Es ist ein Abend im Mai, als Regine Rees sich endlich befreit. Sie ist gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und hat noch nicht einmal Jacke und Tasche abgelegt. Da sieht sie von dem Flur aus, wie ihr Mann zweien der sechs Kinder am Esstisch Witze zuflüstert. Es geht um Badener und ihre Angewohnheiten, keine große Sache eigentlich.
Doch ihr Mann, nennen wir ihn Rick, weiß, dass seine in Baden geborene Frau diese Scherze wütend machen. Sie hat ihm oft gesagt, sie finde sie erniedrigend. Trotzdem erzählt…
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Frau diese Scherze wütend machen. Sie hat ihm oft gesagt, sie finde sie erniedrigend. Trotzdem erzählt er sie immer wieder. Als er merkt, dass sie ihn finster anblickt, lacht er. Wie so oft. Regine Rees merkt, wie ihr der Zorn in den Kopf steigt, sie läuft geradewegs auf ihren Mann zu und blickt ihm in die Augen, 30 Jahre Ehe liegen da hinter ihnen. „Nur damit du es weißt“, sagt sie, „ich hatte einen Termin mit einer Anwältin und will mich scheiden lassen.“ Sie hat genug von der Häme, genug von ihm.
Protokoll einer schädlichen Beziehung
Zweieinhalb Jahre ist das her. Regine Rees, die eigentlich anders heißt, kann mittlerweile gelassen von jenem Abend erzählen, bei einem Treffen an einem der ersten Herbsttage 2022 in einem Baseler Café. Auf dem Tisch vor der Frau mit den kurzen lockigen Haaren liegt eine Klarsichtfolie, darin handschriftliche Notizen, die sie zuvor aus der Handtasche gezogen hat. Die 55-Jährige spricht nüchtern, lacht ab und zu, manchmal fehlen ihr die Worte.
Sie verarbeite noch, sagt sie dann, nicht an jedes Detail könne sie sich sofort erinnern. Dann blättert sie in den folierten Papieren. Sie hat alles darauf festgehalten, die Erniedrigungen, die Wutausbrüche, die Selbstsucht ihres Mannes, wie sie sagt. Sechs DIN-A4-Seiten sind es, dicht beschrieben, kreuz und quer, bis an den Rand. Das Protokoll einer jahrzehntelangen Beziehung. Oder wie Regine Rees es nennt: eines narzisstischen Missbrauchs.
Sie ist froh, dass sie heute eine Bezeichnung hat für das, was ihre Ehe prägte, dass sie endlich das Ungute benennen kann, das zwischen ihr und Rick ablief. Und sie ist nicht die Einzige, der es so geht: „Narzisstischer Missbrauch“ ist so populär, dass Selbsthilfegruppen und darauf spezialisierte Behandlerinnen von langen Wartelisten berichten. Es gibt dutzende Bücher und tausende Onlineartikel zum Thema. Unzählige Menschen versuchen mit dem Begriff die Beziehung zu ihrer Partnerin, ihrem Partner, zu Mutter oder Vater, Chefinnen und Kollegen zu fassen. Sie alle beklagen Demütigungen, Manipulationen, unrealistische Erwartungen, auf die Vorwürfe folgen, Grenzüberschreitungen, Drohungen, kurzum: ein alles zermürbendes Drama. Viele der Betroffenen fühlen sich einsam, als ob sie alles falsch machten. Eine der Behandlerinnen sagt: „Es gibt eine riesige Lücke in der Versorgung. Die meisten Leute verstehen nicht, was für ein Leid dahintersteckt.“
Die Bezeichnung „narzisstischer Missbrauch“ wird in der Wissenschaft so nicht verwendet. Was verbirgt sich hinter dem Phänomen? Wie kann den Leidenden geholfen werden? Und welche Art von Hilfe ist die richtige? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen beginnt bei Regine Rees, deren Erzählungen denen vieler anderer gleichen, mit denen Psychologie Heute gesprochen hat. Sie führt in den Saal eines Darmstädter Wirtshauses, wo sich alle zwei Wochen eine Selbsthilfegruppe für Opfer narzisstischen Missbrauchs trifft. Und zu einer Frau, die einem Millionenpublikum erklärt, worum es sich dabei handelt, und sichere Hilfe verspricht. Die Sicht der Wissenschaft vertritt Aline Vater, Narzissmusexpertin und approbierte Psychotherapeutin mit Kassensitz in Berlin.
