Erschwerte Ablösung

Die Zürcher Psychologin Andrea Kager erklärt im interview, warum es wichtig ist, dass junge Erwachsene rechtzeitig von zu Hause ausziehen.

Ein Mann sitzt in der Hocke auf einem Dreirad, daneben ebenfalls auf einem Dreirad, sein erwachsener Sohn, der sich von seinen Eltern nicht ablösen kann
Die Pandemie lässt die Ablösung von den Eltern aus den Fugen geraten. © Paul Koncewicz, aus dem Langzeitprojekt "Paul / Paweł“

Frau Kager, lauft der Ablösungsprozess junger Erwachsener heute anders als in vergangenen Jahrzehnten?

Ja, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Das Verhältnis ist in vielen Familien weniger hierarchisch, die Eltern bemühen sich um eine freundschaftliche Beziehung zu ihrem Nachwuchs. Die Beziehung ist entspannt und im besten Falle auf Augenhöhe. Doch diese Idylle hat auch ihre Tücken. Grundsätzlich ist es so, dass junge Erwachsene das Elternhaus das erste…

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diese Idylle hat auch ihre Tücken. Grundsätzlich ist es so, dass junge Erwachsene das Elternhaus das erste Mal verlassen, wenn sie institutionalisierte Übergänge im Lebenslauf vollziehen, zum Beispiel die Schule beenden. Der Auszug ist heute jedoch durch verschiedene Faktoren erschwert.

Welche sind das?

Ein wichtiger Aspekt ist die wirtschaftliche Situation. Der Berufseinstieg ist in vielen Bereichen geprägt durch befristete Anstellungen oder mehrere Praktika, die es für junge Erwachsene schwierig machen, größere finanzielle Verbindlichkeiten einzugehen. Die Ausbildungen ziehen sich über viele Jahre hin, sind teuer und oft verbunden mit mehreren Auslandsaufenthalten. Manches Studium ist außerdem so zeitintensiv, dass es kaum möglich ist, nebenher zu jobben. Nicht wenige Jugendliche entscheiden sich nach einer abgeschlossenen Lehre, ihren Ausbildungsweg fortzusetzen. Wenn Kinder in der Heimatstadt studieren, stellen sich die Eltern häufig auf den Standpunkt, dass zu Hause genügend Wohnraum zur Verfügung stehe, und der Nachwuchs bleiben sollte. Hinzu kommt, dass die Jugendlichen ihr Geld oftmals lieber in andere materielle Wünsche investieren, verreisen, ausgehen, shoppen, statt es für teure Mieten auszugeben. Und in den meisten Städten gibt es leider auch zu wenig bezahlbaren Wohnraum.

Welche Ursachen kann es haben, wenn Töchter und Söhne keine Anstalten machen, auszuziehen?

Wir müssen hier zwischen den erwähnten äußeren Faktoren und den inneren Notwendigkeiten unterscheiden. Innere Not­wendigkeiten für die Ablösung sind beispielsweise soziale Kompetenzen, Bindungsfähigkeit und Selbstvertrauen. Das wirft einige Fragen auf: Sind die jungen Frauen und Männer in der Lage, Konflikte zu bewältigen? Wie steht es um ihre Frustrationstoleranz und Belastbarkeit? Sind sie fähig, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen? Haben sie Angst vor dem Alleinsein? Bei einer weitgehend gesunden Entwicklung verfügen Jugendliche über diese Fähigkeiten oder können sie aufbauen.

Wenn Jugendliche in der gewohnten Situation verharren, weil sie die elterliche Beziehung und die damit verbundene zwischenmenschliche Unterstützung sowie die vertraute Rollenverteilung nicht missen wollen oder weil sie sich so weniger um die Realität und die Anforderungen des Alltags kümmern müssen, sollten Eltern ihren Nachwuchs ermutigen, die notwendigen Ablösungsschritte zu gehen. Sollte dies nichts nützen, lohnt es sich, die Grundkonflikte jeder psychischen Entwicklung – wie Abhängigkeit und Autonomie, Versorgung und Autarkie, Identität und Dissonanz – zu überprüfen. Dies gilt nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern.

Auch diese sind nämlich aufgefordert, sich dem psychischen Schmerz auszusetzen, den die Abnabelung der Kinder bedeutet. Das „Leeres-Nest-Syndrom“ kann gemildert werden, wenn sich die Eltern im Vorfeld die Frage stellen, wie ausgefüllt ihr Leben ohne die Kinder ist. In der Regel sind es die inneren Faktoren in Form von unbewussten Bindungen und Verstrickungen, die für schwierige Ablösungsprozesse auf beiden Seiten verantwortlich sind.

