„Beim Meeting wird nur über Privates gesprochen“

Leere Büros, Online-Meetings, Vereinzelung: Joachim Hipp coacht Führungskräfte und spricht über Corona-bedingte Herausforderungen. ​

Die Grafik zeigt ein leeres Büro.
Working Area in Office. Wooden Tables with PC Monitors, Chairs, Copy Machine, Table with Electrical Potter and Bookcase with Folders and Large Window. Room Design. Cartoon Flat Vector Illustration © Microne // Getty Images

Verändern sich durch die Coronakrise die Themen, mit denen Menschen zu Ihnen kommen?

Isolationsgefühle spielen jetzt eine deutlich größere Rolle. Der für selbstverständlich gehaltene Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen bricht oft weg, weil man nur noch im Homeoffice arbeitet. Für viele ist es auch schwieriger geworden, den Rollenwechsel von Beruf- und Privatleben zu gestalten, wenn beide Bereiche nicht mehr räumlich voneinander getrennt sind. Mal kommt die Tochter rein und will etwas, dann der Mann, der wissen will, was er einkaufen soll. Dieses ständige Hin- und Herwechseln zwischen unterschiedlichen Rollen kostet viel Energie.

Man kann sich unsere Aufmerksamkeit vorstellen wie eine innere Bühne, wo für unterschiedliche Anforderungen unterschiedliche Schauspieler gebraucht werden. Wenn man von Aufgaben aus der privaten Welt unterbrochen wird, sind alle beruflichen Schauspielerinnen weg und müssen erst wieder eingesammelt und auf die Bühne eingeladen werden. Das kostet jedes Mal viel Energie. Das gleiche gilt natürlich auch anders herum für private Situationen. Ein Blick in die berufliche Welt und alle privaten Schauspieler sind weg. Hier brauchen Menschen gute Regeln, die ihnen helfen fokussiert zu bleiben und nicht in Stress zu geraten.

Seine Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren, ist für jede Mitarbeiterin wichtig – für Führungskräfte aber essenziell. Mit welchen Herausforderungen sehen sich Teamleiter derzeit konfrontiert?

Da viele Kolleginnen im Homeoffice arbeiten, bekommen Führungskräfte nicht mehr hautnah mit, wer wie arbeitet. Sie sehen nicht, wenn ein Team-Mitglied frustriert oder genervt zu Hause am Schreibtisch sitzt. Wir empfehlen Führungskräften, mit jedem Mitarbeiter Eins-zu-eins-Gespräche zu führen und nachzufragen, wie es läuft. Vielen von ihnen helfen auch feste Strukturen wie eine Telefonkonferenz, in der alle kurz erzählen, was sie sich für den Tag vornehmen und in der organisiert wird, wer welche Aufgabe übernehmen kann. Nicht jeder ist ja gleich gut darin, von zu Hause zu arbeiten.

Dann geht es natürlich darum, das Team auf die Teamziele fokussiert zu halten und Orientierung zu schaffen: Was sind unsere Ziele, wer ist wofür verantwortlich? Sonst macht jeder, was er denkt und am Ende passt es nicht zusammen. Das war schon immer wichtig, wird jetzt in der Coronakrise aber unumgänglich. Für die Zusammenarbeit im Team haben sich Teamspielregeln bewährt, wie man miteinander umgehen möchte, auch in der digitalen Welt. Und ein Team-Chat bietet sich beispielsweise an, um Dinge zu teilen und lebendig im Kontakt zu bleiben, damit nicht jeder in seinem Homeoffice vereinsamt.

Der fehlende Kontakt zu den Mitarbeitenden ist für viele ein Nachteil des Arbeitens zu Hause. Wie schafft man es, nicht vor seinem Rechner zu vereinzeln?

Die spontanen Treffen, auf einen Kaffee etwa, fallen weg. Dessen müssen wir uns bewusst werden. Während die sachbezogenen Gespräche zwar häufig weiterlaufen, kommen die inoffiziellen, beziehungsorientierten Kontakte nicht mehr automatisch zustande. Wir müssen das jetzt in die Hand nehmen und selbst organisieren. Ein Klient hat mir erzählt, dass er sich mehrmals pro Woche online mit seinem Team trifft. Dabei gilt die Regel, dass man nicht über fachliche Themen sprechen darf, sondern nur über Privates. Am ehesten bricht der Kontakt zu Schnittstellen ab, mit denen man nur schriftlich kommuniziert.

Auch scheinbar rein sachorientierte Kommunikation hat ja einen emotionalen Subtext – der aber in der schriftlichen Welt nicht durch Mimik und Gestik unterstützt wird. Stattdessen denkt sich jeder seinen Teil. Die schriftliche Antwort ist dann wiederum nur das Ergebnis einer Schlussfolgerung meines eigenen Denkens. Ohne face to face-Kontakt besteht die Gefahr, mehr auf seine eigenen Interessen zu schauen und die Perspektive anderer aus dem Blick zu verlieren. Man versetzt sich seltener in die Lage seines Gegenübers. So entstehen Missverständnisse und Konflikte. Wenn nicht durch persönliche Treffen oder nicht-fachliche virtuelle Kommunikation Beziehungen aufgebaut werden, verbrauchen sich emotionale Verbundenheit und Vertrauen nach und nach auf.

Sie arbeiten teilweise im direkten Kontakt, teilweise online. Ist digitales Coaching eine echte Alternative zum persönlichen Treffen?

