Stille Aufträge

Du wirst Ärztin, du sorgst für uns, über diese Dinge reden wir nicht: Elterliche Erwartungen prägen uns. Wie wir uns aus Familienmustern befreien.

Die Illustration zeigt eine junge Frau, umgeben von verschiedenen Familienmitgliedern und deren Einflüsse, dahinter fliegt eine Schwalbe vorbei
Die Entwicklung eines Kindes beginnt meist schon in der Fantasie der Eltern. © Drushba Pankow

Cornelia E. steckte im falschen Film. Sie lebte ihr Leben nach einem inneren Drehbuch, das sie auf einen schädlichen Weg schickte. Die zentrale Botschaft ihres Drehbuchs: In unserer Familie sind wir alle immer erfolgreich. Seit ihr Bruder schwer an einem Gehirntumor erkrankt war und geheilt werden konnte, wusste die junge Frau, dass sie Medizin studieren wollte. Nach dem Abitur erhielt sie einen der begehrten Studienplätze, doch nur wenige Semester später scheiterte sie bereits an der Zwischenprüfung, dem…

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durch, auch beim dritten; eigentlich wäre das Medizinstudium damit beendet gewesen.

Doch Aufgeben war für Cornelia, die eigentlich anders heißt, keine Option. „Ich studierte einfach weiter, belegte Kurse, machte Scheine, absolvierte Zwischenprüfungen und Praktika“, erzählt sie. „Ich habe mich verstrickt in das Bild der erfolgreichen Ärztin und mich einer Scheinwelt hingegeben.“ Sie fälschte ihre Zeugnisse und erhielt nach ihrem vermeintlichen Abschluss sogar eine Stelle als Ärztin im Praktikum in der HIV-Ambulanz des renommierten Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

Später bewarb sie sich an der Kinderklinik und erhielt dort eine Anstellung als Assistenzärztin. Bei Kolleginnen und Patienten galt sie als sympathisch und hochkompetent. Erst als die junge Frau ihre Dissertation beantragte, worauf die Ärztekammer das Original ihrer Approbationsurkunde verlangte, flog die Täuschung auf. Cornelia E. wurde wegen Betrugs zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung und einer hohen Geldstrafe verurteilt.

Scheitern war nicht vorgesehen 

Was hatte sie zu der langjährigen Täuschung getrieben? Neben der Liebe zur Medizin war es vor allem die Angst davor, in ihrer Familie als gescheitert zu gelten. Die ältere Schwester führte eine eigene Praxis für Tiermedizin, der ältere Bruder arbeitete als Wirtschaftsprüfer; Cornelia, das Nesthäkchen, hatte unbedingt Ärztin werden sollen. Scheitern war nicht vorgesehen, Prüfungen waren da, um bestanden zu werden.

„Ich bin sehr leistungsorientiert erzogen worden“, erklärte Cornelia während des Prozesses der Richterin. „Ich wollte niemanden enttäuschen, weder die Eltern noch den Rest der Familie.“ Es gelang der jungen Frau einfach nicht, sich von den familiären Aufträgen und Erwartungen abzugrenzen; das innere Skript schrieb ihr den unbedingten Erfolg vor. Sie konnte nicht akzeptieren, dass sie einen anderen Weg gehen könnte, und verstrickte sich stattdessen in Täuschung und Betrug.

Deutlich formulierte Aufträge an die Kinder

Ein Extremfall, sicher. Doch umso größer die Erwartungen an ein Kind sind, umso schwerer und schmerzlicher ist es, sich den elterlichen Aufträgen zu widersetzen. Gerade leistungsbezogene Aufträge würden häufig sehr deutlich kommuniziert, erklärt die Hamburger Familientherapeutin Sandra Konrad: „Du übernimmst unser Familienunternehmen, du sollst Ärztin werden wie wir, du sollst für dich selbst sorgen und erfolgreich werden: Diese Aufträge werden meistens ziemlich deutlich und druckvoll formuliert.“

Konrad behandelte einen jungen Mann, Sohn einer Ärztedynastie, der ebenfalls mehrfach durchs Physikum gefallen war und sich angesichts der Perspektive, kein Arzt werden zu können, suizidal fühlte. Das Medizinstudium interessierte ihn kaum, doch der Drang, seine Eltern zu befriedigen, war übermächtig.

Im Laufe der Therapie stellte sich heraus, dass das Ende seines Medizinstudiums noch längst nicht das Ende seiner beruflichen Laufbahn sein würde; es war nur das Ende der elterlichen Wunscherfüllung. Der junge Mann wurde später Tischler und glücklich mit seinem neuen Berufsweg. Die Eltern mussten die Enttäuschung erst mal verdauen, konnten später aber akzeptieren, dass die Zufriedenheit ihres Sohnes letztlich wichtiger war als ihre eigenen Vorstellungen.

