Marc Frewert beginnt jeden Arbeitstag mit einer Reihe von Ritualen. Um 5.30 Uhr steht er auf, duscht, zieht die Kleidung an, die er am Abend bereitgelegt hat. Er gießt Milch in das Müsli, das ebenfalls schon bereitsteht. Dann nimmt er sich zehn Minuten Zeit für Meditation, gefolgt von ein paar Liegestützen und Situps. Um 6.15 Uhr geht er los. Er fährt mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof von Stuttgart und besteigt dort einen Zug, Abfahrt 6.56 Uhr. Eine Stunde später, um 7.53 Uhr trifft er in Ulm ein, wo der…
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Ulm ein, wo der 33-Jährige als Ingenieur angestellt ist.
Alles ist exakt geplant: Welche Kleidung zu den Terminen des Tages passt, hat Frewert am Abend überlegt. Kaffee trinkt er erst im Büro, wo er gegen 8.30 Uhr eintrifft. Das Zischen der Maschine könnte daheim die schlafende Ehefrau wecken. Damit er morgens einigermaßen ausgeschlafen ist, liegt er meist schon um 22 Uhr im Bett. Marc Frewert legt innerhalb von 24 Stunden zweimal 100 Kilometer zurück. Fürs Berufspendeln hat er sich vor fünf Jahren entschieden, als ihm eine Stelle in Ulm angeboten wurde, seine Frau aber noch in Stuttgart studierte.
Immer mehr Menschen sind lange unterwegs. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit beobachtet seit der Jahrtausendwende einen Trend zu immer längeren Arbeitswegen. Laut dem Statistischen Bundesamt hatten 2016 mehr als 45 Prozent aller Erwerbstätigen einen Arbeitsweg von mehr als zehn Kilometern. 4,5 Prozent fuhren sogar weiter als 50 Kilometer.
Keine Zeit für Familie, für Freundschaften, für Hobbys
„Bei unseren Untersuchungen stellen wir fest, dass die meisten Menschen eigentlich weit weniger pendeln wollen“, sagt der Volkswirt Peter Haller vom IAB: Ständig unterwegs zu sein finden viele Menschen nervig. In Auto oder Zug sitzend sind Pendler immer noch in der Öffentlichkeit und nicht zu Hause, wo sie die Beine hochlegen und abschalten können. Die Fahrzeit fehlt fürs Familienleben, für die Pflege von Freundschaften, für Hobbys. Wer zwölf Stunden auf Achse ist, bekommt nur noch am Wochenende mit, wie die Kinder aufwachsen. Hat womöglich kaum noch Zeit für ein geruhsames Liebesspiel oder auch dafür, mal ein paar Stunden auf der Couch abzuhängen.
Pendeln bedeutet Entbehrung und Stress. Dennoch: Viele Menschen pendeln, weil in einer anderen Stadt ein interessanter, gut bezahlter Job lockt oder weil sie Miete sparen, wenn sie aus einem Ballungsgebiet ins Umland ziehen. Dort ist es zudem meist grüner und leiser; die Luft ist sauberer.
Das Unabwendbare akzeptieren
„Ob Menschen das Pendeln als vorteilhaft empfinden, hängt davon ab, was für ein Typ sie sind und was sie aus der Situation machen“, sagt der Psychologe Valentin Nowotny, der in Berlin als Berater und Coach tätig ist: Während sich die eine im Zug mit Computerspielen die Zeit vertreibt, lernt der andere unterwegs eine neue Sprache oder freundet sich mit Kollegen an, die denselben Weg haben. „Das Unabwendbare akzeptieren und das Beste daraus machen“ – das ist in Nowotnys Augen die beste Strategie für Pendler.