Gibt es Übertragungen und Projektionen, die sich behindernd auswirken?

Sowohl Eltern als auch Jugendliche sind in diesen Situationen gefordert, gegenseitige Abhängigkeiten und Rollenfixierungen zu reflektieren. Eltern müssen sich fragen, welche zentrale Funktion das Kind für sie hat. Ist es dazu angehalten, wie ein Partner, ein Elternteil, eine Freundin zu sein? Hat das Kind zum Beispiel bei streitenden Eltern die Rolle als Anwalt, Schlichter oder Richter inne? Fühlen sich die Kinder verantwortlich für das Wohlergehen ihrer Eltern und können nicht gehen, weil sie befürchten, dass die Eltern vereinsamen, sich trennen oder depressiv werden könnten? Die Ablösung von diesen parentifizierten Kindern ist schwierig, da diese ein bedeutsamer Faktor für die Balance des familiären oder elterlichen Systems sind. Hier ist es angezeigt, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Wie kann man den Nachwuchs allmählich auf den Auszug vorbereiten?

Das ist keine sehr einfache Frage, da sie bereits eine gewisse Überfürsorglichkeit beinhaltet. Überfürsorglichkeit ist für Ablösungsprozesse toxisch. Wichtig erscheint mir, dass Eltern die Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen bei Ablösungsschritten klar unterstützen, auch wenn sich ihnen vielleicht die Haare sträuben. Es kann sein, dass der erste Schritt misslingt. Und wenn der Nachwuchs wieder zurückflüchtet, dann ist es wichtig, dies als ersten Versuch zu sehen, auf den weitere folgen werden.

Wie können Eltern denn die Eigenverantwortung ihrer Kinder fördern?

Werden Kinder über Maßen unterstützt, gibt es für jedes Problem elterlichen Rat und Mitgefühl, haben Jugendliche zu wenig Raum, wichtige Erfahrungen zu machen, um Probleme auch selbständig zu lösen. Nur durch solche Erfahrungen lernen sie, dass es keine Katastrophe ist, wenn mal etwas schiefgeht, und dass aus Fehlern etwas Stärkendes entstehen kann.

Förderlich ist es, wenn Jugendliche für Fahrten mit Freunden oder das Pflegen teurer Hobbys etwas tun müssen. Es stärkt zudem das Selbstwertgefühl, mit kleineren Arbeiten in den Ferien eigenes Geld zu verdienen und Erfahrungen außerhalb der Familie machen zu können. Eltern sollten altersgemäß Verantwortung übergeben und unterstützen, dass ihre Töchter und Söhne Freundschaften und soziale Kontakte pflegen.

Welche Rolle spielt die Peergroup im Ablösungsprozess?

Sie stellt in der Pubertät einen Übergangsraum dar, sich von der Familie hin zur eigenen Selbständigkeit abzunabeln. Dieser Übergangsraum kann als eine Art Laboratorium für den Prozess des Selbstentwurfs und der Ichentwicklung verstanden werden. Die Eltern müssen nun aushalten, dass sie eine andere Bedeutung bekommen.

Gibt es hinsichtlich des Abnabelungsprozesses einen Un­terschied zwischen jungen Frauen und Männern?

Statistisch gesehen sind Männer oft bequemer und nehmen „Hotel Mama“ länger in Anspruch als Frauen. Möglicherweise liegt es auch daran, dass Mädchen stärker von den Eltern in Anspruch genommen werden als Jungs, dass sie trotz eines gewachsenen Bewusstseins für Gleichberechtigung immer noch mehr im Haushalt helfen oder für die Geschwister Verantwortung tragen müssen. Ich beobachte in meiner Praxis, dass einige junge Frauen dadurch aber auch recht lebenstüchtig sind und klare Vorstellungen haben, wie sie ihr Leben gestalten und welche Ziele sie verfolgen wollen. Manch junger Mann macht sich darüber zunächst weniger Gedanken. Das sollte man aber nicht generalisieren.

Können Eltern ihre Nesthocker zum Auszug zwingen?

Eltern sind nicht dazu gezwungen, mit ihren erwachsenen Kindern in einem Haushalt zu leben. Will der Nachwuchs trotz mehrfacher Aufforderung und klarer Kommunikation nicht ausziehen, ist es wichtig, dass die Eltern ihren Wünschen Nachdruck verleihen und den Jugendlichen eine Frist setzen. Wenn all dies nichts nützt und die Jugendlichen sich nicht von der Stelle bewegen, ist fachliche Hilfe angezeigt. Meist handelt es sich in diesen Fällen um eine Störung im familiären System. Finanziell gesehen bleiben Mutter und Vater ihren volljährigen Kindern so lange mit Unterhaltsleistungen verpflichtet, bis diese ihre berufliche Erstausbildung abgeschlossen haben. Verdient das volljährige Kind neben Schule oder Studium regelmäßig etwas dazu, verringert sich der elterliche Anteil.