Ständige Kritik und Schuldzuweisungen
Am Cafétisch in Basel zieht Regine Rees ihr Handy aus der Tasche. Sie zeigt ein Foto von Rick. Auf dem Bildschirm sieht man einen stämmigen Mann mit Glatze, der ein Mädchen fest im Arm hält und grinst. Als seine Tochter kurz zuvor die Geschenke auspackte, sei Rick in die Küche verschwunden und habe am Smartphone gespielt, erinnert sich Rees. Nur für die Aufnahme sei er an den Tisch gekommen. „Das musste immer sein, ein Foto mit dem tollen Daddy.“ Für seine Facebook-Seite.
Dabei habe sie die gemeinsamen Kinder quasi allein großgezogen. Sie klingt bitter dabei, enttäuscht. Ihr Mann habe immer im Mittelpunkt stehen wollen, sagt sie, alles musste auf ihn ausgerichtet sein. Nach Beispielen gefragt, greift sie in den Papierstapel, liest kurz nach und schaut dann auf. „Ach ja“, sagt sie und schmunzelt, sie erinnere sich an einen idealtypischen Konflikt.
Einmal schrieb Rick ihr eine E-Mail auf die Arbeit, ein Promotionsangebot. Unbedingt habe er noch seinen Doktortitel erlangen wollen, am liebsten in Cambridge oder Harvard, von deutschen Universitäten hielt er nichts. Schließlich bewarb er sich an französischen Unis und bekam tatsächlich die Chance, allerdings gegen 30.000 Euro Gebühr. Damals hatten sie sechs Kinder zu ernähren, und Ricks freiberuflicher Dozentenjob warf nicht viel Geld ab. „Ich musste ihm sagen, das sei nicht drin“, sagt Rees. 60 Jahre sei Rick da alt gewesen.
„Dann hat er mir ewig vorgeworfen, ich sei schuld, dass er nicht sein volles Potenzial erreiche.“ Er habe sie ständig damit aufgezogen, provoziert und verärgert. Zunehmend sei es ihr psychisch schlechter gegangen. Die ständige Kritik und die Schuldzuweisungen hätten sie so verwirrt, dass sie irgendwann selbst glaubte, sie sei das Problem. Bis sie das erste Mal gezielt googelte.
Eine Google-Suche brachte die Erkenntnis: Narzissmus
Sie saß im Wohnzimmer und tippte die Verhaltensweisen ihres Mannes in die Suchmaske ein, erinnert sie sich. Sie landete bei: Narzissmus. Das Wort kannte sie nur von selbstverliebten Größenwahnsinnigen, von Donald Trump vielleicht, Kanye West oder Wladimir Putin. Aber Rick? Regine Rees tauchte ein in eine Welt voller Bücher, Blogbeiträge, YouTube-Videos und Podcasts, eine Welt, in der Beraterinnen und Coaches, Therapeuten und Autorinnen fast alle sagen: Es ist nicht deine Schuld, dass deine Beziehung schlecht läuft. Es liegt an deinem Mann, deiner Mutter, deiner Chefin, denn sie sind Narzissten und Narzisstinnen und sie alle handeln nach einem ähnlichen Muster.
Die US-Autorin Kristin Dombek, die mit dem Essay Die Selbstsucht der anderen versucht hat, eine Art kritischen Führer für das Narzissmusmilieu vorzulegen, nennt es das „Narzissmusdrehbuch“. Sie schreibt: „Zuerst überschütten sie dich mit Liebe, schmieden Pläne für eure gemeinsame Zukunft und geben sich als dein Seelenverwandter aus. Dann fällt die Maske. Ihr Verhalten wird unberechenbar, sie entwerten dich und beuten dich aus. Durch Machtspiele zerstören sie deine Persönlichkeit, du weißt nicht mehr, wer du bist und was du willst. Sie isolieren dich von deinen Freunden und deiner Familie. Oftmals wirst du depressiv und verunsichert, dein Selbstwertgefühl verschwindet. Du wirst co-abhängig und schaffst es kaum, dich zu trennen. Und wenn doch, endet es im Rosenkrieg.“
Regine Rees recherchierte weiter. Sie schrieb Beiträge auf Quora, einem Portal, in dem jeder und jede Fragen stellen oder beantworten kann. „Was ist der beste Rat, den Sie für jemanden haben, der in einen Narzissten verliebt ist?“ Oder: „Wie kommen Sie damit zurecht, dass Sie narzisstische Familienmitglieder haben?“ Sie lud sich Bücher herunter, las Erfahrungsberichte. Sie fand Antworten auf alle Fragen, die sie hatte, und war sich immer sicherer: Auch ich wurde narzisstisch missbraucht.