Hannes Zacher, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Leipzig, ist selbst viele Jahre gependelt und beschäftigt sich nun wissenschaftlich mit dem Thema. „Interessanterweise haben wir festgestellt, dass ältere Menschen den Pendelstress besser bewältigen als jüngere“, sagt er. „Sie können generell besser mit leichten negativen Emotionen umgehen, die sie zum Beispiel erleben, wenn sie im Stau stehen.“
Valentin Nowotny kommt zu ähnlichen Erkenntnissen: Jenseits der vierzig hätten Menschen so viele berufliche und familiäre Verpflichtungen, dass sie froh darüber seien, in einem Zug oder Flugzeug mal ein paar Stunden lang nicht erreichbar, zumindest nicht greifbar zu sein, meint er. Auf der anderen Seite seien jüngere Menschen „weniger empfindlich, was Einwirkungen von außen anbelangt“, also zum Beispiel Störungen durch hektische Mitreisende.
Mit der Zeit immer empfindlicher
Sabine Ewert wurde während ihrer 16 Jahre als Berufspendlerin immer empfindlicher. Ende der 1990er Jahre fand die Naturwissenschaftlerin in ihrem Wohnort Berlin keine passende Stelle. Ein gutes Angebot kam aus Wolfsburg. Ewert sagte zu, wollte aber nicht umziehen: Ihr Mann hatte in Berlin einen attraktiven Job, beide Kinder gingen dort zur Schule.
Also setzte sich Ewert an vier Tagen in der Woche in den ICE, der je Strecke 70 Minuten brauchte. Wenn alles gutging. Wenn nicht, kam sie statt um 20 Uhr manchmal um 23 Uhr heim. Oder gar nicht, wie während des Elbhochwassers 2013, als der Bahnverkehr über den Fluss ausfiel. Die Hotels in Wolfsburg waren ausgebucht. „Schließlich boten Kollegen in Wolfsburg Schlafplätze in ihren Wohnungen an“, sagt sie.
Ihre Bereitschaft, so weit anzureisen, sei Ende der 1990er Jahre noch gelobt und vom Arbeitgeber mit Zugeständnissen belohnt worden. Heute, so erzählt Sabine Ewert, erwarte er von jungen Kollegen ganz selbstverständlich, dass sie lange Arbeitswege zurücklegen.
Der Zug steht, in der Kita wartet das Kind
Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung pendeln Frauen seltener als Männer. Nach wie vor tragen Frauen in den Familien die Hauptverantwortung für Kinder und Haushalt. Sie arbeiten daher häufiger in Teilzeit, für die sich eine lange Anfahrt nicht lohnt. Für diejenigen, die dennoch pendeln müssen und daheim kleine Kinder haben, ist die Belastung besonders hoch. „Wenn Frauen wissen: Ich habe jetzt noch eine Stunde Autofahrt vor mir, muss mein Kind aber schon in 30 Minuten vom Kindergarten abholen, setzt sie das enorm unter Druck“, sagt der Arbeitspsychologe Hannes Zacher. Frauen nutzen nach seiner Beobachtung häufig sogar die Wegezeit, um per Smartphone oder Notizblock das Familienleben zu organisieren.
Die Auswirkungen des Berufspendelns würden noch immer unterschätzt, meint Hannes Zacher: „Es gibt zwar seit den 1980er Jahren etwas mehr empirische und psychologische Forschung, aber sie reicht noch längst nicht aus.“ Während man in Deutschland sonst für viele Themen einen Lobbyverband oder Selbsthilfegruppen findet, treten die Pendler kaum als organisierte Gruppe auf, um etwa weitere Vorteile bei der Steuer oder bessere Verkehrsverbindungen zu fordern. Unternehmen interessieren sich laut Zacher kaum für die psychischen und die physischen Folgen, die der Arbeitsweg für ihre Beschäftigten hat.
Dabei können diese bei Pendlern enorm sein. Der Professor nennt Kopf- und Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Magen-Darm-Probleme als klassische psychosomatische Beschwerden. „Nicht bei allen Menschen führt Pendeln zu diesen negativen Konsequenzen, aber bei vielen“, sagt er. „Das hängt vor allem von der Dauer des Pendelns, der Strecke und den Bedingungen ab – und auch davon, wie die Personen das bewältigen.“ Entspannungstechniken würden helfen, ebenso dass man sein Verhalten reflektiert: Bringen mich Vorfälle aus der Fassung, die ich ohnehin nicht ändern kann, etwa ein Notarzteinsatz auf der Autobahn? Wohl dem, der in der Lage ist, solche Verzögerungen selbst dann stoisch hinzunehmen, wenn im Büro wichtige Termine auf ihn warten.
