Sehen und gesehen werden

Ein großer Raum, viele Arbeitsplätze, wenig Privatsphäre: Wie fühlen wir uns in dieser Umgebung und warum? Über die Psychologie des Großraumbüros.

Eine Grünpflanze hängt an einer Trennwand im Großraumbüro
Trotz 20 Kolleginnen und Kollegen im Großraumbüro kann effizient und gesund gearbeitet werden – durch das richtige Design. © plainpicture/Bénédicte Lassalle

Ein Schreibtisch reiht sich an den nächs­ten, alle Anwesenden sind mit einem Blick erfasst. Ein klassisches Großraum­büro ist auf einer etwa 400 Quadratmeter großen, offenen Grundfläche meist äußerst monoton strukturiert. Häufig trennen nur halbhohe Aktenschränke oder mobile Trennwände die Arbeitsplätze. Mit dem Stuhl ist man schnell zum Vordermann gerollt, um die neueste Information zu teilen. Vorbeigehende Kolleginnen grüßen, Tischnachbarn telefonieren, andere arbeiten still vor sich hin. Zwar gliedern…

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Tischnachbarn telefonieren, andere arbeiten still vor sich hin. Zwar gliedern sich oft noch ein paar wenige, meist viel zu große und karg ausgestattete Besprechungs­räume an, aber fast alle Tätigkeiten der Bürogemeinschaft finden im „Großraum“ statt.

Diverse Forschungsergebnisse sprechen nicht gerade dafür, dass Menschen, die mit mindestens 20 anderen in einem Raum arbeiten, fokussiert oder gesund bleiben können. Trotzdem wählen nicht wenige Unternehmen für ihre Angestellten diesen Arbeitsort, denn Informationen verbreiten sich hier äußerst schnell, aktuelle Neuigkeiten aus dem Unternehmen etwa oder Kennzahlen, mit denen man direkt weiterarbeiten kann. Personen, die in einem offenen Büro arbeiten, verfügen über deutlich mehr organisations- und tätigkeitsrelevante Informationen, als solche, die in Einzel- oder Doppelbüros tätig sind. Dieser Austausch ist essenziell, um eigene Ziele, die der Gruppe und jene des Unternehmens zu erreichen.

Das Auslöffeln des Suppentellers

Vertrauliche Gespräche sind allerdings nur schwer möglich, ebenso wird das Auslöffeln des Suppentellers nicht nur gesehen, sondern auch gehört und gerochen. Viele Sinneseindrücke haben in einem Großraum das Potenzial, uns auf die Nerven zu gehen, wenn sie unsere Konzentration stören. Dabei spielt auch eine Rolle, wie wohl wir uns im Kreis der Kolleginnen fühlen: Mag man sich nicht, empfinden wir beispielsweise Geräusche eher als störend. Schätzen wir einander, sind die Rückmeldungen über die Lautstärke häufig sehr positiv. Und trotzdem: Sich ungestört auf Einzelaufgaben konzentrieren zu können ist in einem großflächigen offenen Bürobereich schwieriger.

Die vielfältigen Kommunikationssituationen mit anderen finden ungeschützt statt. Wir haben Besprechungen in ganz unterschiedlichen Konstellationen: mit einzelnen Kollegen, dem Kernteam, der ganzen Abteilung, in Arbeitskreisen oder Projektgruppen, mit Kunden oder externen Partnern. Dabei kommunizieren wir virtuell, über Telefon, Messenger, Video- oder Telefonkonferenzsysteme, mal mit, mal ohne Bildschirm. Von Angesicht zu Angesicht sprechen wir in Besprechungs- oder Konferenzräumen, aber auch am Arbeitsplatz, auf dem Flur, am Drucker, an der Kaffeemaschine. Damit kommen wir am häufigsten in sehr kleinen Gruppen zusammen – und das vor allem spontan. Dieser ungerichtete Austausch verstärkt das Entstehen von neuen Ideen. Stehen dafür nicht ausreichend Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung, prallt lautes und leises Arbeiten ungehemmt aufeinander. Erleben wir dies als Dauerzustand, verkörpern die, mit denen wir das Büro teilen, nicht den gemeinsamen Erfolg, sondern die eigene Unproduktivität.