Was das Familiendrehbuch vorsieht

Die Entwicklung eines Kindes beginnt meist schon in der Fantasie der Eltern. Kommt ein Kind auf die Welt, haben die Eltern oft genaue Vorstellungen davon, was sie sich für ihr Kind wünschen. Es soll gesund, niedlich und clever sein, vielleicht später auch mal Handball spielen wie die Mama oder Gitarre wie der Papa. Oft wünschen sich Eltern genau das für ihr Kind, was sie selbst früher glücklich machte – und nicht selten wird aus der Tochter dann tatsächlich eine leidenschaftliche Handballerin oder aus dem Sohn ein begeisterter Bassist.

Elterliche Wünsche und Erwartungen sind also etwas Alltägliches und gehören zum Familienleben dazu wie gemeinsame Mahlzeiten oder Diskussionen über das Aufräumen des Zimmers. Die Annahmen können durchaus gewinnbringend sein: Wer in seiner Kindheit immer wieder zu hören bekommt, dass er ein liebenswerter Mensch ist und später bestimmt erfolgreich sein wird, verinnerlicht diesen unbewussten Vorentwurf vielleicht und startet mit mehr Zuversicht in Ausbildung oder Studium.

Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse (siehe Definitionskasten unten), hat für diese seelische Dynamik den Begriff der „Skripte“ geprägt, unbewusste Drehbücher, die Menschen durch ihr Leben begleiten. Sie werden von der Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kind und von den elterlichen Werten stark geprägt. „Das beste Skript ist eine unbeschwerte, positive Art, dem Leben zu begegnen, voller Neugierde“, schreibt der Kölner Psychotherapeut Andreas Steiner.

Elterliche Stimmen internalisiert

Zum Problem werden elterliche Wünsche und Erwartungen jedoch, wenn sie eine Überforderung darstellen für die Bedürfnisse oder Fähigkeiten des Kindes. Wenn die Tochter also keine talentierte Sportlerin ist, wenn der Sohn rein gar nichts mit Musik anfangen kann, dann ist es Zeit für die Eltern, sich von ihren Wünschen zu verabschieden und ihr Kind so zu sehen, wie es ist – einzigartig, individuell und ganz anders als sie.

Nicht immer gelingt das jedoch. In vielen Familien sind elterliche Aufträge, Erwartungen oder Botschaften so lebendig und wirkmächtig, dass sie bewusst oder unbewusst das Leben der Kinder dominieren. Manchmal verfolgen Men­schen dann bis ins Erwachsenenalter Ziele oder Pläne, die ihnen fremd erscheinen oder sogar schaden. Sie leben gefühlt an ihrem Leben vorbei, studieren Fächer, die sie nicht interessieren, arbeiten in Berufen, die ihnen nichts geben, oder führen Beziehungen, die immer wieder konflikthaft sind.

Der Hintergrund dieser falschen Entscheidungen sind sehr häufig elterliche Aufträge oder Botschaften, die so in die eigene Identität übergegangen sind, dass sie nicht mehr als solche erkannt werden. „Die elterlichen Stimmen werden internalisiert und dadurch wird im Leben eine Art falsche Fährte gelegt“, erklärt Sandra Konrad. „Auf dieser Fährte bleiben wir dann, bis die Überforderung und der Leidendruck so groß sind, dass wir spüren: Okay, irgendwas stimmt hier nicht.“

Vererbtes problematisches Männerbild

Nicht nur das Streben nach schulischem, beruflichem oder sportlichem Erfolg kann jedoch das „Familiendrehbuch“ dominieren; es gibt noch viele andere problematische Muster, die Familiensysteme quasi leitmotivisch und in großer Deutlichkeit prägen. So schildert etwa der französische Schriftsteller Édouard Louis in seinem autobiografischen Ro­man Das Ende von Eddy seine Kindheit in einem prekären Milieu, das von maskuliner Gewalt, Alkohol, Frauenhass und Homophobie geprägt war: Sowohl sein Großvater, sein Vater als auch seine Brüder lebten ein hartes und toxisches Männerbild.

Louis’ Ablehnung dieser problematischen, über die Generationen vererbten Männlichkeit passte nicht in die Familie: Dem Vater war alles „Weibliche“ bei seinem Sohn zuwider, „ein Mann sein, das heißt, sich nicht wie ein Mädchen, wie eine Schwuchtel aufführen“.

