Hallo Mama, da bin ich wieder!

Eigentlich waren die Kinder längst aus dem Haus, da wollen sie auf einmal zurück ins alte Kinderzimmer. Wie kann eine Ablösung gelingen?

Als ihr jüngster Sohn seine Sachen packte und in eine Studenten-WG in einer 300 Kilometer entfernten Stadt zog, musste Sabine Schneider schlucken. Der Gedanke an ein leeres Nest machte die zweifache alleinerziehende Mutter wehmütig, aber gleichzeitig verspürte sie auch eine belebende Aufbruchsstimmung. Endlich würde sie an Homeoffice-Tagen ihre Konzepte nicht mehr am Küchentisch mit dem Blick auf schmutziges Geschirr ­schreiben müssen, sondern in einem eigenen Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Bücherregal und…

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in einem eigenen Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Bücherregal und frischen Blumen.

Nachdem sie den ersten Trauerschub überwunden hatte, räumte die Grafikerin das Zimmer ihres Sohnes komplett aus, richtete sich darin einen Arbeitsplatz ein und dachte: „Hallo neues Leben, da bin ich!“ Zwei Monate später stand die 57-Jährige auf dem Balkon, blickte auf die Straße und traute ihren Augen kaum: Unten stieg ihr Sohn aus einem Kleintransporter aus, mit einer Yuccapalme im Arm. Das Studium habe ihm nicht gefallen, sagte ihr Sohn; er brauche jetzt eine Neuorientierungs- und Selbstfindungsphase – für ihn war völlig klar, dass der beste Ort dafür die große, in einem Hamburger Szenebezirk gelegene Altbauwohnung seiner Mutter war.

Sabine Schneider fühlte sich überrumpelt, wollte ihn aber auch nicht rausschmeißen. Sie kannte diese und ähnliche Situationen von vielen befreundeten Eltern: Die erwachsenen Kinder kehren nach einem Jahr im Ausland, einem Praktikum in einer anderen Stadt, in der Zeit zwischen Bachelorabschluss und Masterstudium oder in einer Phase heftigen Liebeskummers mit großer Selbstverständlichkeit vorübergehend in ihr Elternhaus zurück. Manche erwarten gar, dass ihnen dort dauerhaft ein Platz freigehalten wird, Kost und Logis inklusive.

Töchter ziehen etwas eher aus als Söhne

Von „Bumerangkindern“ oder gar der „Bumeranggeneration“ sprechen die Medien in solchen Fällen. Ein Ausdruck, der in den USA geprägt wurde, wo man schon Ende der 1980er Jahre das Phänomen diskutierte, dass sich immer mehr Erwachsene teils Jahre nach ihrem Auszug wieder in ihrem alten Kinderzimmer einrichten. In Italien nennt man jene, die lange über ihre Volljährigkeit hinaus bei ihren Eltern leben, bisweilen abfällig bamboccioni, Pummelchen, Riesenbabys. Und auch anderswo ist das Phänomen der Nesthocker wiederholt Gesprächsthema.

Laut Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union, ist das durchschnittliche Auszugs-alter in der EU seit der Jahrtausendwende nur leicht gestiegen, von knapp 25 auf etwas über 26 Jahre. Junge Männer ziehen demnach im Schnitt mit 27 Jahren aus, Frauen sind bei diesem Schritt rund zwei Jahre jünger. Allerdings seien die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten traditionell groß, heißt es im Berichtsband zur Statistik; in den südlichen Regionen seien Mehrgenerationenhaushalte geläufiger gewesen. In Ländern wie Spanien, Bulgarien und Griechenland lag das Durchschnittsalter bei Auszug 2014 demnach bei 29, in Italien, Malta und der Slowakei bei 30, in Kroatien bei 31 und in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien sogar bei 32 Jahren. In Schweden, Dänemark und Finnland ziehen die jungen Erwachsenen dagegen aus, bevor sie ihren 22. Geburtstag feiern. Die Deutschen sind im Schnitt 23,8 Jahre alt und liegen damit sogar etwas unter dem Niveau des Jahres 2000. Von einem aktuellen Trend kann man zumindest hierzulande also nicht sprechen. Ausziehunwillige Kinder gibt es trotzdem, und die Diskussion hält nicht nur unter den betroffenen Eltern an, die ihre Herkunftsfamilie meist sehr viel früher verließen.

