Narzissmus

Die Persönlichkeitsstörung ist in aller Munde – überall lauern scheinbar selbstverliebte Egomanen. ► Doch wie tickt ein Narzisst wirklich?

Die Illustration zeigt eine surrealistische Umgebung. Ein Körper ist von hinten zu sehen, dessen Kopf eine Luftblase zeigt, die sich in einem Spiegel verliert. Auf dem Schachbrett im Hintergrund springt ein Mensch, zwei Masken erscheinen am Rand.
Narzisstische Persönlichkeitszüge trägt jeder von uns in sich – eine tatsächliche Störung liegt aber nur in den seltensten Fällen vor. © Dave Hänggi

Definition

Populär wird Narzissmus oft als Selbstverliebtheit aufgefasst. Davon zeugt der Mythos, wie er etwa vom römischen Dichter Ovid beschrieben worden ist: Narziss, ein schöner junger Mann, hat viele Verehrer und Verehrerinnen. Doch sie interessieren ihn nicht. Er ist nur von sich selbst fasziniert. Als er sich in der Spiegelung des Wassers erblickt, verzehrt er sich so sehr nach sich selbst, dass er vor lauter Verlangen stirbt. Übrig bleibt nur die gelbe, namensgebende Blume.

Populär versus wissenschaftlich

Aus Sicht der wissenschaftlichen Psychologie wird unter Narzissmus eine Mischung der folgenden Eigenschaften verstanden:

  1. Großartigkeit (im Verhalten oder in der Fantasie)

  2. das Bedürfnis nach Bewunderung

  3. ein Mangel an Empathie

Narzissten und Narzisstinnen neigen zu Dominanz, Selbstüberschätzung und Überempfindlichkeit gegen Kritik. Sie sind oft charismatisch, ehrgeizig, wirken interessant und attraktiv. Wenn man sie etwas länger kennt, treten jedoch negative Eigenschaften zu Tage. Egozentrismus etwa oder die Tendenz, andere auszubeuten.

Persönlichkeitsmerkmal oder Störung

Der Narzisst in uns allen

Als Persönlichkeitsmerkmale tragen wir alle narzisstische Anteile in uns, dazu gehören sehr vorteilhafte und wichtige Aspekte wie Selbstbewusstsein, eine gewisse Selbstbezogenheit, die es uns erlaubt, unsere Wünsche und Ziele wahrzunehmen oder die Durchsetzungsfähigkeit und Erfolgsorientierung, die nötig sind, um diesen näher zu kommen. Treten bestimmte Eigenschaften zusammen auf und führen zu einem charakteristischen Verhalten – besonders in zwischenmenschlichen Situationen – spricht man von einem Persönlichkeitsstil. Im Fall von Narzissmus kann sich dieser unter anderem in einer Anspruchs- und Leistungsorientierung aber auch extremer Kränkbarkeit zeigen. Ein Persönlichkeitsstil ist nicht problematisch, Narzissten sind in unserer Gesellschaft oft erfolgreich und anerkannt. Schwierigkeiten bekommen sie – oder ihr Umfeld – jedoch, wenn ihr Persönlichkeitsstil das Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung annimmt, der Übergang ist in der Regel fließend.

Diagnose: Narzissmus

Ist der Persönlichkeitsstil einer Person so markant, dass diese normverletzend und sozial unflexibel wird, kann es sich um eine Persönlichkeitsstörung handeln, eine klinische Diagnose. Um sie zu diagnostizieren, müssen neben dem Persönlichkeitsstil auch folgende Kriterien erfüllt sein, schreiben Peter Fiedler und Sabine Herpertz in ihrem Buch „Persönlichkeitsstörungen“.

  1. Die Person leidet unter sich selbst und/oder

  2. es ist ein persönlichkeitsbedingtes Risiko der Entwicklung einer substanziellen psychischen Störung gegeben und/oder

  3. die betreffende Person ist mit Ethik und Recht im Konflikt geraten und etwaige Ethikverletzungen lassen sich mit der Persönlichkeit begründen.