Leichtsinn und exzessiver Lebensstil

Ein ähnlich dysfunktionales, über die Generationen weitergereichtes Lebensmotiv zeigt die legendäre amerikanische Kennedy-Familie, die sich bis heute insbesondere bei den Söhnen der Familie sowohl durch spektakuläre Erfolge als auch durch fürchterliche Unglücke, durch unermesslichen Ehrgeiz als auch exzessive Abstürze auszeichnet.

So kam der älteste Sohn von Joseph und Rose Kennedy, Joseph junior, 1944 bei einem Flugzeugabsturz im Rahmen einer gefährlichen Geheimmission ums Leben. Knapp vier Jahre später starb seine Schwester Kathleen ebenfalls bei einem Flugzeugabsturz, nachdem sie allen Warnungen zum Trotz bei schlechtem Wetter in eine kleine Maschine gestiegen war. 1963 wurde ihr Bruder John F. Kennedy in Dallas Opfer eines Attentats; zuvor hatte er die verschärften Sicherheitsmaßnahmen des Secret Service abgelehnt. Ein Jahr später verletzte sich sein Bruder Edward M. Kennedy bei einem Flugzeugabsturz schwer, als er trotz Unwetter zu einer politischen Veranstaltung flog.

Seitdem prägen zahlreiche weitere Unglücke, Autounfälle, Attentate und Flugzeugabstürze die Geschichte der Kennedys; der Gedanke liegt nahe, dass vor allem die Männer der Familie von wiederkehrenden Le­bensmotiven wie dem Verbot, Angst oder Schwäche zu zeigen, der Härte gegen sich selbst, dem Leichtsinn und einem exzessiven Lebensstil geprägt waren. Diese unseligen Motive raubten vielen Kennedys das Leben. Familienmuster können also durchaus deutlich und offensiv gelebt werden und von den einzelnen Mitgliedern bewusst oder unbewusst Anpassung einfordern; die Loslösung hieraus erfordert zunächst die Einsicht in diese Muster und dann den Mut und die Kraft, sich daraus zu lösen.

Prägungen aus der Biographie der Eltern oder Großeltern

Noch schwieriger wird es allerdings, wenn neben den Wünschen der Eltern oder familiären Leitmotiven weitaus diffusere emotionale Aufträge oder Delegationen das Leben der Kinder prägen, deren Ursprünge in der Biografie der Eltern liegen oder sogar noch eine weitere Generation zurückreichen. Die ungelösten Lebensthemen der Eltern oder Großeltern können das Leben der Kinder belasten, ohne dass diese in der Lage sind, den Zusammenhang zur Geschichte der Familie zu erspüren.

Die Kinder übernehmen also emotionale Aufgaben, Gefühle und Ängste, die zwar in Bezug stehen zu den Erlebnissen ihrer Eltern, aber kaum noch als solche zu erkennen sind. Anders gesagt: Sie merken nicht, wie verstrickt sie in die Geschichte ihrer Eltern sind – weil sich die Symptome bei ihnen eben ganz anders zeigen und weil das Wissen über die Erfahrungen der Eltern fehlt.

So kann die Vergewaltigung der Großmutter im Krieg noch das Verhältnis der Enkelin zu Sexualität und Partnerschaft belasten; vielleicht weil die Enkelin die häufigen Warnungen der Großmutter vor Männern verinnerlicht hat, weil sie als Kind immer wieder Berichte über die furchtbare Erfahrung der Oma aufschnappte oder aber viel zu früh zur vertrauten Gesprächspartnerin der Oma wurde.

Die Familie stand über allem

Die Bandbreite an emotionalen Aufträgen und Erfahrungen, die mit diesen vererbten Gefühlen einhergehen, ist groß. Sowohl zu viel eingeforderte Nähe als auch zu viel emotionaler Abstand können damit verbunden sein. „Alles, was in einer Generation nicht verarbeitet werden konnte, hat Auswirkungen auf die Folgegenerationen“, erklärt Sandra Konrad.

„Wir unterscheiden dann zwischen den bindenden und den nichtbindenden Aufträgen. Die bindenden Aufträge lauten häufig: Bleib bei mir, lass mich nicht allein, gründe keine Familie, ich bin so schwach, du bist so schwach, wir schaffen es nicht allein; die ausstoßenden Aufträge sollen das Gegenteil bewirken mit Botschaften wie: Stör mich nicht, werde schnell selbständig, ich kann mich nicht um dich kümmern, krieg dein Leben auf die Reihe.“

Jan Neumann war lange der Überzeugung, eine perfekte Kindheit gehabt zu haben. Der Hamburger wuchs in der Nähe von Wismar auf, inmitten von Feldern und Wäldern. Er fühlte sich liebevoll behütet von seinen Eltern, auch seine Tanten und Cousins lebten im Dorf. Der 42-Jährige erinnert sich an endlose Bolznachmittage auf der Dorfwiese und an sonnige Wochenenden mit der Großfamilie an der Ostsee. Die Familie war eine Einheit, man hielt zusammen, sie stand über allem.