Was hält diese jungen Menschen zu Hause? Warum kehren manche zurück, obwohl sie den Absprung längst gewagt hatten? Ist es tatsächlich vor allem die wirtschaftliche Situation, die sich vielerorts verschärft hat? Liegt es an einer sich ausbreitenden Trägheit des Nachwuchses? Der Hamburger Entwicklungspsychologe Michael Thiel, der unter anderem vor einigen Jahren schon bei einem Fernsehformat zum Thema mitgewirkt hat, erkennt unter den Nesthockern auch eine große Gruppe von verängstigten jungen Erwachsenen, die aus Furcht vor der Welt den Absprung aus der elterlichen Wohnung nicht schaffen. Er macht aber zudem solche aus, die tatsächlich aus wirtschaftlichem Kalkül zu Hause bleiben, weil sie wissen, dass sie sich nur so ein Auto, Urlaub, Biogemüse und teure Konzerte leisten können.

Anne Berngruber vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München will das gern bemühte Klischee vom Aufenthalt im „Hotel Mama“ bei ihren Erklärungsversuchen des Phänomens nicht heranziehen. Die Sozialwissenschaftlerin hat in ihrer Dissertation Von Nesthockern und Boomerang-Kids untersucht, wann junge Erwachsene von zu Hause ausziehen und welche Faktoren zu einem früheren oder späteren Auszug und zu einer zeitweiligen Rückkehr ins Elternhaus führen können.

„Das Schlagwort ‚Hotel Mama‘ suggeriert, dass junge Leute heute wie Schmarotzer die Vorzüge des Elternhauses genießen und gar nicht daran denken auszuziehen“, sagt sie. „Ihnen wird unterstellt, dass sie unselbständig sind, sich nicht von den Eltern lösen wollen und aus dem Nest gestoßen werden müssen.“ Dieses Bild sei zu undifferenziert und gipfele in der öffentlichen Wahrnehmung fälschlicherweise im Prototyp des 35-Jährigen, der sich noch immer von der Mutter bekochen und die Wäsche machen lasse und die Eltern mit seiner Weigerung, selbständig zu werden, in den Wahnsinn treibe. „Man muss berücksichtigen, dass es für einen späten Auszug oder eine vorübergehende Rückkehr auch handfeste Gründe wie veränderte Ausbildungsverläufe und finanzielle Engpässe gibt.“

Aufgewachsen mit einem Gefühl der tiefen Verunsicherung

Bequemlichkeit als Hauptmotiv für einen späteren Auszug zu unterstellen sei falsch, meint auch Klaus Hurrelmann, früher Professor für Bildungsforschung an den Universitäten Essen und Bielefeld, heute Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. In seinem Buch Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert, das Hurrelmann gemeinsam mit Erik Albrecht veröffentlicht hat (Beltz, Weinheim 2014), zeichnet er das Bild einer Generation, die aus dem Gefühl einer tiefen Verunsicherung heraus gelernt hat zu taktieren, opportunistisch zu sondieren und Entscheidungen möglichst lange hinauszuzögern – darunter auch jene, auf eigenen Füßen zu stehen.

Hurrelmann erklärt diese Haltung der heutigen Generation mit den politischen Ereignissen und gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen, die das Lebensgefühl der in den Jahren 1985 bis 2000 Geborenen in der entscheidenden Lebensphase nach der Pubertät geprägt haben. „Die heute 15- bis 20- Jährigen gehören zur digitalen Eingeborenengeneration. Sie sind mit den neuen Medien aufgewachsen und dem Gefühl, dass alles möglich ist, man in jeden Winkel der Welt schauen und sich jederzeit per Smartphone sofort vernetzen kann“, sagt er. Gleichzeitig hätten die Anschläge vom 11. September 2001, die Katastrophe von Fukushima und die Wirtschafts- und Finanzkrise ihnen vermittelt, dass man sich auf nichts verlassen, nichts wirklich kontrollieren kann. Die Veränderungen im Ausbildungssystem beeinflussten den Abnabelungsprozess zudem entscheidend.