Pendeln verändert auch die Kommunen
Nicht nur Menschen, auch Regionen leiden unter dem vermehrten Pendeln. „In einigen Orten fährt ein Drittel der Bevölkerung morgens zum Arbeiten in eine andere Gemeinde“, sagt Thomas Pütz vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). „Diesen Menschen bleibt wenig Zeit, um sich etwa in der freiwilligen Feuerwehr oder in einem Verein zu engagieren.“
Eine Deutschlandkarte des BBSR zeigt lauter rote Sterne auf grünem Untergrund. Dunkelgrün sind zum Beispiel der Westen Mecklenburgs, Teile Sachsen-Anhalts und einige Gemeinden nahe Berlin. Aus diesen Regionen legen Beschäftigte besonders lange Arbeitswege zurück. Die roten Sterne markieren Großstädte mit vielen Einpendlern: Hamburg, Frankfurt am Main, Stuttgart, das Ruhrgebiet, Berlin. Hauptstadt der Einpendler ist München. Knapp 380000 Beschäftigte reisen täglich dort an. Das hängt nach Ansicht von Thomas Pütz damit zusammen, „dass Wohnraum in der Stadt knapp ist und Mieten und Preise deutschlandweit an der Spitze liegen“.
Er rechnet vor: Aufgrund der langen Phase mit guter Konjunktur hat sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 2009 um fünf Millionen auf 32 Millionen erhöht und anteilig auch die Zahl der Pendler. Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur habe damit nicht Schritt gehalten. „Das spürt man im Berufsverkehr“, konstatiert Pütz.
Gereizte Stimmung und Emotionskaskaden
Die psychischen Folgen hat Hannes Zacher untersucht. „Wir haben in unseren Studien etwa festgestellt, dass Aggressionen unter Auto- und Radfahrern für die Befragten eine große Rolle spielen“, so der Arbeitspsychologe. Die überfüllte S-Bahn, Bauarbeiten auf der Buslinie – all das bringt Pendler mehr aus der Fassung als andere Berufstätige. Zacher spricht von „Emotionskaskaden“: Der Pendler kommt aufgebracht und gereizt nach Hause, was sich auf die Stimmung seiner Partnerin und der Kinder niederschlägt. Pendeln belastet mitunter also auch das Familienleben, in manchen Fällen nachhaltig.
Berufspendler Marc Frewert will genau das vermeiden. Auf seiner Website marcfrewert.de gibt er Schicksalsgenossen Tipps, wie sie ihr Selbstmanagement verbessern können: durch Rituale, körperliche Bewegung wie Joggen und Klettern sowie mit guter Planung. Besonders wichtig ist ihm die morgendliche Meditation: „Das ist für mich geistiges Wachwerden. Gleichzeitig hilft es mir, mich auf den Tag vorzubereiten und eine gewisse Grundruhe reinzubringen.“
Ruhe-Inseln auf dem Weg
Auch der Berater Valentin Nowotny legt lange Wege zu Kunden zurück. Dabei kommt ihm zugute, dass er selbstbestimmt die Verkehrsmittel wählen und jeweils deren Vorteile nutzen kann: Flugzeug, Bahn und Auto. Im Auto hört er Hörbücher und Podcasts, macht alle zwei Stunden eine Pause vom Fahren und vertritt sich die Füße. Auf häufig zurückgelegten Wegen hat Nowotny Ruhe-Inseln entdeckt, die er immer wieder aufsucht. Dazu gehören ein bestimmtes Restaurant am Flughafen Düsseldorf und die Lounges der Deutschen Bahn. Vom Trubel des Bahnhofs abgeschirmt, kann er dort in Ruhe arbeiten und lesen. Täglich läuft er mindestens 10000 Schritte.