Für Jan Neumann, heute Ingenieur, war es also jahrelang vollkommen normal, jedes Wochenende nach Hause zu fahren, um bei seinen Eltern zu sein. Das änderte sich erst, als er seine zukünftige Frau kennenlernte, die nicht unbedingt jedes Wochenende mit ihren Schwiegereltern in spe verbringen wollte. Die Eltern, die nie hatten sagen müssen, dass ihr Sohn sie besuchen solle, waren nun verwundert und enttäuscht. Die Mutter entwickelte einen Tinnitus und zog sich zurück. Der Vater machte dem Sohn Vorwürfe. Neumann fühlte sich hin- und hergerissen zwischen den Wünschen seiner Freundin und dem Bedürfnis der Eltern; er verspürte Schuldgefühle und Ängste, auch in seiner Partnerschaft gab es zunehmend Streit.

Von den Bedürfnissen der Eltern abgrenzen

Erst in einer Psychotherapie konnte er schließlich herausfinden, aus welchen Gründen die Familie so eng verbunden war und weshalb es so schwer für ihn war, sich von seinen Eltern abzugrenzen. Ein Blick in die Familiengeschichte half dabei: Die Eltern stammten beide aus Flüchtlingsfamilien aus Ostpreußen und waren als kleine Kinder nach einer jeweils traumatischen Flucht 1945 mit ihren Familien nahe Wismar gestrandet.

Wie gut vier Millionen andere DDR-Bürger auch durften die Geflüchteten nicht über ihre Erlebnisse sprechen, das Thema wurde tabuisiert, die eigenen seelischen Verletzungen mussten geleugnet werden. Halt fanden die Eltern in der Familie, einem sicheren Raum, in dem man einander unbedingte Solidarität und Loyalität zeigte; Individuation und Autonomie waren nicht vorgesehen.

„Meine Eltern waren klug genug, den Konflikt nicht auf meine Frau zu verschieben“, sagt Jan Neumann. „Es half auch, dass sie meine Frau gerne mochten. Aber mir fiel es enorm schwer, mich von den Bedürfnissen meiner Eltern abzugrenzen. Vor allem weil die nie so richtig ausgesprochen wurden. Ich spürte nur immer diese große Verantwortung, diesen Sog, ständig da zu sein. So nach dem Motto: Wir bilden eine Einheit gegen die feindliche Außenwelt.“

Immer schön ruhig sein, nicht stören

Mit dem Verständnis der traumatischen Geschichte seiner Eltern gelang es Jan Neumann zunehmend, sich gegen die Loyalitätseinforderungen zu wehren und die Rolle zu verstehen, die er in der Vergangenheitsbewältigung seiner Eltern einnahm. Zwar hat er auch heute noch ein intensives, manchmal für sein Gefühl zu enges Verhältnis zu ihnen; auch glaubt er, dass seine Eltern ihre Gefühle und Bedürfnisse bis heute nicht gut reflektieren können. Dennoch lebt er inzwischen sein eigenes Leben und fährt nur noch ungefähr einmal im Monat nach Wismar – mit Frau und Kindern, die sich dann freuen, bei Oma und Opa auf dem Land zu sein.

Familiäre Treuebündnisse erschweren also die Abgrenzung massiv, ein Prozess, der Söhne und Töchter bisweilen ihr ganzes Leben begleiten kann. „Hier hilft nur, sich klarzumachen, dass kein Mensch für das Glück eines anderen erwachsenen Menschen verantwortlich ist“, schreibt der Philosoph Michael Bordt, „schon gar nicht die Kinder für das Glück ihrer Eltern.“ Dennoch kann der Auftrag, die Eltern zu stabilisieren, viele verschiedene Facetten haben und bisweilen krank machen.

Am anderen Ende des Spektrums steht die Ausstoßung des Kindes, der elterliche Auftrag, bloß nicht zu bedürftig, zu abhängig oder zu „störend“ zu sein. Diese Art der Vernachlässigung kann sich auf unterschiedlichen Niveaus sowohl in prekären Familienverhältnissen als auch in wohlhabenden Familien zeigen; sie reicht von der existenziellen Vernachlässigung in Bezug auf Essen, Trinken und Schutz bis hin zur Wohlstandsverwahrlosung, bei der Kinder materiell über- und emotional unterversorgt sind. Nicht selten sind Narzissmus, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit der Eltern im Hintergrund vorhanden.

