Mir gegenüber im Zug sitzt ein junger Mann, er ist um die 16 Jahre alt, der Tim heißen könnte. Tim heißen Jungs in Serien, die sehr einnehmend aussehen und auf dem Schulhof allein durch ihr einnehmendes Herumstehen eine Legion von Herzen brechen. Als ich zustieg, hat Tim mich angelächelt und mir geholfen, meinen Koffer in die Gepäckablage zu wuchten. Hoffentlich wird mein Sohn auch mal so, habe ich gedacht.
Jetzt, kurz hinter Wolfsburg, ruft Tims Mutter an. Tims Gesicht wird rot und verödet, und seine Stimme…
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ruft Tims Mutter an. Tims Gesicht wird rot und verödet, und seine Stimme wird zu einem Röhren.„Was ist das denn für eine blöde Frage“, blafft Tim nach kurzer Zeit ins Telefon, „natürlich hab ich das. Wie doof kann man eigentlich sein?“, und dann hört er noch eine Weile seiner Mutter zu, er mahlt derweil mit den Kieferknochen und auch mit den Augen, schließlich sagt er: „Weißt du was, Mama? Lass mich einfach in Ruhe“, und dann legt er auf.
Ich bin empört. Ich stelle mir Tims Mutter als eine liebenswerte Frau vor, die viel weniger doof ist, als man sein kann. Ich stelle mir vor, wie sie jetzt da steht, mit einem Telefonhörer voller Hohn in der Hand, in einer geradezu gleißenden Verlorenheit, und sich fragt, wie es dazu kommen konnte, zu diesem röhrenden Auswuchs von Sohn, wie es dazu kommen konnte, dass sie so lang der Nabel seiner Welt war und jetzt der Arsch seiner Welt ist, wie es dazu kommen konnte, dass Tim das freundliche Kind, das er war, offenbar einfach ausgeschieden hat.
Poesiealbumsprüche
Ich hoffe, es ist ganz anders. Ich hoffe, sie steht nicht verloren da, sondern mit einer lebhaften, kapitalen Wut im Bauch. Ich hoffe, ihr letzter Satz am Telefon war: „Ich wollte nur sicherstellen, dass du genug Wechselwäsche dabei hast, Wechselwäsche für immer, weil, hier musst du dich nicht mehr blicken lassen, das war’s nämlich, mach’s gut, ich beginne nun mein zweites, herrliches kinderloses Leben.“
Ich versuche, Tim empört anzufunkeln, was er nicht sieht, weil er in seinem Telefon herumdaddelt. „Wie reden Sie denn mit Ihrer Mutter“, sage ich beinahe, und ebenso beinahe zitiere ich den grauenhaften Spruch, den irgendwer meiner armen Mutter in den 1950er Jahren in ihr Poesiealbum geschrieben hat: Ehre dein Mutterherz / solange es schlägt / wenn es gebrochen ist / ist es zu spät.
Ich betrachte Tim, dessen Gesicht jetzt wieder normalfarbig wird, und mir fällt mal wieder auf, dass ich keine Ahnung von Pubertät habe. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welche Monstrositäten mit Stimmbruch und Oberlippenflaum einziehen. Mein Sohn ist zwölf, also im direkten Vorfeld der Pubertät, aber bis jetzt ist davon noch nichts zu merken. Noch freut sich mein Sohn, wenn ich anrufe. Noch sammelt er Fußballerbildchen. Noch erzählt er mir in Endlosschleife, wer von den Bildchenfußballern wann was für ein Tor geschossen hat. Ich gelobe innerlich, dass mich das ab jetzt nie mehr ermüden wird, dass ich bei jedem nacherzählten Tor mitfiebern werde – wegen des „nochs“ vor all dem.
Fußballer-Lesezeichen
Außerdem nehme ich mir vor, endlich Bücher über Pubertät zu lesen. Ich habe die leise Hoffnung, dass darin im Grunde dasselbe steht wie in Büchern über Kinder im Vorschulalter. Wenn die krakeelend mit wutentbrannten Fäustchen auf ihre Eltern einschlagen, heißt es dort, zeugt das von einer gesunden Bindung: mit den Eltern, weil die einen sowieso nie verlassen, egal wie man sich aufführt. Ich hoffe, auch Tims Mutter hat das Buch gelesen, das ich mir gerade zusammenfantasiere.
Ich höre auf, Tim anzufunkeln, und nehme mein Buch zur Hand. Das Lesezeichen darin ist ein Fußballerbildchen. Der Lieblingsfußballer meines Sohnes ist darauf, über dessen berufliches Fortkommen ich mehr weiß, als ich je wissen wollte. Er hat mir das Bild feierlich geschenkt, er hat es doppelt.
Ich drehe das Bildchen in den Händen. Womöglich ist die Pubertät wie eine ungewöhnlich rasche Kontinentalverschiebung, die mich und meinen Sohn über Jahre auseinanderreißen wird, und wenn wir uns dann viel, viel später wiedererkennen, mein Sohn vollentwickelt und ich bereits rückläufig, werden wir uns die Augen reiben und etwas verlegen und höflich zueinander sein, höflich wie flüchtige Bekannte.
„Anthony Modeste“, sagt Tim plötzlich.
Ich schaue auf. Tim lächelt und deutet auf das Bildchen. „Sie kennen den?“, frage ich. „Klar“, sagt Tim.
„Mein Sohn sammelt die“, sage ich, und Tim sagt: „Ich habe die auch mal gesammelt, früher.“
„Und was ist jetzt Ihr Hobby?“, platzt es aus mir heraus, „Pubertät?“, und noch während das platzt, tut es mir leid, denn ich habe das sehr spitznasig gefragt.
„Wieso?“, fragt Tim erschrocken und fasst sich ins Gesicht. „Hab ich Pickel?“
„Nein“, sage ich, „ich dachte nur, wegen des Telefonats mit Ihrer Mutter.“
Schrödingers Coolness
Tim lehnt sich zurück, schaut aus dem Fenster und überlegt. Dann lehnt er sich weit über den Tisch, als wolle er mir ein Geheimnis verraten, und sagt den schönen Satz: „Meine Mutter ist cool, aber uncool.“ Er steht auf, er ist um Längen größer, als ich vermutet habe, er fängt an, seine Sachen zusammenzupacken, und wickelt sich sehr lang einen sehr langen Schal um den Hals. „Wie alt ist denn Ihr Sohn?“
„Zwölf.“
„Dann haben Sie ja bald Pubertät“, sagt Tim, beugt sich zu mir herunter und schaut mich verschwörerisch an, „da werden Sie eine Menge Spaß haben.“ Er grinst, als hätten mein Sohn und ich dann eine Menge Spaß auf einer Party, auf der wild gepoltert und auf der vieles, nahezu alles zu Bruch gehen wird.
Tim steigt aus. Ich schaue aus dem Fenster. Direkt davor steht Tims Mutter, ich erkenne sie sofort, denn sie sieht aus wie Tim in Mutter. Als Tim auf sie zukommt, versucht sie, ein Lächeln zu unterdrücken, wie jemand, der angewiesen wurde, auf gar keinen Fall zu lächeln. Tim streicht ihr mit ausgestrecktem Arm über die Schulter, sehr kurz. Das ringt er sich ab. Er ringt es sich ab, weil seine Mutter die Party schmeißt.
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heuteschreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker