf der betroffenen Person oder sind so unbedeutend, dass sie von anderen gar nicht wichtig genommen werden; für einen sozial ängstlichen Menschen fühlen sie sich aber ganz real an. „Man glaubt vielleicht, dass man langweilig ist, zu wenig Persönlichkeit hat oder sich immer unverständlich ausdrückt, und das ist einem peinlich. So versucht man, diesen Mangel mit allen Mitteln vor anderen zu verbergen.“

Die Furcht vor Aufdeckung veranlasst sozial Ängstliche dazu, ihre Blickrichtung verstärkt auf sich und nach innen zu wenden. Sie beobachten sich selbst und versuchen krampfhaft, sich zu kontrollieren. Dadurch allerdings, erklärt Hendriksen, verschlimmert sich das Problem eher, denn die Art und Weise wie sie in sozialen Situationen agieren, kann darunter leiden: „Die Selbstbeobachtung und die Sorge, etwas falsch zu machen, brauchen eine Menge mentale Kapazität, was auf Kosten der Aufmerksamkeit geht. Das kann beispielsweise dazu führen, dass man auf sich selbst fixiert wirkt oder sich tollpatschig verhält, weil man so abgelenkt ist.“

Vorbeugendes Verhalten

Aber auch wer weniger extrem reagiert, mag sich manchmal wünschen, es souveräner zu bewältigen, wenn sie oder er sich bei einer Ansprache verhaspelt oder einer übergewichtigen Frau zur nicht existenten Schwangerschaft gratuliert. Das legt die Frage nahe: Wie kann man merkwürdigen Momenten die Spitze nehmen, so dass sie einen weniger aufreiben?

Eine offenbar beliebte – aber zweifelhafte – Strategie besteht darin, unbehaglichen Situationen durch genau einstudiertes Verhalten vorbeugen zu wollen. Melissa Dahl verweist auf eine Vielzahl entsprechender Empfehlungen in einschlägigen Ratgebern. Beispiel: Damit ein Gespräch bei einem Networking-Treffen oder einer Party nicht mit verlegenem Schweigen oder Stottern endet, soll man die Unterhaltung in fünf genau beschriebenen Schritten ausklingen lassen. Solche Anleitungen, argumentiert Dahl, mögen beruhigend klingen, weil sie so schön präzise sind. Das Problem dabei: Genau zu observieren und zu kontrollieren, wie man sich verhält, kann einen im entscheidenden Moment so in Anspruch nehmen, dass man die Sache erst recht vermasselt. Man hört zum Beispiel gar nicht mehr zu und überhört, dass der oder die andere etwas Wichtiges sagt, was dann mindestens genauso peinlich ist.

„Na, da haben wir es!“

Die Psychologin Ellen Hendriksen empfiehlt deshalb, die Aufmerksamkeit nach außen zu lenken. Dies gelte insbesondere für sozial ängstliche Menschen, die ohnehin dazu tendieren, zu selbstaufmerksam zu sein, aber auch für andere, die eine sozial stressige Aufgabe wie ein Jobinterview oder eine Rede bewältigen müssen. „Mein Rat: Konzentrieren Sie sich auf die Umgebung, auf das, was andere sagen, auf die Aufgabe, die zu bewältigen ist – nur nicht auf sich selbst. Wenn man die Selbstkontrolle etwas runterfährt, werden mentale Ressourcen frei und die Situation fühlt sich ungezwungener und angenehmer an.“

Auch ist es hilfreich, sich klarzumachen, dass andere gar nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen, was man selbst merkwürdig oder peinlich findet. Menschen überschätzen leicht, wie genau andere ihr Verhalten oder Äußeres beobachten. In der Psychologie nennt man dies Spotlight-Effekt. In einer Studie, die Thomas Gilovich und sein Team an der Cornell University durchführten, bemerkte nur rund ein Viertel der Freiwilligen, dass eine instruierte Person, die verspätet den Raum betrat, ein ultrapeinliches T-Shirt trug. Die Zuspätkommer selbst hatten vermutet, dass die Hälfte ihr schreckliches Outfit bemerkt haben müsste.

Vermeidungsverhalten – so tun, als ob man gar nicht verlegen ist; sich ohne weitere Kommunikation einfach aus dem Staub machen; nie wieder über ein Malheur sprechen oder Gesprächen darüber mit anderen ausweichen – verschlimmert die Sache oft noch, so eine wichtige Erkenntnis von Cleggs Studien. Paradoxerweise hält dann das unbehagliche Gefühl, das man partout vermeiden möchte, umso länger an, und auch die Beziehung zu den Menschen, die den merkwürdigen Moment miterlebt haben, kann leiden.

Die helfende Aussprache

„Manche Personen“, so der Forscher, „berichteten, sie hätten sich noch jahrelang unbehaglich gefühlt, weil sie die Situation nie direkt angesprochen hatten.“ So erging es etwa einer jungen Frau, die auf einer Party zufällig ihren Ex getroffen und dann mitbekommen hatte, wie er sich im Verlauf des Abends anderen gegenüber über sie lustig machte. Noch Jahre später war es ihr unangenehm, einen der Gäste zu treffen, weil sie immer fürchtete, die Begebenheit könnte zur Sprache kommen.

Wenn man dagegen ausspricht, dass eine Situation irritierend ist, trägt das häufig dazu bei, dass sich die Unbehaglichkeit verflüchtigt. Mit Humor gelingt das oft besonders gut. „Jene, die das, was an einem peinlichen Moment witzig war – und insbesondere das, was andere witzig fanden –, erkannten und ansprachen, waren in der Lage, die Situation schnell und schmerzlos zu entschärfen“, so Joshua Clegg.