Narzissten und ihr soziales Umfeld

Von einigen Therapeutinnen wird Narzissmus im Wesentlichen als Beziehungsstörung verstanden. Denn die narzisstische Dominanz, Suche nach Bewunderung und die Tendenz andere für ihre Zwecke zu missbrauchen, machen es Narzissten schwer, in aufrichtige, gegenseitige Beziehungen zu treten.

Liebe ich einen Narzissten? Narzissten und Paarbeziehungen

Mitunter verliebt man sich schnell in Narzisstinnen und Narzissten, denn sie sind oft faszinierend. Da sie besonders und bewundert sein wollen, treten sie originell, charismatisch oder humorvoll auf. Sie sind kreativ, unterhaltsam und sorgen für besondere Erlebnisse. Problematisch wird es, wenn sie wenig Empathie haben. In ihrem Buch „Bin ich ein Narzisst?“ beschreiben die Psychotherapeuten Claas-Hinrich Lammers und Gunnar Eismann folgende Schwierigkeiten, die dann auftreten:

  1. Er muss immer im Mittelpunkt stehen: Die Bedürfnisse und Interessen des Narzissten beanspruchen oft so viel Aufmerksamkeit, dass man als seine Partnerin nahezu hinter ihm verschwindet. Unter anderem sind Narzissten geschickt darin, Gespräch immer wieder auf ihre Themen zu lenken.

  2. Es muss immer nach ihren Wünschen gehen: Viele Partner von Narzisstinnen fühlen sich nicht nur nicht gesehen, sondern fremdbestimmt, da ihre Partnerin gerne möglichst alles bestimmt. Widersprechen sie ihr, drohen Nichtbeachtung oder Ablehnung.

  3. Er muss immer der Bessere sein: Extreme Narzissten schenken besonderen Eigenschaften, Fähigkeiten oder Erfolgen ihrer Partnerin oft wenig Beachtung, da sie nicht gut damit zurechtkommen, wenn andere etwas besser können als sie selbst. Manchmal geben sie jedoch auch vor anderen mit den Vorteilen ihrer Partnerin an, allerdings weniger mit ihren Eigenschaften und eher mit ihrer äußeren Attraktivität.

  4. Kritik ist unmöglich: Kritisiert man eine Narzisstin, kann man damit rechnen, dass sie gekränkt, beleidigt oder verärgert ist. Sie wird sich wahrscheinlich rechtfertigen oder zum Gegenangriff übergehen. Das führt dazu, dass man als Partner irgendwann keine Lust mehr hat, Kritik anzusprechen. So stauen sich die Probleme an.

  5. Man muss Abstand wahren: Narzissten meiden echte Nähe und sprechen ungern über Gefühle. Ihre Angst, sich schwach zu zeigen, verbergen sie hinter einer distanzierten Art. Als Partnerin ist das unzufriedenstellend. Es fehlt an Geborgenheit und Intimität.

  6. Sie ist unehrlich: Affären und flüchtige sexuelle Bekanntschaften sind für Narzisstinnen ein Weg, sich Bestätigung zu suchen. Dies wird nicht nur problematisch, wenn es um das Thema Treue geht. Auch für die bloße Selbstdarstellung nutzen sie Übertreibungen oder erfinden Geschichten, etwa über ihre Erfolge.

  7. Man fühlt sich ausgenutzt: Im Extremfall sehen Narzissten ihre Partnerin nicht als eigenständigen Menschen mit eignen Wünschen und Bedürfnissen, sondern als Objekt zur Befriedigung ihrer eigenen Ziele. Sie nutzen ihre Attraktivität zur Aufwertung ihres Selbst, ihre gesellschaftliche Stellung zum Erreichen beruflicher Ziele oder gebrauchen sie für ihre sexuellen Wünsche.