Deutschland habe in den vergangenen Jahren ein Übergangssystem zwischen Schule und Beruf geschaffen, durch das in manchen Jahrgängen bis zu 500   00 Jugendliche geschleust worden seien, so Hurrelmann. Nach seiner Einschätzung werden in zahlreichen berufsvorbereitenden Ausbildungsprogrammen sowohl Schüler mit niedrigen Schulabschlüssen oder schlechten Noten als auch Abiturienten geparkt, weil es erst nicht genügend Lehrstellen oder Studienplätze für sie gibt und später zu wenig Jobs. „Wir signalisieren den jungen Leuten damit, dass wir als Gesellschaft ihnen nicht garantieren können, dass sie ihren Platz im Berufsleben finden“, sagt Hurrelmann. Und auch Anne Berngruber ist davon überzeugt, dass veränderte Ausbildungswege, die enorme Vielfalt an berufsbegleitenden und berufsvorbereitenden Angeboten und der Trend zu befristeten Arbeitsverhältnissen beim Berufseinstieg das Auszugsverhalten mitbeeinflussen.

Junge Frauen indes können damit offenbar etwas besser umgehen als junge Männer. Sie ziehen früher aus, schließen ihre Ausbildung schneller ab und gehen eher eine Partnerschaft ein als ihre männlichen Altersgenossen. Sie erweisen sich also als etwas geschickter im Umgang mit den gesellschaftlichen Veränderungen, meint Klaus Hurrelmann: „Junge Frauen haben eine klare Vorstellung. Sie wollen Kinder haben, Karriere machen und sich gesellschaftlich engagieren. Sie stellen sich von vornherein darauf ein, verschiedene soziale Rollen miteinander zu kombinieren.“ Die Männer hingegen seien verunsichert und sähen in der neuen Rollenvielfalt keinen Vorteil, sondern eher eine Belastung. „Deshalb haben sie es auch nicht so eilig, selbständig zu werden.“

Das elterliche Regime ist weniger streng

Doch ist die Lage heute wirklich so viel beängstigender als früher? War der Slogan „No future“ nicht der prägende Satz der Jugendlichen im Zeitalter der Nachrüstung und des Kalten Krieges? Ist das Gefühl der allgemeinen Verunsicherung heute wirklich größer als zu Beginn der 1970er Jahre, als der Club of Rome die Grenzen des Wachstums aufzeigte, oder Mitte der 1980er, als die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl die Furcht vor einer radioaktiven Verseuchung mehrte? Und wieso reagiert ein Teil der jungen Leute heute nicht mit Protest, sondern eher mit Anpassung und Rückzug, indem sie die Eltern und deren Besitztum als sichere Basis nutzen und immer wieder zu ihnen zurückkehren?

Hinzu kommt: Ohne die Bereitschaft der älteren Generation hätten die erwachsenen Kinder diese Möglichkeit gar nicht. „Die Eltern haben einen sozialen Status, sie sind eine Generation, die faktisch noch im Wohlstand lebt, und sie bieten diesen im Notfall auch ihren Kindern an“, sagt Hurrelmann. Auch die veränderte Beziehung vieler Eltern zu ihren Kindern trägt zu der Entwicklung bei: War es für die Generation der heute 50- bis 60-Jährigen noch pure Notwendigkeit, so schnell wie möglich auszuziehen, um der Strenge des väter- und mütterlichen Regiments zu entkommen, ist der Druck, sich von den Fesseln der Herkunftsfamilie zu befreien, mittlerweile längst nicht mehr so groß.

Studien zum Generationenverhältnis kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass in Familien heute viel mehr ausgehandelt wird und Heranwachsende ein größeres Mitspracherecht haben als früher. Laut der aktuellen Shell-Jugendstudie haben mehr als 90 Prozent aller Jugendlichen ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Fast drei Viertel von ihnen würden ihre eigenen Kinder ähnlich erziehen, wie sie selbst erzogen wurden – ein Wert, so die Studienautoren, der seit 2002 stetig zugenommen hat. Viele bezeichnen ihre Eltern sogar als beste Freunde und schätzen sie sowohl als Berater in Berufsfragen als auch als Beistand bei Liebeskummer.

Trotzdem bleibt bei aller Kuscheligkeit die Ablösung von den Eltern eine wichtige Entwicklungsaufgabe. Doch die Art und Weise, wie sie angegangen wird, scheint sich verändert zu haben – von einer mehr oder weniger klaren Zäsur ohne Rückkehroption zu einem etappenförmigen Verlauf mit Fort- und Rückschritten, in denen das alte Kinderzimmer von vielen zwischenzeitlich als Unterschlupf und Ort der Regeneration genutzt wird.