Einer von Cleggs Befragten berichtete von einem Vorfall, dessen Zeuge er bei einem feierlichen Essen wurde: Bei der Konversation am Tisch fragte eine Frau namens Penelope einen anderen Gast, wie es denn dessen Bruder gehe – der war, wie sich herausstellte, kürzlich verstorben. Peinliches Schweigen, alle Unterhaltungen versiegten schlagartig. Da ergriff Penelopes Mann das Wort: „Na, da haben wir es. Du hast gerade für alle den Abend ruiniert.“ Daraufhin fingen alle, eingeschlossen der Mann, der gerade seinen Bruder verloren hatte, lauthals zu lachen an. Die Spannung hatte sich entladen.

Cringe: der Ogottogott-Humor

In Fernsehshows, Serien und auf YouTube wird eine neue Sorte Humor zelebriert: Cringe – eine Situationskomik, die so peinlich ist, dass sich in einem alles verkrampft

Herr Dr. Schwanebeck, schildern Sie doch bitte mal eine typische Cringe-Situation.

Was „typisch“ Cringe ist, hängt davon ab, wo Ihre Schmerzgrenze liegt. Mein Prototyp sind britische Comedyshows wie Alan Partridge und The Office – ein narzisstischer Typ mit einer mangelnder Selbstwahrnehmung redet sich um Kopf und Kragen, ohne es zu merken. Man bleibt mit der Fremdscham zurück, muss das Schämen also sozusagen in Stellvertretung übernehmen.

Was finden wir an solchen fürchterlichen Missgriffen komisch?

Das ist ziemlich paradox, weil die geschilderte Situation eigentlich ganz und gar nicht zum Lachen reizt. Selbst das spöttische Ver-Lachen, das schon Aristoteles verurteilt, erschöpft sich ja irgendwann. Ich vermute, beim richtig schmerzhaften Cringe fungiert das Lachen als trotziger Befreiungsschlag, als eine Art reinigendes Gewitter. Und damit steht Cringe für meine Begriffe der Tragödie näher als der Komödie.

Was sind die typischen Merkmale von Cringe-Humor?

Er berührt Themen der Political Correctness und steuert eher auf eine Katastrophe als auf eine Versöhnung zu. Im Gegensatz zur klassischen Sitcom, die mit dem Gelächter vom Band Gemeinschaft beschwören will, neigt er eher zu einer Vereinzelung. Und Cringe spielt häufig mit Medienformaten, er tarnt sich zum Beispiel als vermeintliche Realityshow.

Was unterscheidet Cringe von Awkwardness, wo es ja auch um ein Gefühl von Befremden geht?

Ich verstehe unter Cringe das innerliche Verkrampfen, den körperlichen Effekt, den das Ganze im Betrachter hervorruft. Awkwardness meint eher eine als unangenehm erlebte Situation, in der die Peinlichkeit ihren Schatten vorauswirft. Da man sich durch die Mund-Nase-Bedeckungen schwerer versteht, muss ich zur Zeit oft mehrfach nachfragen, wenn mir bei einem Smalltalk jemand seinen Namen nennt. Irgendwann nickt man nur noch, obwohl man den Namen auch beim dritten Mal nicht verstanden hat, und ängstigt sich dann vor der erneuten Begegnung. Das ist für mich Awkwardness.

Gibt es auch deutschsprachige Comedians mit typischem Cringe-Humor?

Oh ja, einige. Bastian Pastewka hat mit Pastewka eine Art deutsche Antwort auf Curb Your Enthusiasm geschaffen – das Maß aller Dinge im amerikanischen Cringe. Und Jerks mit Christian Ulmen funktioniert da ganz ähnlich. Ulmen war vor einigen Jahren mit Mein neuer Freund in Deutschland ein Pionier des Cringe, das hatte schon etwas von Sacha Baron Cohen. Der Sender hat die Show damals schnell wieder aus dem Programm genommen; sie war wohl mehr, als das Publikum seinerzeit verkraften konnte. Möglicherweise sind wir in Deutschland noch nicht ganz so abgehärtet wie anderswo. Andererseits hatten Cringe-Filme wie Toni Erdmann einigen Erfolg im Kino.

Was an der heutigen Zeit macht uns so empfänglich für diese Art von Witz?

Einerseits schürt die Ära der Political Correctness Angst vor verbalen Fehltritten, andererseits – und das spielt ja ineinander – wird es immer schwieriger, eine Peinlichkeit nicht mit der Weltöffentlichkeit zu teilen, weil immer irgendeine Handykamera mitschneidet.Adam Kotsko, ein amerikanischer Theologe, hat aber schon die Erosion sozialer Sicherheiten durch die kulturelle Revolution der 1960er Jahre in Ver­bindung mit Cringe gebracht. Im Film Die Reifeprüfung personifizierte das damals Dustin Hoffman, der sich dort permanent unwohl in seiner Haut fühlt und ständig peinliche Pausen erdulden muss. Aber ich halte Cringe wirklich für ein produktives Phänomen, an dem wir auch wachsen und mit dem wir lernen können, Rücksicht zu nehmen und Dinge gemeinsam zu bewältigen. Auch wenn es manchmal wehtut.

Wieland Schwanebeck unterrichtet englische Literatur und Kultur an der TU Dresden, derzeit vertritt er eine Anglistik-Juniorprofessur an der Universität Mannheim

Literatur

Melissa Dahl: Cringeworthy. A Theory of Awkwardness. Portfolio/Penguin, New York 2018

Ellen Hendriksen: How to Be Yourself. Quiet Your Inner Critic and Rise Above Social Anxiety. St. Martin’s Press, New York 2018

Ty Tashiro: Awkward. The Science of Why We’re Socially Awkward and Why That’s Awesome. Harper Collins, New York 2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2021: Raus aus alten Mustern