Schon als Jugendliche das Nest verlassen

Die Kinder haben dann im Familiensystem den Auftrag, ruhig zu sein und nicht zu stören, sich um sich selbst zu kümmern, ihr eigenes Leben zu führen. In Wohlstandsfamilien kommt häufig noch der Druck dazu, dennoch alle schulischen oder sportlichen Anforderungen zu erfüllen. Statt Fürsorge zu erfahren, werden die Kinder oft schon als Jugendliche aus dem Nest gestoßen und müssen fortan allein zurechtkommen.

Häufig stellen aber auch diese Aufträge bereits eine Weitergabe über Generationen hinweg dar; oft stammen bereits die Eltern aus Familien, in denen sie körperliche oder emotionale Vernachlässigung oder Verwahrlosung erlebten, sie wiederholen also ihr eigenes Trauma. Dennoch müssen die Kinder – je nach Erfahrung und Resilienz – das Familienmuster nicht eins zu eins weitergeben. Manchmal versuchten Kinder, der Vernachlässigung oder Gewalterfahrung zu entgehen, indem sie ihrerseits sorgend und feinfühlig auf die Eltern eingingen, schreibt der Münchener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Karl Heinz Brisch: „

Diese Form der Bindungsstörung wird dann als Rollenumkehr bezeichnet, weil die Kinder ihre eigenen Bindungsbedürfnisse zugunsten der Eltern aufgeben. Das Verhalten kann internalisiert werden und dazu führen, dass solche Menschen sich im Erwachsenenalter in Beziehungen nur dann sicher fühlen, wenn sie andere versorgen. Es ist ihnen ganz unmöglich, sich selbst versorgen zu lassen, weil sie in der Übertragung fürchten, der andere könnte – ähnlich wie früher der Misshandler – unberechenbar zuschlagen oder anderweitig verletzend und bedrohlich werden.“ Gerade vernachlässigte und misshandelte Kinder, die selbst also viel bräuchten, suchen sich später häufig Partnerinnen oder Partner aus, um die sie sich intensiv kümmern müssen.

Die enttäuschten Wünsche betrauern

Familienmuster können also, wenn sie nicht reflektiert oder bearbeitet werden, mächtige Auswirkungen haben. Lebensentscheidungen wie Berufswahl, Partnerschaft oder Wohnort können davon geprägt sein; ein latentes Unglücklichsein mag die Folge sein, aber auch schwere psychische Erkrankungen. Wie also finden Betroffene aus diesen Mustern heraus? Die Kinderrolle zu erkennen und dann zu verlassen ist manchmal schwerer als gedacht. Oft erfolgt die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte erst dann, wenn Betroffene selbst Kinder bekommen und sich sorgen, dass sie ihre frühen Erfahrungen auf die eigenen Töchter und Söhne übertragen.

Nicht immer müsse die Auseinandersetzung jedoch lang und schmerzhaft sein, erklärt Sandra Konrad. „Es kommt immer drauf an, wie groß der Leidensdruck ist“, so die Psychotherapeutin. „Wenn ich in meiner Familiengeschichte recherchiere und plötzlich macht es klick und ich erkenne, weshalb ich immer wieder ein seltsames Verhalten an den Tag lege, kann ich das womöglich schnell ändern, indem ich mir erlaube, es einfach anders zu machen. Manchmal muss ich mir meine Wunden aber auch erst mal in einem geschützten Raum angucken.“

In einer Therapie etwa könne man die eigenen verletzten Anteile, enttäuschte Wünsche und Sehnsüchte zunächst genauer untersuchen – und sie dann betrauern. Denn die meisten Betroffenen haben nach wie vor Sehnsüchte, die von den Eltern nie erfüllt wurden und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht mehr erfüllt werden; warum sollte Eltern das mit achtzig gelingen, wenn es ihnen schon vorher nicht möglich war? Der eigenen Verletzung muss also Raum gegeben und die Trauer verarbeitet werden.

Wie will ich die Beziehung heute gestalten?

Anschließend kann es dann darum gehen zu schauen, welche familiären Werte die Betroffenen weiterhin übernehmen möchten oder nicht. Wie will ich die Beziehung zu meiner Familie nun gestalten? Brauche ich mehr Distanz? Muss ich mich weiterhin so anstrengen, um fremde Erwartungen zu erfüllen? Soll ich einen beruflichen Kurswechsel wagen? Bin ich in der Lage, meine Rolle als Mutter, als Vater, als Frau oder Mann ganz anders zu definieren? Dieser Prozess des Trauerns, der Reflexion und Neujustierung kann eine ganze Zeit dauern.

