Heimat hat mit Zugehörigkeit zu tun. Wenn sie verlorengeht, ist die Identität von Menschen in Gefahr. Daraus kann ein inneres Unbehaustsein entstehen. Das hat schon Jean Améry in die eindrücklichen Worte gefasst: „Denke ich zurück an die ersten Tage des Exils in Antwerpen, dann bleibt mir die Erinnerung eines Torkelns über schwankenden Boden. […] Man wusste nicht mehr, wer man war.“ Diesen Selbstverlust hat ein anderer exilierter Schriftsteller, György Konrad, so beschrieben: „Wenn du all das verlässt, was…
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so beschrieben: „Wenn du all das verlässt, was zu dir gehört, verlässt du dich selbst.“
Heimat und Identität – das zeigen diese Zitate – haben miteinander zu tun. Doch was ist damit gemeint? Heimatgefühl und Identität lassen sich nicht scharf definieren. Sie können nicht wie Dinge wahrgenommen und ausgemessen werden. Sie lassen sich auch im Gehirn nicht genau lokalisieren. Sie werden meist erst bewusst erlebt, wenn sie abhandengekommen sind, also wenn dem Menschen etwas fehlt und er leidet. Dann können Hirnareale, die sensorischen Schmerz anzeigen, aktiviert sein.
Man muss nicht zwangsweise das eigene Land verlassen, um im Exil zu sein. Heimatlos und identitätsverlustig kann man sich auch als unverstandener, stigmatisierter oder kranker Mensch im Herkunftsland empfinden. Immer mehr Menschen scheinen sich heute in ihren Wohngemeinden und Familien nicht mehr recht beheimatet zu fühlen. Zudem nimmt die Einsamkeit in der verstädterten und digitalisierten Welt zu – nicht nur unter Älteren.
Die große Verunsicherung
Die tiefe Verunsicherung vieler Menschen führt dazu, dass auch die Medien die Thematik von Heimat und Identität aufgegriffen haben. Viele Berichte handeln von Menschen, die sich an den Rand gedrängt, ungerecht behandelt, gemobbt, überfordert oder allein gelassen fühlen. Vielfach wird die Verunsicherung auf die Migrationsbewegungen zurückgeführt. Zu diesem Verlust an äußerem und innerem Heimatgefühl kann aber auch der rasche gesellschaftliche Umbruch beitragen. Vertraute Beziehungen fallen weg, sei es infolge vermehrter Umzüge und größerer Mobilität, die dem modernen Menschen abverlangt werden, oder durch den Wegfall institutionalisierter, zum Beispiel kirchlicher Gemeinschaften infolge stärkerer Individualisierung.
Die Identitätsentwicklung ist heute auch deshalb fragiler geworden, weil viele Menschen schon als Kinder mehr Brüche erfahren und auch als Erwachsene häufiger mit beruflichen Neuausrichtungen und privaten Umstellungen konfrontiert sind. Das macht sie weniger heimisch.
Identität in einer heimatlosen Welt
Die Beschäftigung mit Heimat beginnt also nicht mit deren Besitz, sondern mit deren Verlust. Auch heute rückt die Heimat nicht deshalb in den Fokus, weil sie wie selbstverständlich gegeben ist, sondern weil sie in Globalisierung, Mobilisierung, Fluchtbewegungen, Landschaftszerstörung und Virtualisierung als gefährdet erlebt wird.
Heimweh ist heute meist die Suche nach Selbstgewissheit in einer sich rasch verändernden Welt, die auch die eigene Identität verunsichert. Deshalb glaube ich nicht, dass die Angst, an Sicherheit und Geborgenheit zu verlieren, mit einem volksbezogenen oder nationalen Heimatbegriff beseitigt werden kann. Die Verunsicherung betrifft uns persönlich, unser „Selbst“ und unsere Identität. Auch wenn der Heimatbegriff heute wieder Konjunktur hat, so hat er sich gegenüber früher stark verändert. Es hilft nicht weiter, wenn wir ihn nur örtlich oder räumlich verstehen.
Heimat geschieht hauptsächlich in Naturerfahrungen, in zwischenmenschlichen Beziehungen und in vertrauter Sprache. Wenn die Welt anglifiziert oder amerikanisiert wird, die kulturellen Grenzen einbrechen und fast alle Menschen auf der Erde der gleichen Kleidermode unterworfen sind, hilft es nicht, wenn globale Fast-Food-Ketten in nationalen Kampagnen Schweizer Rösti oder Nürnberger Lebkuchen propagieren, um unsere Identität zu stärken. Auch der Erfolg örtlicher Ausnahmetalente, die Gold für eine Nation erobern, macht uns nicht selbstsicherer.
Identität macht Bindung nötig, wie auch Heimat je nachdem persönliche Beziehungen, Vertrautheit mit einer Landschaft oder Verankerung in einer bestimmten Kultur nötig macht. Vielleicht kämpfen Naturschutzorganisationen und ökologisch engagierte Gruppierungen mehr für Heimat als jene, die immer davon reden. Heimat gewinnt man nicht durch Ausgrenzung. Allerdings machen vertraute Beziehungen auch subtile Grenzen nötig. In gleicher Weise kann Heimat nicht grenzenlos, global oder universell erfahren werden.
Heimat als „Plombe“
Es ist deshalb kaum überraschend, dass Menschen heute häufiger therapeutische Hilfe suchen, um mit aufkommenden psychosozialen und emotionalen Problemen umzugehen. Ist ihr Hilfsappell aber auch eine Art verschämte Heimatsuche?
Adolf Muschg hat sich als Schriftsteller früh damit auseinandergesetzt. In einem Frühwerk mit dem Titel Albissers Grund sucht die Romanfigur Albisser in einer Psychotherapie nach Verständnis und Geborgenheit, die er in seiner Kindheit vermisst hat. Er trifft auf einen ungewöhnlichen Therapeuten, der ihm das Gesuchte verweigert. Im Roman schießt Albisser auf seinen Therapeuten und verletzt ihn schwer.
Der Roman hat dichterisch verarbeitete autobiografische Züge. Adolf Muschg war vor seiner schriftstellerischen Tätigkeit – wie sein Romanheld Albisser – Gymnasiallehrer und litt wie dieser unter schweren hypochondrischen Störungen. Muschg suchte Hilfe bei dem bekannten Psychoanalytiker Paul Parin. Er erhoffte sich Heilung von seinen belastenden Symptomen. Dies blieb ihm versagt. Doch entwickelte Muschg – auch über eine anschließende körperorientierte Psychotherapie und dank seiner schriftstellerischen Auseinandersetzung – die Einsicht, dass er in seinem Körper zu wenig zu Hause sei und er ihn wie einen Fremdkörper behandle.
Muschg hat sich im Alter auch dazu geäußert, was ihm Heimat bedeutet. Er schreibt: „Heimat hängt davon ab, ob wir ‚wir‘ buchstabieren lernen statt ‚ich‘ und ‚hier‘ sagen statt ‚anderswo und überall‘. […] Hic Rhodos, hic salta. Dieser Sprung am eigenen Ort ist nur möglich, wenn wir ihn als Heimat behandeln; genauso wie die Sozialgerechtigkeit mit dem nie ausgelernten Versuch anfängt, dem Nächsten gerecht zu werden.“
Interessanterweise findet sich bei Muschg im Alter eine positivere Wertung von Heimat als bei seinem Psychotherapeuten Paul Parin. Parin hat in einem provokativen Vortrag vor Therapeuten von „Heimat als Plombe“ gesprochen, die verhindere, dass sich die darunterliegenden Probleme zeigen könnten. Heimat diene dazu, „Lücken auszufüllen, unerträgliche Traumata aufzufangen“. Er schreibt: „Wer ein gutes Selbstgefühl hat, der hat Heimat; wem es daran gebricht, der habe Heimat.“ Damit identifiziert Paul Parin Heimat mit Identität, wertet sie zugleich aber als Füllmasse ab, die nur Menschen mit Identitätsproblemen nötig hätten.
Heimatsuche in der Therapie
Nun ist allerdings zweifelhaft, ob es die Identität, das gute Selbstgefühl, das zweifelsfrei und andauernd vorhanden ist, überhaupt gibt oder ob es gerade in der sich rasant verändernden Spätmoderne nicht eher darum geht, ein inneres Gleichgewicht immer wieder neu zu finden.
Dabei kann Psychotherapie bei größerer Problematik eine Hilfe sein. So kann sie dazu beitragen, innere und äußere Konflikte zu lösen. Sie kann das innere Gleichgewicht fördern, indem überfordernde Ansprüche an sich selbst abgebaut und gleichzeitig versteckte Ressourcen gestärkt werden. Sie kann zur Überwindung negativer und bedrückender Gedanken verhelfen („Ich bin nichts wert“, „Ich habe keine Zukunft“) und damit die Stimmung ausgeglichener machen.