Kontrolle und Austausch

Dazu empfinden es viele Menschen als unangenehm, wenn sie potenziell uneingeschränkt sicht- oder ansprechbar sind, und erleben einen Kontrollverlust über das eigene Territorium. In innovativen Arbeitsumgebungen begegnet man diesem Kontrollbedürfnis und kurbelt gleichzeitig den flüssigen Austausch von Informationen an, indem man die Vorteile von geschlossenen Räumen und offenen Bürobereichen kombiniert. Statt nur ein Schreibtisch steht jedem Mitarbeitenden idealerweise eine Bandbreite unterschiedlicher Raum- und Flächentypen zur Verfügung, die variabel genutzt werden – Schreibtischarbeitsplätze in offenen Bereichen, Einzel- und Gruppenbüros, kleine Besprechungszimmer, multifunktionale Projekt- und Workshop­räume und dazu Lounges oder Erholungsbereiche.

Indem das Büro optimal an die Arbeitsanforderungen der Gemeinschaft angepasst und entsprechend strukturiert wird, bekommt jede Einzelne wieder Kontrolle über den Raum. Wir entscheiden selbst, wann wir Privatsphäre benötigen und wann der Austausch mit anderen wichtig und bereichernd ist. Ein häufiger Wechsel des Arbeitsortes ist dabei kein notwendiges Übel, sondern willkommen, um den Kreislauf aktiv zu halten – höchst bedeutsam für unsere langfristige physische und psychische Gesundheit sowie für die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns.

Das Teilen von gemeinsamen Infrastrukturen kann sehr gut funktionieren, wenn wir uns im Kolleginnenkreis auf eine Verhaltensetikette verständigen, zum Beispiel indem kommunikationsfreie Zeiten vereinbart werden, in denen jemand nicht angesprochen wird, oder dass Gespräche nur in bestimmten Bürobereichen stattfinden. Darüber hinaus können wir unsere Arbeit über eine Woche hinweg besser entlang unserer Anwesenheit im Büro organisieren. Fester Bestandteil der Post-Corona-Zeit wird in vielen Unternehmen das Homeoffice sein. Für viele Menschen ist das ein idealer Ort, um allein konzentriert zu arbeiten, oder für virtuelle Abstimmungen, die keine physische Präsenz benötigen. Der Motor jeder funktionierenden und lösungsstarken Arbeitsgemeinschaft ist jedoch das ungeplante und spontane Zusammentreffen, und dies geschieht am häufigsten im selben Raum.

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Stephanie Wackernagel ist Psychologin und Industriedesignerin. Sie ist als Dozentin für „New Work/innovative Arbeitsmodelle und Organisationsansätze“ an der Universität Hohenheim tätig sowie als Wissenschaftlerin am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart

Literatur zum Beitrag „Sehen und gesehen werden“ von Stephanie Wackernagel (Psychologie der Räume)

Roy F. Baumeister, John Tierney: Die Macht des Schlechten. Campus, Frankfurt 2020

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Nick Kratzer, Wolfgang Dunkel. Wie Unternehmen derzeit Büroräume gestalten: eine Trendanalyse. GfA: Dokumentation des 63. Frühjahrskongresses in Brugg-Windisch/Schweiz 2017, Beitrag C.4.5. GfA-Press, Dortmund 2017

Nick Kratzer: Open Space. Besser machen. Eine Praxisbroschüre des Projekts PRÄGEWELT – „Präventionsorientierte Gestaltung neuer Open-Space-Arbeitswelten“. Mit einem Nachwort zum betrieblichen Büro in der Corona-Krise. Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V., München 2020

Stephanie Wackernagel und Udo-Ernst Haner: Ergebnisbericht zur Studie Transformation von Arbeitswelten: Faktoren für einen erfolgreichen Wandel in Organisationen. Fraunhofer IAO, Stuttgart 2019

Stephanie Wackernagel, Christine Kohlert: Gegenseitige Vereinbarung. In: Werner Seiferlein, Christine Kohlert: Die vernetzten gesundheitsrelevanten Faktoren für Bürogebäude: Die geplante Gesundheit, 1-30. Springer, Heidelberg 2018

Lukas Windlinger Inversini u. a.: Unterstützung mobil-flexibler Arbeit durch aktivitätsorientierte Gestaltung von Büroräumen. Wirtschaftspsychologie, 16/4, 2014, 83–95.

Christina Wohlers u. a.: The Relation Between Activity-Based Work Environments and Office Workers’ Job Attitudes and Vitality. Environment and Behavior, 51/2, 2017, 167–198. DOI: 10.1177/0013916517738078

Jannique G. Z. van Uffelen u. a.: Occupational sitting and health risks: a systematic review. American Journal of Preventive Medicine, 39/4, 2010, 379–388. DOI: 10.1016/j.amepre.2010.05.024

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2021: Selbstwert wagen