Das ist eine gute Idee. Denn besonders das „passive Pendeln“, das lange Sitzen auf dem Weg zur Arbeit, wirkt sich nach den Erkenntnissen des Arbeitspsychologen Hannes Zacher negativ auf das Wohlbefinden aus. Deshalb empfiehlt er „aktives Pendeln“: Wer die gesamte oder einen Teil der Strecke mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurücklegt, kann an der frischen Luft durchatmen. Dann fällt es auf dem Heimweg auch leichter, den Kopf freizubekommen und die um den Job kreisenden Gedanken fallenzulassen.
Sabine Ewert versuchte ebenfalls, die Folgen des langen Sitzens abzumildern. Sie ging regelmäßig ins Fitnesscenter, meistens am Samstag oder am Freitag, denn für den Freitag hatte sie mit ihrem Arbeitgeber Homeoffice ausgehandelt. Dennoch spürte sie mit den Jahren immer stärker die Schattenseiten der perfekten Planung: Spontaneität ging verloren. Jeder Termin musste sorgfältig verabredet werden. Am Sonntag kehrte sie frühzeitig von Unternehmungen zurück, denn sie wusste: Am Montagmorgen fährt um 6.18 Uhr schon wieder mein Zug. Auch weil sie ständig müde war, ging die kulturinteressierte Frau mehr als zehn Jahre lang weder ins Theater noch in die Oper.
Würde sie die Strapazen des Pendelns noch einmal auf sich nehmen? Sabine Ewert überlegt lange. Inhaltlich gefiel ihr die Arbeit in Wolfsburg. Die Kollegen waren nett und der Chef ließ ihr viel Freiraum. Jetzt genießt sie die Rente. „Eine Zweitwohnung in Wolfsburg wäre gut gewesen, um nicht jeden Tag wieder nach Berlin zurückfahren zu müssen“, sagt sie schließlich.
Und was tut der Arbeitgeber?
Mit dem Arbeitgeber gute Bedingungen auszuhandeln, das ist laut Valentin Nowotny das A und O, zum Beispiel einen Erste-Klasse-Zuschlag für Bahn oder Flugzeug, damit man auf der Strecke mehr Ruhe hat. Hilfreich seien auch schon einfache Angebote wie ein fester Parkplatz vor der Firma, damit der Pendler nicht lange suchen muss. Zahlt das Unternehmen das Fitnesscenter am Arbeitsort, könne die Pendlerin in der Mittagspause trainieren.
Marc Frewert kommt mit dem Pendeln gut zurecht. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass er die guten Seiten am Unvermeidlichen im Blick hat: Auf seiner täglichen Bahnstrecke zwischen Stuttgart und Ulm müsse er zumindest nicht umsteigen, was in seinen Augen zusätzlichen Stress bedeuten würde. Sein Arbeitgeber zeige Verständnis, wenn sich mal ein Zug verspätet oder Frewert einen Tag Homeoffice braucht, um einen Arzt oder eine Behörde aufzusuchen. „Im Moment habe ich nicht das Gefühl, dass ich wegen des Pendelns auf etwas verzichte“, sagt er. „Auf der anderen Seite muss ich auch nicht ewig pendeln.“
Was zählt als Pendeln?
Die Forscher sind sich uneinig, was Pendeln überhaupt ist. Das Statistische Bundesamt rechnet jede Art von Arbeitsweg dazu. Für das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte hingegen nur dann Pendler, wenn sie eine Gemeindegrenze überschreiten.
Wer einmal quer durch Berlin fährt, was bis zu 90 Minuten dauern kann, zählt demnach nicht als Pendler, wohl aber derjenige, der aus der Kleinstadt Bernau, die im Land Brandenburg liegt, in den Norden der Hauptstadt reist. Das dauert aufgrund der guten Verkehrsverbindungen unter Umständen nur 30 Minuten.
Unberücksichtigt bleiben in allen Statistiken die Altenpflegerin, die jeden Tag aus Polen kommt und schwarz bezahlt wird, und der rumänische Arbeiter, der in der deutschen Fleischindustrie tätig ist und nur selten nach Hause fährt. Auch die IT-Spezialistin, die regelmäßig zweimal im Monat von Köln nach Peking fliegt, wird nicht mitgezählt.