Anne Berngruber überlegt gar, ob man mit Blick auf die geänderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht ganz neu klären müsse, was Selbständigkeit bedeutet. Ist man selbständig, wenn man ein WG-Zimmer hat, das die Eltern finanzieren? Ist man unselbständig, wenn man noch zu Hause wohnt, selbst putzt, sich am Kochen beteiligt und einen Nebenjob hat? Kann man von Nesthockern sprechen, wenn junge Erwachsene um die Welt reisen, Praktika im Ausland machen und zwischendurch wieder bei Mama und Papa andocken? Was bedeutet heute selbstbestimmt leben?

Beide Seiten erleben Vorteile

Aus welchen Gründen auch immer es die jungen Erwachsenen im Elternhaus hält – dass sie weiter dort leben, liegt auch an den Eltern. Diese befördern durch ihre eigene innere Unklarheit und ihr Verhalten, dass ihre Kinder den Schritt in die Selbständigkeit nur zögerlich oder gar nicht wagen, und verweigern sich unbewusst ihrer Aufgabe, den Ablösungsprozess zu erleichtern. Viele Eltern senden Doppelbotschaften. Sie signalisieren ihrem Nachwuchs zwar einerseits, dass er gehen soll, bieten an, bei der Wohnungssuche zu helfen, stöhnen über unaufgeräumte Zimmer und leergegessene Kühlschränke, üben aber andererseits keinen wirklichen Druck aus und nehmen den Kindern vom Einkauf bis zur Wäsche alles ab.

Klaus Hurrelmann sieht die Betroffenen im Zwiespalt. Obwohl sie sich gerne beschweren, profitieren sie durchaus auch von dem Zusammenleben: „Die Eltern sind nicht nur aufgeschlossen gegenüber dem Lebensstil der jungen Generation, sie kopieren ihn teilweise sogar und sind ihren Kindern regelrecht auf den Fersen, was Mode, Aussehen und Lifestyle betrifft. Zudem finden sie es toll, einen Fachmann für moderne Medien im Haus zu haben. Und die jungen Leute genießen den emotionalen Schutzraum, das preiswertere Leben und die Statussicherheit, die die Eltern ihnen bieten. Das Arrangement bietet beiden Seiten also auch Vorteile“, sagt er.

Viele Eltern fänden es gut, sich noch lange jung zu fühlen, ihr Status als Eltern werde durch die Nesthocker gewissermaßen eingefroren, sagt Hurrelmann. Sie führen ein bekanntes Leben fort, statt sich mit neuen Begebenheiten auseinandersetzen zu müssen, die möglicherweise zunächst in eine Krise führen – volle Bude statt leeres Nest, vertrautes Terrain statt Abschiedsschmerz und Neubeginn.

Eltern, die sich als Paar neu arrangieren und einen anderen Lebensstil finden müssten, vermieden es aus egoistischen Gründen gerne, diese Entwicklungsaufgabe anzugehen, sagt Hurrelmann. „Dadurch bleiben die jungen Erwachsenen in der Rolle des beschützten Kindes. Entwicklungspsychologisch gesehen ist das kritisch: Wenn die Eltern nicht nur als finanzielle Unterstützer, sondern auch als Berater bei lebensentscheidenden emotionalen Fragen weiter eine Schlüsselrolle spielen, bleiben junge Erwachsene auch lange abhängig von ihnen.“

Wenn die Generationen so eng aufeinandersitzen, ist der Spielraum für eine autonome Selbstfindung für beide Seiten klein. Auch Sabine Schneider, der betroffenen Mutter aus Hamburg, fällt es schwer, wieder ein eigenes Leben zu führen, loszulassen, neue Pläne zu verfolgen, ohne ständig für den wieder bei ihr lebenden Nachwuchs mitzudenken, sagt sie. Wenn die Kinder ihren eigenen Platz im Leben noch nicht gefunden haben, können eben auch die Eltern sich nicht weiterentwickeln. Ablösen müssen sich beide – auf ihre eigene Weise.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2016: Sprich mit Dir!