Warum hinter Narzissmus ein komplexes Konstrukt steckt
Allein, Narzissmus – so eindeutig, wie dieses Attribut oft verwendet wird, so differenziert und kompliziert ist die Studienlage. Grundsätzlich verfügt jeder Mensch über narzisstische Anteile. Schwach ausgeprägt sind sie gesund, sie tragen das Selbstwertgefühl, sorgen für Kreativität und helfen beim Gelingen von Beziehungen. Ab einem gewissen Grad jedoch wird Narzissmus pathologisch. In der Vergangenheit sprach man von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Aus dem offiziellen Diagnosekatalog der WHO, der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD), wurde die Diagnose in der neu eingeführten elften Version gestrichen, die in absehbarer Zeit auch in Deutschland gelten wird. Zu unklar sei, wo eine narzisstische Persönlichkeit noch gesund ist und wo sie krankhaft wird, hieß es zur Begründung.
Im DSM-5 hingegen, dem Katalog der American Psychiatric Association, an den sich die wissenschaftliche Forschung häufig anlehnt, gibt es diese Form der Störung noch. Die Symptome: hohes Anspruchsdenken, ein übertriebenes und unbegründetes Gefühl der eigenen Bedeutung, die Ausnutzung anderer, Neid, Überheblichkeit, unbegrenzte Erfolgsfantasien, Glaube an die eigene Einzigartigkeit, Wunsch nach bedingungsloser Bewunderung sowie Mangel an Empathie.
Oft steckt dahinter ein instabiles, brüchiges und verletzliches Selbstwertgefühl. Wie viele Menschen tatsächlich betroffen sind, ist unbekannt. Schätzungen reichen von 0,1 Prozent bis 6,2 Prozent der Bevölkerung, liegen allerdings meist eher im niedrigeren Bereich. Und: narzisstischer Missbrauch? Kennt nur der Volksmund als Krankheitsbild.
Hoher Leidensdruck bei Betroffenen
Aline Vater, die Narzissmusexpertin, sagt dazu am Telefon: „Mit einer Person zusammen zu sein, die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat, kann einen hohen Leidensdruck auslösen.“ Eine von ihr mitverantwortete Studie verdeutliche, wie sich narzisstische Persönlichkeitsanteile konkret auf Beziehungen auswirken. „Es zeigten sich bei den Partnern und Partnerinnen mit hohem Narzissmus extrem positive Verhaltensweisen und extrem negative“, sagt Vater. „Zu den positiven zählen Charme und Humor, sie übernehmen gerne die Führung und verbreiten gute Stimmung. Zu den negativen Eigenschaften zählen Dominanz, ein Mangel an Empathie, Arroganz und Egozentrismus.“
Diese Seiten träten bei der narzisstischen Person meistens in den Vordergrund, wenn sie vom Partner kritisiert werde. „Narzissten und Narzisstinnen brauchen die stetige Anerkennung anderer, um sich gut zu fühlen. Sobald diese ausbleibt, durch negatives Feedback zum Beispiel oder eine Trennung, wird ihre Grundannahme, nicht liebenswert zu sein, aktiviert. Sie versuchen dann, ihre Selbstzweifel durch verschiedene, nur kurzfristig hilfreiche Verhaltensweisen zu kompensieren, etwa durch Wutausbrüche, Manipulation oder Abwertung des anderen“, sagt Vater.