Manchmal ist es anschließend möglich zu fragen, wieso die Eltern überhaupt so geworden sind, wie sie sind; warum sie ihre eigenen Wünsche zur Erfüllung an die nächste Generation weiterreichen mussten; weshalb sie ihre Kinder einbinden mussten in die Verarbeitung autobiografischer Erfahrungen, die dreißig oder vierzig Jahre zurückliegen. „Vielleicht merkt man dann: Meine Eltern hatten nicht die besten Voraussetzungen, um gute Eltern zu werden“, erklärt Sandra Konrad.

„Dann kann sich der Blick verändern und etwas wie Milde entstehen. Aber das geht nur, wenn vorher die eigenen Verletzungen betrauert wurden. Sonst ist man in einer Art Pseudoverzeihen gefangen, und das funktioniert nicht.“ Viel wichtiger ist, Frieden zu schließen mit dem eigenen Lebensweg und sich die Erlaubnis zu geben, neue Richtungen einzuschlagen. Haben erwachsene Söhne und Töchter nämlich erst verstanden, in welchem Film sie gefangen sind, können sie daraus aussteigen – und ein neues Drehbuch für sich schreiben.

Die Transaktionsanalyse ist eine psychologische Theorie, die vom Psychiater Eric Berne (1910–1970) entwickelt wurde. Er verband die zwischenmenschliche Kommunikation seiner Patientinnen („Transaktionen“) mit ihren inneren Prozessen. Dabei identifizierte er verschiedene Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen oder auch Ich-Zustände (Kindheits-Ich, Erwachsenen-Ich, Eltern-Ich), die in sozialen Beziehungen aktiviert werden.

Die Kinder der Überlebenden, die Kinder der Täter

Wie die NS-Geschichte über Generationen hinweg weiterwirkt

Dreißig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs begannen israelische und amerikanische Wissenschaftler erstmals, die Auswirkungen des Holocausts auf die Kinder der Überlebenden zu diskutieren. Sie stellten dabei fest: Obwohl die Kinder der Survivors weit nach 1945 geboren waren, litten auch sie an Ängsten und Beklemmungen.

„Die Kinder mussten ein emotionales Vakuum ausfüllen, dem sich die Überlebenden selbst nicht stellen konnten“, analysierte der israelische Psychologe Dan Bar-On. „Dieses Vakuum verhinderte, dass sich die Nachfahren psychisch von ihren Eltern trennen konnten.“ Denn die nach dem Krieg geborenen Kinder waren für ihre traumatisierten Eltern oft ein Ersatz für das, was diese in den Kriegsjahren verloren hatten: die eigenen Eltern, ihre Geschwister, manchmal sogar frühere Kinder. Sie wurden mit Erwartungen überhäuft und konnten oft nur unter großer Mühe zu ihrer eigenen Identität finden.

Ausgehend von diesen Forschungen, widmete sich Dan Bar-On in den 1990er Jahren den Familien der deutschen Naziverbrecher und -verbrecherinnen. Und tatsächlich: Auch hier trug die nächste Generation noch schwer an der Last der Vergangenheit. Die Kinder der Täter und Täterinnen litten an Symptomen wie kaum benennbaren Schuldgefühlen und diffusen Ängsten. Gerade Kinder, die aufgrund familiärer Loyalitäten die Schuld der Eltern nicht wahrhaben konnten, blieben mitunter derart in die Familiengeschichte verstrickt, dass sie selbst daran zerbrachen – hier wirkte die transgenerationale Weitergabe oft sogar bis in die dritte Generation.

Scham, Ängste, Schuld – all diese Gefühle können ein emotionales Erbe der vorherigen Generationen sein. Wenn in Familien traumatische Ereignisse unausgesprochen bleiben, Schuld abgewehrt bleibt, Gewalt und Missbrauch verschwiegen werden, können diese unerwünschten Gefühle quasi zur Bewältigung an die nächste Generation weitergereicht werden. Die Kinder zeigen dann Symptome, welche die Eltern nicht spüren konnten oder wollten.

„Wenn das Trauma der Eltern unerkannt, unbenannt und unbesprochen bleibt, kann es von den Kindern nicht ‚geortet‘, verbalisiert und symbolisiert werden“, schreibt die Psychotherapeutin Dagmar Soerensen-Cassier. „In der Folge können die Kinder dieser traumatisierten Eltern keine klare Abgrenzung zur Elterngeneration finden und bleiben unaufgelöst über das ,Verschwiegene‘ mit ihnen verbunden.“

Dass es wichtig ist, sich mit den Spuren der Vergangenheit innerhalb der eigenen Familie auseinanderzusetzen, haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Betroffene, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Forscherinnen und Forscher belegen können.  