Allerdings sind nicht alle Narzisstinnen und Narzissten persönlichkeitsgestört und es gibt durchaus Konstellationen, die funktionieren können. Einerseits beispielsweise Paare mit zwei narzisstischen Menschen – die Partner werten sich dann quasi gegenseitig auf. Andererseits können sich eher selbstunsichere Partnerinnen bei Narzissten wohlfühlen. Die dominante Art von Narzisstinnen kann unsichere Personen entlasten, etwa weil sie ihnen Entscheidungen abnehmen kann. Wer die Eigenheiten des anderen akzeptiert, kann mitunter gut in einer Beziehung mit einer narzisstischen Person leben. Wenn man sich aber dauerhaft nicht wertgeschätzt und respektiert fühlt, wenn die eigenen Bedürfnisse nie erfüllt werden oder der Partner den eigenen Selbstwert gefährlich ankratzt, lohnt es, sich zu überlegen, ob man sich nicht trennen sollte. Oft fällt dies schwer.

„Papa denkt nur an sich“ – Narzissmus in der Familie

  • Sind Elternteile narzisstisch, gelingt es ihnen in ihrer Selbstbezogenheit nicht, die Bedürfnisse der Kinder zu beachten. Stattdessen richten sich die Kinder nach den Wünschen der Eltern, sie sind permanent damit beschäftigt, zu erspüren, wie es ihren Vätern und Müttern geht. Nur wenn sie sich nach ihnen richten, bekommen sie Aufmerksamkeit oder Zuwendung. Der Preis ist, dass sie im Extremfall keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen entwickeln. So schreiben es Robert M. Pressmann und Stephanie Donaldson-Pressmann in ihrem Buch „The Narcissistic Family“. Während die Anpassung an die Bedürfnisse der Eltern im jüngeren Alter oft nicht direkt auffalle, komme es später zu Konflikten. Meistens dann, wenn die Kinder eigene Bedürfnisse und Themen entwickeln, weil sie weniger auf die Eltern fokussiert sind und mehr auf Gleichaltrige.

  • Unter den Charakteristika, die narzisstische Familien kennzeichnen, sei das auffälligste ein hohes Maß an Misstrauen. Das erklären Pressmann und Donaldson-Pressmann unter anderem damit, dass die offensichtlichen Schwierigkeiten beginnen, wenn die Kinder wagen, ihren eigenen Willen zu entwickeln – und mit der Ablehnung der Eltern konfrontiert werden. Ein weiteres typisches Merkmal narzisstischer Eltern sei das gelegentliche Überschütten der Kinder mit Aufmerksamkeit. Diese für das Kind unvorhersehbaren Situationen binden es umso stärker an die Eltern. Auch weil es das Vertrauen in sich selbst verliert, da es nicht nachvollziehen kann, wann es Zuwendung bekommt und wann nicht.

  • Andere Autoren betonen, dass es Narzissten und Narzisstinnen in der Beziehung zu ihren Kindern meist nicht um diese gehe, sondern um sich selbst, um die eigene Anerkennung, Bestätigung oder Spiegelung. Ihre Liebe sei nicht selbstlos, sondern diene der Selbstliebe. Oft benutzen Narzissten ihre Kinder als Erfüllungsgehilfen für die eigenen Wünsche. Sie sollen sozusagen Erweiterungen ihrer selbst darstellen. Deutlich wird dies etwa in narzisstischen Vätern, die die Erziehung ihren Partnerinnen überlassen und häufig in erster Linie ihren eigenen Interessen nachgehen. Bei entscheidenden Lebensfragen haben sie allerdings oft den Anspruch, das Kind zu führen, also ihm ihre Vorstellungen aufzuerlegen. Sie möchte sich in ihrem Kind widergespiegelt sehen.

  • Demgegenüber legen narzisstische Mütter oft Wert auf eine perfekte Fassade und sind vermeintlich engagiert in der Erziehung. Sie zeigen ihren Kindern gegenüber aber wenig Wärme oder Einfühlungsvermögen. Die Kinder dienen in erster Linie der Selbstdarstellung und eigenen Bedürfnisbefriedigung. ​ Das kindliche Bedürfnis nach Wärme und Zuwendung, Einfühlung oder positiver Rückmeldung bleibt unbeantwortet. Als Erwachsene berichten sie oft, dass sie sich in ihrer Kindheit „unsichtbar“ gefühlt haben.