Wenn Jugendliche getrennter Eltern bei Mutter oder Vater wohnen: Beschleunigt oder verlangsamt sich der Abnabelungsprozess?

Es gibt beides: Für manche Jugendliche besteht nach der Trennung der Wunsch, rasch auszuziehen. Nicht selten dann, wenn ein Elternteil oder beide neue Partner haben oder Geschwister hinzukommen. Die Integration in eine Patchworkfamilie ist für Jugendliche schwierig. Sie sind in der unmöglichen Situation, sich auf ein neues familiäres System einlassen zu müssen und sich gleichzeitig von diesem abzulösen.

Andere wiederum haben Schuldgefühle, den alleinstehenden Elternteil in Stich zu lassen. Es gibt sehr verschiedene Konstellationen, und es ist nicht möglich, von einem Ablösungsmuster zu sprechen.

Und es hat auch finanzielle Konsequenzen.

Sicher. Ab dem 18. Lebensjahr verfügen die Jugendlichen selbst über die Alimente. Das kann in einigen Fällen dazu führen, dass der betreffende Elternteil die Miete der Wohnung nicht mehr zahlen und somit diese nicht mehr halten kann, wenn der oder die Jugendliche auszieht. Es ist wichtig, dass für diese schwierigen Situationen Lösungen gefunden werden. Auch Scheidungskinder müssen sich rechtzeitig abnabeln können.

Sie plädieren dafür, dass junge Erwachsene nicht gleich mit ihrem Partner oder der Partnerin zusammenziehen, sondern sich in ihrer Rolle als selbständige Menschen allein oder in einer WG ausprobieren sollten. Warum?

Diesen Zwischenschritt finde ich sehr wichtig. Die Fahigkeit, allein sein zu konnen, muss erlernt und erfahren werden. Es geht darum, Eigenverantwortung zu übernehmen, und es ist eine Chance, sich selbst in einem neuen Kontext zu erfahren und die damit verbundenen Gefühle und Stimmungen kennenzulernen und auszuhalten. Das zeitweise Alleinsein zu ertragen ist ein wichtiges und stärkendes Gefühl und die Basis für eine geringere Abhängigkeit in Beziehungen. Weitere Erfahrungen sind, das Zusammenleben mit anderen zu organisieren, selbst einzukaufen, Wäsche zu waschen, Behördengänge zu erledigen und einen guten Umgang mit dem zur Verfügung stehenden Geld zu finden.

Kann ein zu früher Abschied zu psychischen Problemen führen?

Was ist ein früher Abschied? Fälle, in denen Jugendliche sehr früh ausziehen, haben oft mit schwierigen Verhältnissen im Elternhaus zu tun, zum Beispiel wenn die Eltern psychisch belastet sind. Ein frühes Ausziehen beginnt in der Regel mit 15 oder 16 Jahren. Ob das gutgeht oder nicht, hat mit den psychischen und sozialen Ressourcen der Jugendlichen zu tun. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage: Gibt es andere, Halt gebende Bezugspersonen und eine verlässliche und stabile Peergroup? Beziehungsprobleme oder die Trennung der Eltern während der Pubertät können Grund für ein vorzeitiges Ausbrechen der Jugendlichen sein. Wenn das familiäre System zerfällt, nehmen Eltern nicht selten mit ihrer Trennung die Ablösung der Kinder vorweg.

Was ist, wenn die Kinder wieder zu Hause einziehen wollen?

Die sogenannten boomerang kids, Kinder, die nach längerer Selbständigkeit wieder ins elterliche Nest zurückkommen, sind meist jene, die ihren Job verloren, sich vom Partner getrennt oder einen längeren Auslandsaufenthalt beendet haben. Wichtig erscheint mir, diese Rückzüge als zeitlich befristete Überbrückungsmaßnahme zu gestalten. Den jungen Erwachsenen sollte vermittelt werden, dass es vielleicht gerade nicht geklappt hat oder etwas schwierig ist, aber dass dies keineswegs ein Grund zum Aufgeben ist. Wichtig ist, ihr Vertrauen zu stärken, dass sie es mit der Realität und allen damit verbundenen Schwierigkeiten aufnehmen können. Eltern sollten nicht als Notanker benutzt werden und sich auch selbst nicht vorschnell dazu zur Verfügung stellen. Zum Beispiel nach dem Motto: Wenn die Kinder nicht klarkommen, können sie jederzeit zurück nach Hause. Ablösung heißt ja nicht Kontaktabbruch, sondern beinhaltet einen Transformationsprozess, damit sich eine neue Beziehung zwischen Eltern und Kindern entwickeln kann.