Checkliste Familienmuster

Welche Fragen Sie sich stellen können, um Erwartungen und Aufträge aufzudecken

Die untenstehenden Fragen sollen ein Anstoß zur Reflexion sein. Sie können Hinweise darauf geben, ob bestimmte Lebensthemen oder unverarbeitete Gefühle als elterliche Aufträge an die nächste Generation weitergereicht werden und das eigene Leben prägen.

  • Habe ich das Gefühl, im falschen Leben zu stecken?

  • Habe ich den Eindruck, einen völlig falschen Beruf gewählt zu haben oder einen Partner, der nicht zu mir passt?

  • Fühle ich mich unter Druck, elterliche Wünsche oder Erwartungen zu erfüllen?

  • Ist die Beziehung zu meiner Familie oft enger, als mir lieb ist?

  • Fällt es mir schwer, mich von meiner Familie abzugrenzen?

  • Habe ich Schuldgefühle, ohne zu wissen, warum?

  • Gibt es in meiner Familie wiederkehrende Konflikte unter den Geschwistern?

  • Beobachte ich in meiner Familie spezielle Verhaltensweisen oder Lebensthemen, die sich möglicherweise über die Generationen „vererbt“ haben?

  • Gab es in meiner Familie Verluste, Traumata oder Geheimnisse? Wie werden diese erinnert und kommuniziert?

  • Welchen Einfluss haben sie auf mein Leben?

  • Sind Sucht und Gewalt ein wiederkehrendes Thema in meiner Familie?

  • Gibt es in meiner Familie Kontakt­abbrüche oder Suizide?

Lieblingskinder und Schattenkinder

Geschwister nehmen häufig unterschiedliche Rollen in Familien ein. Wie genau werden diese verteilt? Und wann werden elterlicheZuweisungen zur Belastung? Antworten von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Inés Brock

Geschwister können einander zugetan sein, sie können sich aber auch hassen. Wovon hängt es ab, wie Geschwister miteinander zurechtkommen?

Von der Elternbeziehung. Die Geschwisterdynamik spiegelt wider, wie die Eltern miteinander agieren und wie feinfühlig sie in ihrem Beziehungsverhalten sind. Destruktive Geschwisterrivalität etwa ist immer an das Elternverhalten geknüpft.

Was führt zu einer destruktiven Geschwisterrivalität? Zum Beispiel Konstellationen, in denen ein Kind als Leistungsträger bejubelt und eines als Verlierer abgestempelt wird?

Es kommt schon vor, dass man zum einen Kind einen besseren Draht hat als zum anderen und dadurch Eifersucht entsteht. Meistens ändert sich das aber über den Lebensverlauf. Problematisch wird es, wenn die Eltern ihre eigenen Erfahrungen auf die Kinder übertragen und an ein Kind Aufträge delegieren wie: Du erfüllst jetzt das, was mir im Leben versagt worden ist, und wirst dafür wertgeschätzt, dass du diese Ziele erreichst.

Das führt zur Aufwertung dieses Kindes und indirekt zur Abwertung des Geschwisterkindes. Möglicherweise trägt das Lieblingskind noch dazu bei, dass das Geschwisterkind seine Rolle als Schattenkind einnimmt. In dieser Situation entsteht eine dysfunktionale Geschwisterbeziehung.

Eine schwierige Situation für beide Geschwister…

Natürlich, auch das Lieblingskind steht unter einem großen psychischen Druck, es muss dauernd hart arbeiten und hat ständig Angst, seine Position wieder zu verlieren. Es gibt aber auch Lieblingskinder, die große Solidarität mit dem Schattenkind haben und darunter leiden. Geschwister bilden untereinander schließlich ein separates Familiensystem und organisieren sich mit eigenen Regeln. Wenn es gut läuft, verbringen sie miteinander mehr Zeit als mit den Eltern, manchmal gibt es sogar eine Art Verbündung untereinander, auch gegen die Eltern.

Beide Verhaltensweisen sind also möglich.

Genau, deshalb sprechen wir in der Erziehungswissenschaft auch von der Kompensationshypothese und der Kongruenzhypothese. Die Kompensationshypothese besagt, dass Geschwister sich unterstützen, wenn Eltern ihre Aufgaben nicht ausreichend wahrnehmen, sie sind also eine Ressource füreinander.

Die Kongruenzhypothese besagt, dass Geschwister sich in konflikthaften Elternhäusern genauso verhalten wie die Eltern. Sie übernehmen dann die aggressive Streitkultur der Eltern, das Familienklima entspricht dem elterlichen Beziehungsmodell.