  • Gerade in distanzierten oder abwertenden Familien zeigen manche Kinder narzisstische Verhaltensweisen, um sich vor negativen Emotionen oder Zurückweisung zu schützen. Sie entwickeln also selbst eine narzisstische Problematik.

Folgen im Erwachsenenalter

  • Viele Kinder von Narzisstinnen leiden als Erwachsene unter Depressionen, Selbstwertproblemen, Verlustängsten oder Beziehungsproblemen. Oft haben sie Schwierigkeiten, sich von den Gefühlen anderer Menschen abzugrenzen. Das ist verständlich, denn das Erspüren und Eingehen auf die Bedürfnisse anderer war in ihrer Kindheit sehr wichtig.

  • Häufig wählen Menschen, deren Eltern Narzissten sind, den Weg der Höchstleistungen, um mit ihrem instabilen Selbstwertgefühl umzugehen. Sie verausgaben sich im Studium oder Job, manchmal entwickeln sie eine chronische Erschöpfung, Burnout oder Essstörungen. Andere verweigern sich dem Leistungsanspruch, resignieren, gleiten in Sucht und Depressionen ab.

  • Auch die Wahl späterer Partnerinnen ist häufig geprägt von den Kindheitserfahrungen. Weil ihnen diese Beziehungsdynamiken vertraut sind, wählen Kinder narzisstischer Eltern oft Partner oder Partnerinnen, die ihre emotionalen Bedürfnisse ebenfalls nicht erfüllen könnten oder für die sie sorgen müssten

Was kann man dagegen tun?

  • Es kann befreiend sein, wenn man die Hoffnung aufgibt, dass Mutter oder Vater jemals echte Liebe oder Empathie zeigen werden. Manchmal hilft auch ein Kontaktabbruch. Er wird die Eltern sehr kränken, auch weil narzisstische Menschen Kontrolle und Macht über andere ausüben wollen. Allerdings kann er auch zu einem Neuanfangen führen, wenn sie dadurch ihr Verhalten reflektieren. Vielleicht kommt es auch in späteren Jahren zu einer Versöhnung und einem angenehmeren Umgang, denn in der Regel lassen narzisstische Persönlichkeitszüge mit dem Alter nach.

  • Für konkrete Situationen, in denen man mit einem sehr narzisstischen Familienmitglied zu tun hat, kann es helfen, vorab Grenzen zu kommunizieren.

Mein Chef, der Narzisst: Narzissmus im beruflichen Umfeld

Persönlichkeitseigenschaften wie Dominanz, Ehrgeiz, Charme und Selbstbewusstsein, aber auch die Suche nach Bewunderung führen dazu, dass Narzisstinnen oft Führungskräfte werden. Dass sie sich nicht einschüchtern lassen, sondern unabhängig sind, dass sie Freude an Wettbewerb haben und dass sie andere Menschen begeistern können, lässt sie diese Jobs gut ausführen. Allerdings zeigen sie sich auch manchmal unfähig, mit Kritik umzugehen, überfordern ihre Mitarbeiter oder verhalten sich arrogant und willkürlich. Bevor man sich beim Unternehmen darüber beschwert, sollte man in Betracht ziehen, wie sehr die Unternehmenskultur von Narzissmus geprägt ist. Ist sie das in hohem Maße, hat man womöglich wenig Chance auf Unterstützung und es ist langfristig klüger, selber zu gehen. Es lohnt sich auch zu überlegen, ob man nur aus finanziellen Gründen Mitarbeiterin eines narzisstischen Chefs ist – und ob diese das Leiden wert sind. Der Psychoanalytiker Michael Maccoby, der die Vor- und Nachteile narzisstischer Chefs und Chefinnen untersucht hat, empfiehlt, sich eine neue Anstellung zu suchen, wenn dieser Vorgesetzte einen nicht mehr widersprechen lässt. Um kurzfristig damit zurecht zu kommen, helfe es, sich daran zu erinnern, dass die Firma meist seiner Vision folgt und nicht der eigenen. Außerdem gibt er folgende Tipps:

  1. Fühlen Sie mit ihrer Chefin mit. Aber erwarten Sie nicht, dass sie das auch mit Ihnen macht

    Versuchen Sie stattdessen, Ihren Selbstwert woanders aufzubauen. Und bemühen Sie sich, zu verstehen, dass hinter ihrem Verhalten eine tiefe Verletzlichkeit steht. Loben Sie, was sie erreicht hat und unterstützen Sie ihre Impulse, wenn Sie diese gut finden. Aber seien Sie ehrlich, eine kluge Chefin durchschaut Schleimer und bevorzugt unabhängige Menschen, die sie ernsthaft schätzen. Zeigen Sie ihr, dass Sie ihren Ruf schützen, innerhalb wie außerhalb der Firma.

  2. Geben Sie ihm Ideen, aber wahren Sie sein Ansehen

    Versuchen Sie herauszufinden, was er denkt und nehmen Sie es ernst, bevor Sie ihm ihre Ansichten präsentieren. Wenn Sie glauben, dass er nicht recht hat, zeigen Sie ihm einen anderen Ansatz, der in seinem Interesse liegen könnte. Ist das nicht möglich, widersprechen Sie lieber nicht.

  3. Verbessern Sie Ihr Zeitmanagement

    Narzisstische Führungskräfte geben ihren Mitarbeitern oft mehr Aufgaben, als diese bewältigen können. Ignorieren Sie die, die keinen Sinn ergeben. Auch ihre Chefin wird sie vergessen. Nehmen Sie sich außerdem nur Auszeiten, wenn sie wissen, dass gerade wenig los ist. Narzisstische Chefinnen fühlen sich frei, Sie jederzeit um etwas zu bitten.

Narzisstisches Selbstbild und Ursachen

Grandioser Narzissmus versus vulnerabler Narzissmus

Was Laien klassischerweise unter Narzissmus verstehen, also ein dominantes, großspuriges, arrogantes Verhalten, bezeichnen Psychologinnen als „grandiosen Narzissmus“. Er ist leicht zu erkennen, anders als eine zweite Form des Narzissmus: der vulnerable oder verdeckte. Manchmal wird er auch als weiblicher Narzissmus bezeichnet, dabei kann er bei beiden Geschlechtern vorkommen. Menschen mit vulnerablem Narzissmus erscheinen auf den ersten Blick überhaupt nicht narzisstisch. Sie wirken angepasst, zurückhaltend, manchmal selbstunsicher oder leicht depressiv. Allerdings haben sie die gleiche Anspruchshaltung wie grandiose Narzissten, eine ebensolche Selbstbezogenheit, Grandiosität sowie einen Mangel an Empathie – nur verbergen sie dies zunächst. Sie trauen sich nicht, diese zu zeigen, weil sie an einem geringen Selbstwert, Scham, Hilflosigkeit oder Angst leiden. Diese verletzlichen Seiten und damit verbundene Selbstwertproblematik haben übrigens auch viele grandiose Narzisstinnen, wenn auch nicht alle. Nur wird sie bei Ihnen hinter eine Fassade der Großartigkeit verbannt. Dass man es mit einem vulnerablen Narzissten zu tun hat, erkennt man mit der Zeit, dann weicht die Angepasstheit und das Anspruchsdenken tritt zu Tage. Er reagiert empfindlich auf kleinste Irritationen und Zurückweisungen, empfindet andere Menschen schnell als feindselig oder egoistisch, ist abweisend, zieht sich zurück, reagiert beleidigt oder aggressiv.

Entwicklungspsychologische Ursachen eines ausgeprägten Narzissmus

Die Ursachen von Narzissmus könnten teilweise in den Genen liegen, wahrscheinlich spielen die Erziehung und frühe Kindheitserfahrungen eine Rolle. Gesichertes Wissen, warum jemand narzisstische Persönlichkeitszüge entwickelt, gibt es nicht, stattdessen viele verschiedene Theorien:

  1. Verhätscheln – die Lerntheorie von Theodore Millon: Sie wird vor allem von Verhaltenstherapeuten herangezogen und sieht die Gründe darin, dass Eltern ihre Kinder so erzogen haben, dass diese sich überwertig fühlen. Sie haben diese ständig gelobt und als „etwas Besseres“ betrachtet, ohne die tatsächlichen Leistungen ihrer Kinder oder andere Kinder zu beachten. Das ständige Bestärken führte bei den Kindern langfristig zur Selbstüberschätzung. Eine Längsschnitt-Studie an der Universität Amsterdam erbrachte Daten, die für diesen Theorie sprechen. Dabei wurden 565 Kinder zu mehreren Zeitpunkten nach ihrer Zustimmung zu narzisstischen Gedanken gefragt, etwa „Kinder wie ich verdienen etwas Besonderes“, ebenso wurde untersucht, ob die Eltern narzisstische Einstellungen zu ihren Kindern zeigten, es wurde also gefragt, wie sehr sie etwa dem Satz „Mein Kind verdient eine besondere Behandlung“ zustimmten. Kinder, deren Eltern solch überhöhte Meinungen von ihnen hatten, zeigten zu späteren Zeitpunkten narzisstische Züge.

  2. Vernachlässigung – Heinz Kohuts Erklärung: Im Gegensatz dazu sah der Psychoanalytiker Heinz Kohut die Ursache von Narzissmus in Eltern, die zu wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung zeigten. Er ging davon aus, dass ein natürlicher, primärer Narzissmus, der eine natürliche Libido des Kindes auf sich selbst beschreibt, gestört wird, wenn das Kind begreift, dass die mütterliche Fürsorge begrenzt ist. Um das zu kompensieren und die vorherige Vollkommenheit wieder zu erlangen, baut es ein grandioses Bild von sich selbst auf. „Größenselbst“ nennt Kohut dieses. Ebenso kreiert es sich ein idealisiertes Bild von den Eltern. Normalerweise werden diese Idealisierungen in der späteren Entwicklung aufgelöst. Gelingt dies nicht, weil die Eltern das Kind vernachlässigend, unempathisch oder abwertend erziehen, so wirken die Idealisierungen in verdrängter unterbewusster Form weiter. Später äußern sie sich in unbefriedigten Größenansprüchen und beschämenden Minderwertigkeitsgefühlen. Sie sind die Ursachen für die Tendenz, andere abzuwerten. Auf diese Weise fassen Sven Barnow und David Roth Kohuts Theorie im Buch „Persönlichkeitsstörungen: Ursachen und Behandlung“ zusammen.

  3. Borderline ähnlich – Otto Kernbergs Theorie: Innerhalb der psychoanalytischen Szene konkurriert die Erklärung Heinz Kohuts mit der Otto Kernbergs. Dieser zufolge ist die Narzisstische Persönlichkeitsstörung der Borderline-Persönlichkeitsstörung sehr ähnlich. Beiden fehle der gesunde Narzissmus im Sinne eines stabilen Selbstwertes und Betroffene haben große Angst, abgewiesen zu werden. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung sei jedoch die weniger schwere, weil sie über einen komplexen Abwehrmechanismus verfügt: Hinter Größen- und Unabhängigkeitsfantasien werden die ursprüngliche Borderlinestruktur sowie die zwischenmenschliche Unsicherheit versteckt.

  4. Feedbackproblem: Für den Verhaltenstherapeuten Aaron T. Beck liegt dem Narzissmus unter anderem ein Feedback-Problem zugrunde, schreiben Fiedler und Herpertz. Die Hauptprobleme narzisstischer Menschen sehe Beck in zwischenmenschlichen Situationen, etwa einem Mangel an Empathie und extremer Angst vor Kritik. Andere Menschen bedrohten die Narzisstin, wenn sie ihre großartige Ansicht ihrer selbst nicht teilen. Dies führt zu einem Rechtfertigungsdruck und bindet sie umso stärker an ihre überwertigen Überzeugungen. Um ihr Größenselbst zu schützen, wertet sie andere ab.

Woran erkenne ich, ob ich narzisstisch bin – Selbsttest

Narzisstische Persönlichkeitszüge weisen viele Menschen auf – die untenstehende Checkliste nennt die wichtigsten. Für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung gilt nach dem Diagnosemanual DSM 5, dass mindestens fünf davon erfüllt sein müssen.

