Der Schauspieler Ulrich Matthes hat sich kürzlich öffentlich zu einer lange verheimlichten Leidenschaft bekannt. „Ich erinnere mich, dass ich als Jugendlicher keinem, wirklich keinem meiner Kumpels zu erzählen gewagt hätte, dass ich mit allergrößter Begeisterung sonntags mit Eltern und Bruder alte Hollywood-Musicals (Fred Astaire, Gene Kelly und Co.) schaute“, schrieb er in einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit. Auch wenn nicht jeder Matthes’ Neigung teilen wird – die Situation als solche dürften…
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Matthes’ Neigung teilen wird – die Situation als solche dürften viele Menschen kennen. Manchmal konsumieren wir gerne Medien, die als eher seichte Unterhaltung gelten, als qualitativ fragwürdig oder von anderen sogar schlicht als „Schrott“ angesehen werden. Oft begleitet uns dabei eine widersprüchliche Mischung an Gefühlen. Wir genießen diese Zeit zwar, schämen uns aber zugleich ein bisschen dafür.
Im angelsächsischen Raum, aber auch bei uns hat sich für dieses Phänomen der Begriff guilty pleasure durchgesetzt, was man am ehesten mit „sündhaftes Vergnügen“ übersetzen könnte. Darunter werden Tätigkeiten zusammengefasst, die wir mögen, bei deren Genuss wir uns aber gleichzeitig schuldig fühlen – als würden wir etwas tun, das eigentlich verboten ist oder zumindest zu verpönt, um sich offen dazu zu bekennen. Woher rührt diese Verklemmtheit im Umgang mit Vorlieben, die doch offensichtlich niemandem wehtun oder anderweitig Schaden anrichten? Warum stehen wir nicht zu unseren Leidenschaften, wenn sich doch angeblich über Geschmack nicht streiten lässt?
Stereotypes Zielpublikum
Eine große Rolle scheint das Bild zu spielen, das wir von uns selbst haben. Dieser Ansicht ist auch der Philosoph Kris Goffin, der derzeit am College Birkbeck der Universität von London forscht. Er hat vor kurzem mit seinem Schweizer Kollegen Florian Cova eine aufschlussreiche Studie zu diesem Phänomen durchgeführt. Dafür befragten sie Frauen und Männer aus den USA zu ihren guilty pleasures. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sollten Lieder, TV-Serien oder auch Gemälde nennen, die sie zwar gerne hörten oder anschauten, bei deren Konsum sie aber zugleich auch negative Gefühle verspürten. Außerdem wurden sie instruiert, in einer Liste mit möglichen Gründen für diesen Zwiespalt anzukreuzen, wie sehr sie mit den Aussagen übereinstimmten. Tatsächlich sprachen die Befragten dabei am stärksten Sätze an wie: „Die Person, die ich sein möchte, würde diese Art von Medienangeboten vermutlich nicht mögen.“ Wenn wir an bestimmte Medienangebote denken, scheint vor unserem inneren Auge also offenbar eine Art stereotypes Zielpublikum aufzutauchen, das diese konsumiert – und das nicht immer zu den Ansprüchen passt, die wir an uns selbst stellen.
Das „Dschungelcamp“? Sehen doch nur Schulabbrecherinnen, die sich gerne über C-Promis amüsieren und ein Faible für nackte Haut haben. Kazuo Ishiguro? Ist eher etwas für intellektuelle Langweiler. Die Gala? Richtet sich an Hausfrauen mit einem ausgeprägten Interesse für Klatschgeschichten über die Royals. Was aber bedeutet es, wenn ich selbst gerne zur Gala greife? Wo ich doch eigentlich „ganz anders“ bin? „Unser persönlicher Geschmack enthüllt etwas über uns als Person, über unseren Charakter“, sagt Kris Goffin. Und diese Enthüllung kollidiert damit, wie wir uns selbst sehen oder sehen wollen.
Eine Mischung aus Kichern und Scham
Noch ein weiterer in der Untersuchung von Goffin und Cova vorgeschlagener Grund für den als zwiespältig empfundenen Konsum bekam von den Befragten besonders hohe Zustimmungswerte: „Wenn jemand erfährt, dass ich diese Art von Medienangeboten genieße, würde das ein schlechtes Licht auf mich werfen.“ Wir fürchten also eine Abwertung durch andere, weil wir unsere guilty pleasures offenbar als eine Art Makel verstehen, der uns anhaftet und den wir daher vor den Menschen, denen wir gefallen wollen, verbergen möchten. Noch heute löse die Vorstellung, seine Mitschüler hätten von seiner Musical-Affinität erfahren, in ihm „eine Mischung aus Kichern und, ja, schrecklicher retrospektiver Scham“ aus, schreibt auch Schauspieler Ulrich Matthes in seinem Beitrag für Die Zeit.