Ob Lieblingskind oder Schattenkind, wie entscheidet sich, welches Kind im Familiensystem welche Rolle zugewiesen bekommt?

Schwer zu sagen. Ganz generell lässt sich beobachten, dass Erstgeborene häufiger mit elterlichen Übertragungen zurechtkommen müssen. Oft ist es ihre Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen, etwa für die Eltern oder Geschwister. Sie rutschen leicht in die Partnerersatz- oder Elternrolle für Mutter oder Vater und erhalten dann nur Anerkennung, wenn sie diese Funktionen auch ausfüllen.

Mittelkinder hingegen werden oft nicht richtig gesehen, das kann für sie belastend sein, manchmal können sie dadurch aber auch Freiräume besser nutzen. Bei den Nesthäkchen hängt es davon ab, ob sie Nachzügler sind oder nicht. Wenn sie im Familiensystem spät geboren sind, sind sie oft eng an die Eltern gebunden, haben Schwierigkeiten, Autonomieschritte zu gehen, spüren den Druck, die Eltern nicht allein zu lassen. Aber natürlich ist auch die Geschlechterkonstellation oft ausschlaggebend bei der Rollenverteilung im Familiensystem.

Häufig ist die Zuweisung von Rollen an die Kinder ja bereits eine Wiederholung aus der eigenen Kindheit der Eltern.

Das stimmt. Deshalb bin ich als Psychotherapeutin auch weit davon entfernt, einem Elternteil die Schuld zuzuweisen. Aber die Erteilung von Aufträgen oder Rollen erfolgt nicht zwangsläufig entlang derselben Linien wie bei den Eltern. Wenn die Großmutter etwa früh den Mann verloren hat und die Mutter schon von jungen Jahren an in der Verantwortung war, sich um die Großmutter zu kümmern und das Einkommen zu generieren, dann kann es sein, dass die Mutter diese Verantwortung später auch von ihrer eigenen Tochter verlangt und sie nicht in die Autonomie entlässt.

Es kann aber auch sein, dass sie überkompensiert, das heißt die Tochter sehr früh ins eigene Leben ausstößt, weil sie nicht möchte, dass ihr Kind ähnliche Erfahrungen machen muss wie sie selbst. Das eine wäre die Wiederholung, das andere der Modus der Überkompensation.

Können Geschwister sich gegen Rollenzuschreibungen wehren?

In jungen Jahren sind Kinder natürlich noch sehr abhängig von den Eltern, da ist es schwierig, sich zu wehren. Wenn sie aber langsam in die Autonomieentwicklung gehen, können sie beginnen, ihre Position in der Familie zu reflektieren. Oft geschieht das zum Beispiel mithilfe des Partners oder der Partnerin.

Wie stehen die Chancen, dass destruktive Geschwisterdynamiken im Erwachsenenalter gemeinsam aufgearbeitet werden können?

Wenn die Geschwister ein einigermaßen kohärentes Selbst entwickeln konnten, sind sie meist in der Lage, die Verletzungen aus der Kindheit miteinander auszuhandeln und zu bearbeiten. Manchmal ist es aber schwierig, sich aus dieser Destruktivität herauszubewegen. Es gibt Geschwisterbeziehungen, die bleiben über den Lebenslauf hinweg destruktiv oder auch extrem gleichgültig. Wenn der Leidensdruck groß genug ist, kann professionelle Hilfe wichtig sein. Das muss man aber wollen. Oft arbeitet es doch nur einer auf. Und trotzdem bleiben die Geschwister intrapsychisch immer präsent, man kann sich von ihnen nicht trennen.

Inés Brock ist auf psychodynamische und systemische Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen spezialisiert. Darüber hinaus ist sie Familientherapeutin, studierte Lehrerin und Erziehungswissenschaftlerin.

Literatur

Sandra Konrad: Das bleibt in der Familie. Von Liebe, Loyalität du uralten Lasten. Piper, München 2014

Edouard Louis: Das Ende von Eddy. Fischer, Frankfurt a. M. 2014

Michael Bordt: Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen. Elisabeth Sandmann Verlag, 6. Edition, München 2017

Andreas Steiner: Alles Schicksal? Wie wir uns aus Familienmustern befreien. Herder, Freiburg 2020

Karl Heinz Brisch: Psychologische Aspekte der Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern. Hauner Journal, Zeitschrift des Dr. von Haunerschen Kinderspitals München, 41/42 (2010), S. 20-27

Dan Bar-On: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern. Körber Stiftung, Hamburg 2004

Inés Brock: Geschwister verstehen. Professionelle Begleitung von Kindern und Erwachsenen. Ernst Reinhardt, München 2020

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2022: Stille Aufträge