Morgens um halb neun in Deutschland: Noch schnell die Krümel wegwischen, den Toaster zur Seite stellen, Kabel vom Laptop einstecken. Gleich beginnt das erste Meeting. Sieht man den Wäscheständer? So oder so ähnlich ist es, wenn Beschäftigte morgens nicht mehr das Haus verlassen, um zur Arbeit zu fahren, sondern zu Hause bleiben, um zu arbeiten. Für viele Selbständige oder auch Lehrerinnen und Lehrer, die zu Hause den Unterricht vorbereiten oder Arbeiten korrigieren, ist das Homeoffice schon lange Alltag.…
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oder Arbeiten korrigieren, ist das Homeoffice schon lange Alltag. Für zahlreiche andere ist es seit Corona eine neue Erfahrung. Was ist das für ein Raum? Und wie erleben ihn die Menschen?
Historisch gesehen: ein Un-Ort der Arbeit, geradezu ihr Gegenteil. Die moderne Gesellschaft ist durch die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, die moderne Arbeitswelt durch die Abgrenzung von Arbeits- und Wohnort gekennzeichnet – eine Unterscheidung, die es in vorindustriellen Zeiten nicht gab. Mit der Entwicklung neuer Arbeitsformen und -technologie sind daraus nicht einfach unterschiedliche Orte und physische Grenzen geworden, sondern Lebensbereiche mit ganz eigenen, sich teils widersprechenden Logiken und Regeln.
Hier gilt die Devise, möglichst wenig Zeit für etwas zu brauchen, dort, möglichst viel Zeit für etwas zu haben. Hier definieren Funktionen, was zu tun ist, dort Bedürfnisse. Hier wird produziert, dort reproduziert. Und so sehen die Räume auch aus: Im privaten Heim soll es schön sein, nicht unbedingt funktional; gemütlich, nicht unbedingt effizient. Eben: privat, nicht öffentlich.
Warum denn nicht?
Mit fortschreitender Digitalisierung ist das Homeoffice aber zunehmend zum Sehnsuchtsort geworden. Sah man im 19. Jahrhundert vor allem Nachteile für die – vorwiegend weiblichen – in der „Heimarbeit“ Beschäftigten, fühlten sich zuletzt offenbar viele von den Arbeitsumständen im Unternehmen belastet. Raus aus dem Lärm, der Hektik der Großraumbüros, raus aus Stau und überfüllten Bahnen, mehr Flexibilität, nicht nur für Eltern. Das Homeoffice versprach die (Er-)Lösung. Im Schlafanzug zur Arbeit, ein power nap zwischendurch – warum denn nicht?
Doch Misstrauen und Bedenken der Arbeitgeber waren groß. Dann kam Corona und damit: das Homeoffice. Ein Traum vieler wurde wahr – und für manche gleich zum Albtraum. Nicht nur dass im Homeoffice oft die Augen brennen, Nacken und Rücken schmerzen, weil Laptop-Bildschirm und Küchentisch keine gute Kombi sind. Dass gewohnte Strukturen (und Zwänge) wegfallen, ist befreiend. Andererseits hat die Arbeit oft keinen richtigen Anfang (Schlafanzug) und kein richtiges Ende (immer noch Schlafanzug). Chefs halten einen für ständig erreichbar. Und keiner bekommt mehr mit, wie belastet man eigentlich ist.
Neue Grenzen, neue Probleme
Ist das Zuhause gleichzeitig Lebenswelt, Arbeitsraum und im Zweifel noch Bildungsanstalt für die Kinder, sind gemischte Gefühle programmiert und Konflikte unausweichlich. Ist das noch Esszimmer oder schon Arbeitsraum? Warum ist Mama zu Hause, aber nicht für einen da? Wieso telefoniert mein Mann immer so laut? Grenzen müssen definiert, ausgehandelt, durchgesetzt und auch begründet werden. Keine Kleinigkeit, wenn die Selbstverständlichkeiten von Weg- und Dasein entfallen.
Auch der Traum davon, „anders zu arbeiten“, ist in Coronazeiten schnell verpufft. Daheim ist es im Zweifel auch nicht ruhiger, und jetzt wird digital das vorher physisch erlebbare Büroleben nachgestellt – nur meist ohne die erfreulichen Seiten wie etwa zufällige Begegnungen und nicht weniger anstrengend. Ein Meeting nach dem anderen, zwischendurch Chatnachrichten, Technikstress: Wo ist der Link? Schwaches WLAN. Das Umstellen hat wieder nicht funktioniert!
Laut Studien ist der Abstimmungsbedarf tatsächlich höher, wenn man sich physisch nicht nahe ist. Signale, die wir teils unbewusst aufnehmen, wenn wir in einem Raum sitzen, müssen anderweitig kommuniziert werden; manches geht ganz verloren. Auch Effizienz, Aufgaben abzugeben fällt uns offenbar leichter, wenn wir sehen können, was die anderen tun. Videomeetings imitieren reale Begegnungen nur im Ansatz und ermüden uns schnell.
Wie kann Arbeit im Homeoffice funktionieren?
Viele Forscherinnen und Forscher beschäftigen sich aktuell mit diesen Herausforderungen. Was brauchen wir, um zu Hause gut arbeiten zu können? Wie muss Arbeit dafür gestaltet sein? Und andererseits: Welche Vorteile sehen Menschen im Homeoffice? Was können Unternehmen daraus lernen? Viele Beschäftigte wollen (oder müssen) auch nach Corona weiter zu Hause arbeiten, zumindest teilweise – und das wird einen Einfluss haben.
Homeoffice scheint, so der aktuelle Stand, dann am besten zu funktionieren, wenn man die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben zu Hause reproduziert. Wenn es also einen Raum gibt, der nur Arbeitsraum ist, eine Zeit, die nur Arbeitszeit ist, und niemand sonst da ist, der lebensweltliche Ansprüche an einen stellt. Einen Stuhl, der zum Arbeiten geeignet ist, und lieber eine Tageslichtlampe als den Leuchter vom Flohmarkt etc.
Dem Betrieb sollte klar sein, was Arbeitszeit, -pensum und -erwartungen angeht, und sicherstellen, dass auch die, die nicht im Büro sind, gleichermaßen sichtbar und eingebunden sind. Und auch die Beschäftigten müssen sich strukturieren – zeitlich, aber vor allem auch was Kontakte ins Unternehmen angeht.
Den Tagesablauf im Büro kann man zu Hause imitieren, von der Kleidung über die feste Mittagspause bis zum (virtuellen) Arbeitsweg, inklusive informeller (Video-)Chats. So werden auch Familienmitglieder oder Mitbewohnerinnen zu einer Art Kollegen. Mit ähnlich vorteilhaften Einflüssen wie im Büro, aber auch mit einem ähnlichen Ablenkungspotenzial – von dem man sich hier wie dort abgrenzen muss.
Dr. Nick Kratzer ist Soziologe und als Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München tätig. Er erforscht schon lange die Ambivalenzen „entgrenzter Arbeitsformen“ – auch am heimischen Küchentisch und mitunter mit brennenden Augen und schmerzendem Nacken
Literatur
Nick Kratzer: Zwischen Office und Homeoffice. Handelsblatt, 252, 30.12.2020/ 2.1.2021, Nr. 252, S. 52
Nick Kratzer (Hrsg.): Open Space. Besser machen. ISF München, München 2020
Gerlinde Vogl, Nick Kratzer: Zuhause – unterwegs – beim Kunden. Wenn die Arbeit viele Orte hat. In: Nick Kratzer u. a. (Hrsg.): Work-Life-Balance – eine Frage der Leistungspolitik. Springer Gabler, Wiesbaden 2015
Viktor Denninger u. a.: Von der Heimarbeit ins Homeoffice – eine Foto-Labour-Story. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2020
Steelcase:Work Better: Neustart fürs Büro. Steelcase AG, München 2021
Hans-Böckler-Stiftung: Auf einen Blick: Studien zu Homeoffice und mobiler Arbeit. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 16.2.2021
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