Label „narzisstisch“ wird oft vorschnell vergeben
Das Problem sei: Viele Therapeutinnen und Therapeuten würden vorschnell zum Label „narzisstisch“ greifen, und das sei in der Öffentlichkeit kaum anders. „Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist ein komplexes Störungsbild. Das steht im Widerspruch zu der Eindeutigkeit, die oft postuliert wird.“ Der Begriff lasse sich aber leicht verkaufen, weil er komplexe Phänomene verständlich mache und von der Last befreie, eigene Verantwortung zu übernehmen.
So schnell er aber ausgesprochen ist, so schädlich kann er sein, sagt Vater, verhindere er doch nicht nur Selbsterkenntnis, sondern stigmatisiere auch das vermeintlich narzisstische Gegenüber. Dieses werde ohne fundierte Diagnose als krankhaft eingestuft. Dadurch würden die eigenen Anteile, beispielsweise die abhängigen, ängstlichen oder vermeidenden, verkannt und die Tür zu einer friedlichen gemeinsamen Lösung zugeschlagen.
Bei den Betroffenen aber bilde sich ein Gemeinschaftsgefühl: Man ist nun nicht mehr die einzige Person, die so etwas erlebt hat, fühlt sich nicht mehr verloren, sondern findet eine Community, die einen stützt und einen Ausweg bietet. Das stärke den Selbstwert, erklärt die Psychologin.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Psychotherapeutin Aline Vater erklärt, wo eine Therapie bei „narzisstischem Missbrauch“ ansetzt in unserem Interview zum Thema: „Psychotherapie bei „narzisstischem Missbrauch“.
Immer die Schuld bei sich selbst gesucht
Ein Wirtshaus in Darmstadt. Im Festsaal über der Küche schiebt an einem Montagabend im Herbst 2022 Simone Haese-Reitz Stühle zu einem Kreis zusammen. Die 51-Jährige arbeitet als Fußpflegerin, alle zwei Wochen leitet sie die „Selbsthilfegruppe Narzissmus und toxische Beziehungen“, die sich als Angebot für Menschen mit einer Beziehung zu einem Narzissten oder einer Narzisstin versteht.
Die Gruppe ist nur eine von vielen in Deutschland, es gibt weitere in Calw und Berlin, von Kiel bis Frankfurt. Die Gruppe in Darmstadt hat sich unter der Bedingung zu einem Gespräch mit dem Reporter bereiterklärt, dass außer der Leiterin alle Teilnehmenden anonym bleiben. Zu groß ist die Angst vor einer Verurteilung durch andere.
Das Abendlicht fällt durch die Fenster, während sich sechs Frauen und fünf Männer auf die bereitgestellten Stühle setzen. Manche umarmen sich zur Begrüßung. Andere sind zum ersten Mal da und blicken schüchtern in die Runde. Es ist eine Studentin dabei, eine Frau kurz vor der Rente, ein bärtiger Kerl in Rockershirt, eine hagere Mittdreißigerin. Allein die Vorstellungsrunde dauert zwei Stunden. Einige nennen nur ihren Namen und sagen zwei Sätze zu ihren Erfahrungen. Andere erzählen minutenlang von Vätern mit überzogenen Erwartungen, von Partnerinnen, die 20-mal im Jahr Schluss gemacht haben, und von Ex-Männern, die sie kaum mehr mit Freundinnen ausgehen ließen.
Ein Mann, neu dabei, erzählt erst nüchtern von seiner Frau, die er kürzlich verlassen hat. Dann bricht es aus ihm heraus: „Sie war so unglaublich cholerisch, dominant und erniedrigend“, sagt er fast brüllend, Tränen laufen über seine Wangen. Die Studentin reicht ihm ein Taschentuch. Zehn Jahre seien sie verheiratet gewesen, nach jedem Streit habe er die Schuld bei sich gesucht, sich klein gemacht. „Ich habe für alles die Verantwortung übernommen.“
Vom Love Bombing zum Gaslighting
Gruppenleiterin Haese-Reitz nickt verständnisvoll. „Das ist emotionale Gewalt, das ist Folter“, sagt sie. Eine Frau pflichtet ihr bei: „Da gehen bei mir alle Narzissmuslämpchen an.“ Eine andere, die schon länger dabei ist, erklärt dem Mann, wie eine narzisstische Beziehung klassisch ablaufe. „Entweder ist der Missbrauch schleichend subtil oder brutal zerstörerisch“, sagt sie. Aber immer beginne es mit love bombing: Die Partnerin überhäufe einen mit Liebe und Bestätigung, mache Geschenke, um Abhängigkeiten zu schaffen und Distanz zu Freunden und Familie.