Katrin Döveling, Kommunikationswissenschaftlerin der Hochschule Darmstadt, hält den Begriff guilty pleasure daher für nicht ganz treffend. Schuld empfinde, wer einen Fehler gemacht hat, sagt sie, Scham sei grundsätzlicherer Natur. Wir schämen uns, wenn wir meinen, dass etwas mit uns als Person nicht in Ordnung ist, so Döveling – etwa weil wir Menschen sind, die seichte Bücher lesen und schlechte Filme schauen. Wie anfällig wir dafür sind, hat sicher auch etwas mit Selbstbewusstsein und Alter zu tun, mit den Menschen, mit denen wir uns identifizieren, oder auch mit dem gesellschaftlichen Klima, in dem wir uns bewegen. Matthes zumindest gibt an, dass ihm „partout“ kein Film einfalle, der ihm heute in irgendeiner Runde peinlich sein könnte.
Ohnehin könnte man meinen, dass wir zunehmend lernen, uns von der Scham beim (Un-)Kulturkonsum zu emanzipieren. Es scheint in den vergangenen Jahren teils sogar in Mode gekommen zu sein, von seinen guilty pleasures zu erzählen – nicht selten mit einer gewissen Koketterie. So berichteten in der Zeit etwa neben Ulrich Matthes noch Emily Atef, Dominik Graf, Désirée Nosbusch und Wim Wenders von ihren ästhetischen Verirrungen, die Das Leben ist schön und Flashdance einschließen. Die Kinozeitschrift Cinema präsentierte kürzlich „25 Filme, für die wir uns (nicht) schämen“. Im Onlinemagazin „jetzt“ der Süddeutschen Zeitung gestanden Redakteurinnen und Redakteure ihren Hang zu trashigen YouTube-Filmchen oder zu der Klatschzeitschrift Bunte. Und wer darüber den Eindruck gewinnt, sündigen Vergnügen zu frönen gehöre mittlerweile zum guten Ton, der findet beim Musik-Streaming-Anbieter Spotify eine entsprechend benannte Playlist mit Vorschlägen von Britney Spears über Justin Bieber bis Starship.
Geschmack und Milieu
Doch zeigt der Trend tatsächlich, dass wir gelernt haben, zu unserem Geschmack zu stehen? Oder tun wir nicht einfach nur so, indem wir unseren medialen Sünden einen ironischen Anstrich verpassen, mit dem wir versuchen, uns subtil von ihnen zu distanzieren? „Wenn wir etwas als guilty pleasure bezeichnen, erkennen wir damit an, dass es schlecht, unangemessen oder wertlos ist“, erklärt Sami Schalk, die an der Universität Wisconsin-Madison eine Professur für Gender & Women’s Studies innehat. „Wir sagen also: Ich weiß ja, dass es schlecht ist, ich bin mir dessen bewusst. Und ich mag es dennoch, aber nicht ohne Kritik.“ Mit diesem Taschenspielertrick vermeiden wir, dass das Stigma, das Liebesromanen oder Reality-TV-Angeboten anhaftet, auf uns selbst übergeht, so Schalk. Indem wir mit unserer „Schwäche“ kokettieren, machen wir sie weniger schwerwiegend.
Dass wir uns und andere sehr stark über den Medienkonsum definieren, ist nicht erst seit dem Fernsehzeitalter so. Dem französischen Historiker Pierre de La Gorçe etwa wird das Zitat „Sage mir, was du liest, und ich sage dir, was du bist“ zugeschrieben und für den einflussreichen Soziologen Pierre Bourdieu sind kulturelle Vorlieben integraler Bestandteil unseres Lebensstils oder „Habitus“. Er prägte in den 1980er Jahren die Idee, dass sie auch ein Mittel gesellschaftlicher Abgrenzung sind: Wer meinen Geschmack teilt, gehört zu meinem Milieu. Als Bildungsbürger geht man eben gerne ins Theater und genießt nach dem Essen einen guten Rotwein. Was man nicht tut, ist, seine Abende mit dem „Dschungelcamp“ zu verbringen.
Heute verschwimmen diese Grenzen jedoch, eine Tatsache, für die der US-Soziologe Richard Peterson den Begriff „kulturelle Omnivorie“ (etwa: „kulturelle Allesfresserei“) geprägt hat: Inzwischen schauen sich auch Menschen, die sich selbst eher zur gebildeten Elite zählen, Trash-Filme oder Reality-TV an. Sie grenzen sich nicht länger dadurch ab, was sie sehen, lesen oder hören, sondern durch die Art und Weise, wie sie es tun. Der Ausdruck guilty pleasure ist dafür ein Beispiel. Er erlaubt uns, unsere Neigung zu ironisieren. Diese ironische Haltung macht es uns möglich, unsere Scham in Verbindung mit „minderwertiger Kultur“ zu überwinden. Wir genießen also ein Medienangebot und würdigen es gleichzeitig herab – auch um uns nicht mit denen gemein zu machen, die es aus unserer Sicht normalerweise konsumieren.