Diese psychotherapeutische Hilfe ist aber nicht immer einfach. Sie basiert auf Verständnis, macht in der Regel aber auch eine Auseinandersetzung nötig. Ein inneres Zuhause wird nicht gefördert, indem man mit dem Therapeuten nur einer Meinung ist und bestimmte Ansichten, Theorien oder Ideologien teilt. Identitätsentwicklung braucht Zugehörigkeit und Abgrenzung. Eine gute therapeutische Beziehung, die für den Therapieerfolg so wichtig ist, soll nicht gleichmachen, sondern helfen, das Eigene besser zu entfalten.
Das kann unter den Begriff „Resonanz“ gefasst werden. Resonanz meint eine Beziehungsqualität, bei der sich die beteiligten Personen wechselseitig seelisch nahekommen, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Ein solcher Resonanzraum kann ein Heimatgefühl schaffen. Als kleinräumige Erfahrung steht auch die Psychotherapie im Gegensatz zu Globalisierung, Medialisierung und Verdinglichung, die Menschen letztlich heimatlos machen und zu Identitätsproblemen beitragen.
Das Schwinden des Schamgefühls
In diesem Prozess der Entfaltung einer eigenen Identität spielt das Schamgefühl eine meist unterschätzte Rolle. Identität setzt in der Regel Vertrautheit, ein Gefühl des Zuhauseseins voraus. Diese Vertrautheit umfasst immer auch das eigene Verhältnis zu anderen Menschen, sie ist eine Art „Selbständigkeit in Bezogenheit“.
Dazu ist Scham ein hilfreiches Regulativ. Scham hilft, Nähe und Distanz auszutarieren. Scham alarmiert, wenn das Selbst in Gefahr ist. Gleichzeitig vermittelt sie aber auch Taktgefühl in der zwischenmenschlichen Kommunikation und ist ein Beziehungsregler. Scham verbirgt und grenzt ab, lässt das Gegenüber jedoch gleichzeitig am eigenen Erleben Anteil nehmen, zum Beispiel wenn jemand schamvoll errötet. Scham löst oft Mitscham aus und verstärkt dadurch den Resonanzraum.
Scham verhilft dazu, die eigene Würde – aber eben auch jene von Mitmenschen – nicht unnötig zu verletzen. Der Verlust von Scham kann gesellschaftlich gefährliche Folgen haben. So wird der Begriff „Heimat“ zuweilen schamlos populistisch missbraucht. Statt die Identitätsproblematik vieler Menschen ernst zu nehmen, wird sie dann bloß auf Fremde abgewälzt und zugedeckt.
Überhaupt scheint es heute eine besonders häufig angewandte Methode zu sein, andere zu beschämen, um eigene Scham nicht aufkommen zu lassen. Sie führt dazu, den Balken im eigenen Auge zu übersehen und nur den Splitter im Auge des Nächsten wahrzunehmen. Dies schadet der Wahrnehmung der Realität, der eigenen Identitätsbildung und letztlich auch der eigenen und fremden Würde, die es hochzuhalten gilt. Kränkungen sind kein Mittel, um Heimat zu schaffen. Sie zerstören, was sie zu retten vorgeben.
Fernab vom Heimetli
Heimweh galt einmal als „Schweizer Krankheit“. Heimweh war ursprünglich ein Schweizer Dialektwort und diente bei seinem Aufkommen im 16. Jahrhundert zur Bezeichnung einer Krankheit bei Schweizer Söldnern, die im Ausland in fremden Diensten an Nostalgia oder eben Heimweh litten. Heimweh, also das Verlangen nach der „Heimet“ oder dem „Heimetli“, wie das eigene oder elterliche Haus in der Schweiz auch genannt wird, war damals offenbar noch so ungewöhnlich, dass es als Krankheit galt.
1688 erschien in Basel die erste medizinische Dissertation zur Schweizer Krankheit von Johannes Hofer. Dieser diagnostizierte, dass der von Heimweh Befallene immer mehr an seine verlorene Heimat denke und sie immer mehr verkläre. Die Sehnsucht nach der Heimat ziehe ihm die Vitalität ab und stimme ihn melancholisch.
1706 dachte der Universalgelehrte Johann Jakob Scheuchzer darüber nach, warum Vertreter eines so „wehrhaften und starken Bergvolkes“ schwach und krank würden. Er begründete dies physiologisch damit, dass die Schweizer, die als Gebirgsbewohner sonst reine, dünne Luft atmeten, als Söldner den Tiefdruck des Flachlandes nicht vertrügen. – Die Biologisierung sozialpsychologischer Phänomene ist also nicht so neu!
Daniel Hell ist Psychotherapeut und emeritierter Psychiatrieprofessor an der Universität Zürich. Er arbeitet an der Privatklinik Hohenegg am Zürichsee und ist Autor mehrerer Sachbücher, zuletzt: Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen (Psychosozial 2018)