Dann kippe es: Aus Liebesbeweisen würden Abwertungen. Die brauche die oder der andere, um sich gut zu fühlen. In Extremfällen gehe das bis zum Gaslighting, dabei werde man durch Lügen und falsche Behauptungen so stark manipuliert, dass man an der eigenen Wahrnehmung zweifle. Das Perfide an einer solchen Beziehung sei, dass es immer wieder auch liebevolle Phasen gebe, sagt Simone Haese-Reitz. Dadurch entstehe eine „Traumabindung“, man klammere sich an den anderen, weil man die guten Zeiten noch im Hinterkopf habe. Bis man irgendwann vollständig ausgelaugt sei und nicht mehr wisse, „wo vorne und hinten ist“. Auch dieser Begriff, Traumabindung, taucht oft in den Internetratgebern auf. Laut Expertin Aline Vater hat er keinerlei wissenschaftliche Basis.
Dem eben noch weinenden Mann stand zwischenzeitlich vor Erstaunen der Mund offen. Seine Tränen sind getrocknet. Er sagt: „Es tut so gut zu hören, dass es nicht nur mir so geht.“ Seiner Ex-Frau will er sich jetzt selbstsicher entgegenstellen.
Scham und Selbstzweifel als Treiber für Manipulation
Aline Vater sagt über narzisstischen Missbrauch: „Der Begriff verkennt die Komplexität der Prozesse, die hinter narzisstischen Verhaltensweisen stehen.“ Sie beobachte zwar das Auf und Ab in einer Beziehung zu Narzissten oder Narzisstinnen; aufgrund ihrer positiven Eigenschaften könne sie auch verstehen, warum viele es trotz des Dramas so lange in der Beziehung aushielten. Doch was wie eine gezielte Manipulation aussieht, sei oftmals der Versuch einer narzisstisch gestörten Person, mit starker Scham und intensiv erlebten Selbstzweifeln umzugehen.
Im Kern hätten solche Menschen einen fragilen, kränkbaren Selbstwert, sagt die Therapeutin. Diesen versuchten sie zu stärken, indem sie ihren Partner oder die Partnerin entwerteten. Außerdem zeigten sie oft einen Mangel an Empathie: In ihren Studien erkannte Vater, dass narzisstische Personen zwar genauso gut wie nichtnarzisstische darin sind, Gefühle von anderen zu benennen. Doch ihre Fähigkeit zu fühlen, was andere fühlen, ist im Vergleich zu nicht klinisch auffälligen Menschen eingeschränkt.
So charakterisiert trifft das Label „narzisstisch“ vermutlich auf viele nicht zu, wenn es auch oft verwendet wird – so oft, dass mancher gar von einer „Narzissmusepidemie“ spricht. Laut einer Analyse von Forscherinnen und Forschern der Universität Konstanz aus dem Jahr 2017 ist Narzissmus in den vergangenen 25 Jahren aber sogar leicht zurückgegangen.