Weg von einem gottgefälligen Lebenswandel
US-Forscherin Sami Schalk hält guilty pleasure für ein Label, das vor allem Vergnügungsangeboten benachteiligter Gruppen angeheftet wird, etwa Menschen aus der Arbeiterklasse oder people of colour, aber auch Frauen. Wer sich diesen Gruppen überlegen wähnt, bewusst oder unbewusst, kann vor sich nicht rechtfertigen, denselben kulturellen Vorlieben zu frönen wie sie, sondern muss sich deshalb von diesen Vorlieben distanzieren.
Doch auch mit dem Genießen an sich haben viele von uns offenbar ein Problem. Sami Schalk etwa meint, dass Scham und Genuss sehr stark miteinander verknüpft seien, gerade in den USA mit ihrer puritanischen Tradition. „Demnach ist Genuss schlecht, er führt uns weg von einem gottgefälligen Lebenswandel. Deshalb müssen wir Genuss rechtfertigen“, sagt sie. Sich an einer Sache einfach zu erfreuen ist nicht erlaubt – sie muss uns schon irgendwie weiterbringen, uns bilden, uns neue Einsichten eröffnen.
Faulenzen ist verwerflich, Masturbation eine Sünde, Vanilleeis ein Nagel zu unserem Sarg: Wie sehr viele Menschen solche Zusammenhänge verinnerlicht haben, demonstriert eine Studie der US-Wissenschaftlerin Kelly Goldsmith. Die Marketingprofessorin hat 2012 zeigen können, dass Schuldgefühle den Genuss nicht nur begleiten, sondern ihn sogar steigern können. Wenn wir zum Beispiel an eine Situation denken, in der wir uns falsch verhalten haben, und danach eine Praline essen, schmeckt diese uns besser. Möglicherweise liegt das daran, dass wir die Verknüpfung zwischen Genuss und Schuld von Kindheit an erlernen: Cola ist zwar lecker, schadet aber unseren Zähnen und macht dick; Videospielen macht Spaß, ist jedoch schlecht für die Augen und fördert Aggressionen. Dieser Zusammenhang spiegelt sich auch in Werbeslogans wie „die zarteste Versuchung“ oder in Sprichwörtern wie „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ wider.
Von klein auf bekommen wir also bei vielen Dingen, die wir genießen, gleichzeitig ein Schuldgefühl suggeriert. Umgekehrt könne das dazu führen, dass bei Schuldgefühlen später automatisch und unbewusst Schaltkreise im Gehirn aktiviert werden, die für das Genussempfinden zuständig sind, argumentiert Goldsmith. Möglicherweise sorgt also das Gefühl, etwas Verwerfliches zu tun, bei guilty pleasures gerade für einen besonderen Reiz. Die Medienwissenschaftlerin Katrin Döveling von der Hochschule Darmstadt findet das „Sich-rechtfertigen-Müssen“, das hinter dem Begriff durchscheint, dennoch bedenklich. „Wir sollten uns von derartigen Selbstmassakrierungen befreien“, sagt sie. „Die Hochleistungsgesellschaft, in der wir leben, reduziert uns zu oft darauf, was wir leisten. Dabei ist wissenschaftlich belegt, dass wir alle ein Bedürfnis nach Entspannung haben; das ist eine anthropologische Grundkonstante.“
Freundschaft auf Distanz
Manche Medien mögen uns nicht auf allerhöchstem Niveau unterhalten, wir schalten durch sie aber ab und vergessen eine Weile den alltäglichen Stress. Auch leichte Kost erfüllt also ein wichtiges affektives Bedürfnis und hat damit ihre Berechtigung. Hinzu komme noch ein weiterer Punkt, der gerade angesichts der Covid-19-Pandemie nicht zu unterschätzen sei, meint Döveling, und der für Medienangebote jeglicher Qualität gelte: „Wenn wir einen Film oder eine TV-Serie sehen, fiebern wir mit den Charakteren mit, als würden wir sie tatsächlich kennen. Wir haben gewissermaßen das Gefühl einer Freundschaft auf Distanz.“ Diese sogenannten parasozialen Beziehungen seien „ein wenig so wie die Beziehung zum Nachbarn“, so Katrin Döveling. „Sie ersetzen keine Freunde, erfüllen aber dennoch ein Stück weit unsere sozialen Bedürfnisse – vor allem natürlich in Krisenzeiten.“
Auch deshalb sollten wir vielleicht einfach lernen, uns zu gönnen, das zu lesen, zu sehen oder zu hören, was uns gefällt, unabhängig davon, welchen Anspruch es hat, ob es uns zu besseren Menschen macht und was andere von diesem Konsum halten könnten. Oder wie es der Filmkritiker Dan Kois vor einigen Jahren im Magazin der New York Times ausdrückte: „Je älter ich werde, desto weniger Interesse habe ich daran, mein kulturelles Gemüse zu essen, egal wie gut es für mich sein mag.“
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