Unter den richtigen Umständen – ja. Es kommt sehr darauf an, wie gut man sich schon kennt und an welchen Themen man arbeitet. Wenn ich mit einer Klientin schon face to face gearbeitet habe, ist mit der Verlagerung auf Online-Kommunikation leichter umzugehen. Wenn man an persönlichkeitsnahen Themen arbeitet, wird das digitale Arbeiten deutlich anspruchsvoller, weil Mimik und Gestik über den Monitor nur schwer zu lesen sind. Mir fällt aber auch ein Kollege ein, der seit einiger Zeit mit einem indischen Coachee an dessen Aufbau eines Coachingbusiness in Indien arbeitet. Sie haben sich noch nie persönlich gesehen und arbeiten dennoch sehr erfolgreich zusammen. Trotz des digitalen Kanals und kultureller Unterschiede. Auch das gibt es. Wir haben die Beobachtung gemacht, dass es manchen Menschen digital sogar leichter fällt, sich emotional zu öffnen. Vielleicht weil die Distanz über den Bildschirm ermöglicht, mehr Anonymität zu wahren, das ist vielleicht vergleichbar mit der Situation in einem Beichtstuhl. Sie erleichtert es ebenfalls, schambesetzte Themen auszudrücken.

Coaching übers Internet kann also funktionieren. Gibt es Unternehmen, die dieses Potenzial erkennen?

Ja, die gibt es durchaus. Etwa drei Viertel meiner aktuellen Coaching-Aufträge kommen von Unternehmen. Es gibt viele Anfragen zum Thema distance leadership und Teamsteuerung im virtuellen Raum. Führung ist ja durch die Arbeit im Homeoffice nicht einfacher, sondern eher anspruchsvoller geworden. Viele Menschen nutzen die Krise aber auch persönlich dazu, sich neu auszurichten und zu schauen, welche beruflichen Entwicklungen für sie möglich und sinnstiftend sind. Krisen helfen ja auch manchmal, das eigene Leben auf den Prüfstand zu stellen.

Das gilt auch im Privaten. Viele Menschen wollen schon lange die gewohnte Rollenverteilung innerhalb von Familien verändern, hat sich durch Corona etwas in diese Richtung bewegt?

Zum Teil ist sogar das Gegenteil der Fall und traditionelle Rollenbilder bestätigen sich: Viele Frauen erleben eine große Belastung, weil sie sich, neben der Arbeit von zu Hause aus, auch mehr für die Erziehungsaufgaben verantwortlich fühlen oder als zuständig dafür gesehen werden. Oder der Mann hat das Vorrecht auf das Arbeitszimmer, während die Frau aus dem Schlafzimmer arbeiten muss. Gleichzeitig entdecken aber auch viele Männer, wie schön es ist, mehr Kontakt mit den Kindern zu haben, sie im Alltag zu erleben und für sie zu sorgen. Ich bin sicher, dass das auch Auswirkungen haben wird auf die Bereitschaft, nach der Pandemie die ganze Woche im Büro oder auf Reisen zu verbringen.

So gesehen ist die Neuordnung der Rollen in Familie und Partnerschaft eine Chance, die die Coronakrise mit sich bringt. Hat die aktuelle Lage also auch positive Seiten?

Die Vorstellung, eine Krise als Chance für sich zu nutzen, ist weit verbreitet. Ich bin da immer ein wenig skeptisch. Viele haben doch auch einen gewaltigen Preis zu bezahlen, den ich ungern durch die Idee „Krise als Chance“ relativieren will. Für meine Frau und mich war die Coronakrise dennoch hilfreich, um in die digitale Welt einzutauchen und sich mit entsprechenden Tools vertraut zu machen. Als wir in den ersten Lockdown gingen, war das erstmal ein Schock für mich. Ich hatte wenig Lust auf digitales Arbeiten und habe zunächst widerwillig damit angefangen, mich mit den neuen technologischen Möglichkeiten anzufreunden und beispielsweise Coachingsitzungen, Teamworkshops und Führungstraining auch als Videokonferenzen anzubieten. Dann habe ich dabei jedoch die erstaunliche Erfahrung gemacht: Das geht. Das macht meinen Kunden sogar Spaß und bringt sie weiter.

Neue Rollen, neue Themen – und ein neuer Arbeitsplatz: Wird das Homeoffice das klassische Bürosetting obsolet machen?

Wir sehen sehr positive Effekte des Arbeitens von zu Hause: Der Krankenstand ist häufig niedriger, die Fahrzeit zum Arbeitsplatz entfällt und kann produktiver genutzt werden. Mitarbeiterinnen können ihre Arbeitszeit autonomer gestalten, können etwa zwischendurch auch mal Sport machen, und sind dadurch leistungsfähiger. Zudem ist weniger Pendeln und Reisen natürlich auch ein positiver Beitrag zum Klimaschutz. Viele vermissen es aber auch, ihre Kollegen persönlich zu treffen, sie sehnen sich nach dem „Wir“-Gefühl ihres Teams. Sie wollen wieder zurück ins Büro, aber vielleicht nur zwei statt fünf Tage pro Woche.

Kontakte spielen auch im privaten Leben eine große Rolle. Wie gehen Sie in Ihrem Familien- und Freundeskreis mit den Einschränkungen um?

Wir haben zunächst mit Videokonferenzen unsere Freunde im Netz getroffen. Das war anfangs spannend und aufregend. Heute habe ich nach sechs Stunden Online-Meetings oft keine Lust, mich auch noch für das Treffen mit Freunden vor den Bildschirm zu setzen. Mit denen treffen wir uns aktuell immer freitags im Garten. Wir sind dann um eine Feuerschale versammelt. So sorgen wir für ausreichend Luftaustausch, frieren nicht, halten die Abstandsregeln ein und können uns trotzdem sehen.

Joachim Hipp ist Psychologe, Berater und Coach für Führungskräfte, Geschäftsführer der Beratungsfirma Wengel & Hipp sowie Lehrtrainer für Coaching am Institut für systemische Beratung in Wiesloch.

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