Und wenn Eltern nicht loslassen wollen?

Möglicherweise haben sie dann noch keine Vision, wie ihr Leben ohne Kinder aussehen könnte. Vielleicht ist das Haus oder die Wohnung dann zu groß, möglicherweise verändern sich Freundschaften, ja überhaupt: Wie wird nun die Freizeit gestaltet? Lang Vernachlässigtes kann wieder Platz finden.

Wenn es in der Ehe kriselt, stehen beide vor der Frage, warum sie ihr Paarleben vernachlässigt haben und was sie über die Kinder hinaus noch verbindet. Eltern, die nur noch wegen der Kinder zusammengeblieben sind, trennen sich nicht selten in dieser Phase. Generell gilt, dass es sich lohnt, durch den mitunter äußerst schmerzhaften Ablösungsprozess zu gehen. Ist er bewusst durchgestanden, kann er eine stärkende und positive Erfahrung für alle sein. 

Eine Ablösung von beiden Seiten ist also wichtig.

In jungen Jahren ab zwanzig ist es an der Zeit, den eigenen Lebensweg zu finden, das gelingt am besten durch eine raumliche Trennung. Im Zusammenleben von Eltern und ihren erwachsenen Kindern kommt es naturgemäß zu Konflikten, es gibt zu wenig Privatsphäre und somit weniger Chancen, sich unabhängig zu entwickeln. Wohlwollende Mütter und Väter machen sich ja doch ständig um irgendetwas Sorgen. Selbst wenn der Ablösungsprozess heute anders verläuft als früher: Kinder sollten raus, um ihren eigenen Weg zu gehen und Erfahrungen zu sammeln. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, nach vollzogener Ablösung den Eltern auf Augenhohe zu begegnen.

Wissenschaftliche Studien belegen, dass junge Erwachsenen, die eine äußere und innere Ablösung durchlaufen haben, sich erwachsener fühlen und sogar auch eher bereit sind, in schwierigen Lebenssituationen Rat und Unterstützung der Eltern anzunehmen. Solange Kinder nicht ausgezogen sind, spuren sie nicht immer, wer sie wirklich sind, was ihre Stärken und Schwächen sind, was ihre Persönlichkeit ausmacht. Das merken sie erst in ihrer Selbständigkeit.

Wie wirkt sich die Coronakrise Ihrer Erfahrung nach aus?

Die Pandemie hat die Ablösung der Jugendlichen von ihren Eltern aus den Fugen geraten lassen. Der Start ins neue Leben, in die Berufslehre, in das Studium, der geplante Auslandsaufenthalt, die erste große Reise, das Praktikum, Schul- und Studienabschlussfeiern, alle in normalen Zeiten wichtigen Ablösungsschritte und Übergangsrituale, die immer auch ein notwendiges Probehandeln darstellen, sind vor den ungläubigen Augen aller Beteiligten wie Schnee an der Sonne geschmolzen. Die teilweise finanzielle Unabhängigkeit vieler Studierender und Lehrlinge, ermöglicht durch einen vielfältigen Markt an Ausbildungsstellen und Nebenjobs, ist Geschichte. Wohngemeinschaften fallen auseinander, da die ökonomische Belastung nicht mehr tragbar ist. Studien und Lehrstellen werden unterbrochen, abgebrochen oder gar nicht erst aufgenommen. Ungewisse Zukunftsaussichten führen dazu, dass Jugendliche nicht wie erwartet ausziehen oder unverhofft zurückkehren.

Eltern und Jugendliche zeigen dabei viel Resilienz. Gemeinsam entwickeln sie Strategien, wie sich die Familie vor dem Virus schützt und wie mit den unerwarteten neuen Bedingungen umgegangen werden kann. Das benötigt intakte familiäre Strukturen, Wohnraum, Großzügigkeit und Offenheit. Familien, die bereits vorher unter psychischen Belastungen gelitten haben, sind in der Pandemie um ein Vielfaches belasteter.

Andrea Kager ist Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin und Paartherapeutin in eigener Praxis in Zürich. Sie ist Vorstandsmitglied bei „Cinépassion“, Psychoanalyse und Film in Zürich

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2021: Menschen verstehen wie die Profis