  • Man hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (zum Beispiel übertreibt man die eigenen Leistungen und Talente; erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden).

  • Man ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe.

  • Man glaubt von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können.

  • Man verlangt nach übermäßiger Bewunderung.

  • Man legt ein Anspruchsdenken an den Tag (das heißt übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder das automatische Eingehen auf die eigenen Erwartungen).

  • Man verhält sich in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch (das heißt, man zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen).

  • Man zeigt einen Mangel an Empathie: Ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren.

  • Man ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf einen selbst.

  • Man zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen.

Therapiemöglichkeiten

Auch wenn der Gedanke weit verbreitet ist, dass eine narzisstische Persönlichkeitsstörung kaum zu behandeln ist, gibt es positive Therapieverläufe. Viele Betroffenen wollen jedoch nicht in Therapie oder brechen diese nach kurzer Zeit ab. Wenn sie sich überhaupt Hilfe suchen, so in der Regel wegen zwischenmenschlichen Problemen, etwa wenn der oder die Partnerin sie schickt. Neben Beziehungskrisen können auch andere Krisen dazu führen, dass ein Narzisst eine Therapie beginnt, etwa Statusverlust oder ein (öffentlicher) Misserfolg. Aus Gefühlen von Scham oder Versagen reagieren Narzisstinnen nach solchen Ereignissen oft mit unüberlegten Verhaltensweisen wie übermäßigem Alkohol, Selbstaufgabe (etwa in Form der Kündigung des Jobs) oder dem Kontaktabbruch mit wichtigen Personen. Manchmal kommt es auch zu Suizidgedanken oder -handlungen. Je nach therapeutischer Schule und den individuellen Bedürfnissen und Schwierigkeiten des Patienten gehen die Therapeutinnen in der Behandlung unterschiedlich vor. Dennoch beschreiben Lammers und Eismann Aspekte, um die es in fast jeder Therapie geht:

  • Betroffene lernen Einsicht in ihre Selbstwertregulation zu bekommen. Etwa indem sie sich fragen: „Was versuche ich mit meinen narzisstischen Verhaltensweisen zu erreichen?“ oder „Wie hängen mein grandioses und mein vulnerables Selbst zusammen?“

  • Es wird an der Empathiefähigkeit gearbeitet, zum Beispiel indem sich die Patienten darin üben, die Perspektive anderer einzunehmen, unter anderem in Rollenspielen.

  • Es werden die biografischen Aspekte der narzisstischen Problematik beleuchtet. Zum Beispiel indem man sich fragt „Welche Menschen haben mich geprägt?“

  • In der therapeutischen Beziehung erleben die Patientinnen, wie entlastend es sein kann, sich anderen gegenüber auch mit Schwächen zu zeigen und mit seinen Problemen zu öffnen.

Lammers und Eismann schreiben auch, dass es bei Beziehungsschwierigkeiten und leichten Ausprägungen von Narzissmus hilfreich sein könne, eine Paartherapie zu machen. Handelt es sich um eine manifeste Persönlichkeitsstörung bieten sich spezialisierte Behandlungsansätze an, zum Beispiel die aus der Verhaltenstherapie kommende Schematherapie oder die Übertragungsfokussierte Psychotherapie, ein psychodynamisches Verfahren.

Quellen

Sven Barnow (Hg.): Persönlichkeitsstörungen: Ursachen und Behandlung, Hogrefe 2007

Eddie Brummelman u.a.: Origins of narcissism in children. Proceedings of the National Academy of Sciences, 112/12, 2015, 3659-3662.

Peter Fiedler, Sabine Herpertz: Persönlichkeitsstörungen, Beltz 2016

Claas-Hinrich Lammers, Gunnar Eismann: Bin ich ein Narzisst? Schattauer, Stuttgart 2019

Maccoby, Michael: Narcissistic leaders. Contemporary Issues in Leadership 19, 2012

Donaldson-Pressman, Stephanie, Robert M. Pressman: The narcissistic family: Diagnosis and treatment. Jossey-Bass, 1997

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