Manche Menschen, sagt Aline Vater, hätten einfach nur weniger stark ausgeprägte Fähigkeiten zu kommunizieren. „Toxische Beziehungen und narzisstischer Missbrauch sind sehr präsent in den Medien“, sagt sie. „Manche springen auf diesen Zug auf und deuten Narzissmus in ihr Gegenüber, obwohl da vielleicht einfach nur ein schwerwiegender Konflikt zwischen zwei Menschen stattfindet oder ein Partner aufgrund anderer psychischer Erkrankungen oder Entwicklungsdefizite nicht zur Empathie, Perspektivübernahme und friedlichen Konfliktlösung fähig ist.“
Endlich ein Name für den Schmerz
Kritisch werde es allerdings, sobald jemand das Gegenüber in Form von körperlichen Übergriffen, sexuellem Missbrauch oder Beleidigungen schädigt. Die vermeintliche Diagnose „narzisstischer Missbrauch“ scheint für die vielen, die dazu Hilfe suchen, dennoch zu funktionieren – zumindest auf den ersten Blick. „Sobald das Ding einen Namen hat, fällt es den meisten wie Schuppen von den Augen“, sagt eine Heilpraktikerin, die sich auf das Thema spezialisiert hat. Auch Simone Haese-Reitz, die Leiterin der Darmstädter Selbsthilfegruppe, schildert: „Das ist eine riesige Erleichterung für die Betroffenen, doch es ist schwer, einen Therapeuten zu finden, der sich damit auskennt.“
Artemis Sengstock zeigt bei dem Thema keine Zweifel. An einem Mittwoch im August blickt die 33-Jährige in die Webcam, hinter sich einen Zimmerfarn. „Herzlich willkommen hier bei Hilfe für Opfer von Narzissten“, sagt sie. „Mein Name ist Arti, ich bin psychologische Beraterin und kläre bei YouTube schon seit sechs Jahren über das Thema Narzissmus auf.“
Sie beginnt ihr Video mit dem Selbstbewusstsein einer Frau, die seit 2016 einen Kanal mit inzwischen 60.000 Followerinnen und Followern aufgebaut hat. Erklärte Zielgruppe: „Opfer von narzisstischem Missbrauch im deutschsprachigen Raum“. In der „Kanalinfo“ stellt Sengstock klar: „Dieser Kanal berichtet über persönliche Erfahrungen von Opfern von Narzissten. Er erhebt keinen Anspruch auf wissenschaftliche Fundiertheit.“ Ihre 270 Videos wurden etwa zehn Millionen Mal angesehen. In dieser Folge geht es um weiblichen Narzissmus. 15 Minuten lang führt Sengstock aus, an welchen Verhaltensweisen man Narzisstinnen erkenne, sieben Indizien sind es, von der „Kernschmelze“ bis zum „Extraschritt“. Wer Hilfe brauche, aus einer solchen Beziehung herauszukommen, könne mit ihr einen Termin zum Coaching vereinbaren.
Wissen über Narzissmus ist stark gefragt
Ein paar Tage, nachdem sie das Video veröffentlicht hat, sitzt Sengstock zum Gespräch in einem Nürnberger Café, nicht weit von ihrer Wohnung mit dem YouTube-Zimmer entfernt. Sie schaut ihrem Gegenüber tief in die Augen, fragt häufig höflich nach, ob man verstanden hat, was sie erzählt. Ihre eigene Geschichte hat sie in ihren Videos schon oft geschildert, sie ähnelt jenen ihrer Klientinnen und Klienten. Sie sei nacheinander mit zwei Männern zusammen gewesen, sagt sie, von denen sie isoliert und erniedrigt wurde, bis sie in eine Depression verfiel.
Als sie einem Therapeuten von dem Verhalten ihrer Ex-Freunde erzählte, fragte dieser sie, ob ihr Narzissmus ein Begriff sei. Er stellte ihr eine Bücherliste zusammen, „und ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen“. Sie habe Berichte von Menschen, die genau das beschrieben, was sie selbst verspürte, „verschlungen“, sagt Sengstock, diese innere Zerrissenheit, die Leere, der Vertrauensverlust in die eigene Wahrnehmung. Damals las sie vornehmlich auf englischsprachigen Websites von narcissistic abuse.
2016 gründete sie eine Facebook-Gruppe, um anderen zu helfen, solches Verhalten früher zu erkennen, wie sie sagt. Innerhalb von drei Monaten hatte diese 3.000 Mitglieder. Sengstock zog eine Website auf, lud Erfahrungsartikel hoch und beschloss dann, diese für YouTube-Videos einzusprechen. Sie habe dafür mit Psychiaterinnen und Ärzten gesprochen und sich Fachbücher ausgeliehen, schließlich ließ sie sich an der Heilpraktikerschule Paracelsus zur psychologischen Beraterin ausbilden. Und weil ihr Wissen so gefragt gewesen sei, erzählt sie, habe sie irgendwann ihren Job in einem Reisebüro am Nürnberger Flughafen gekündigt und sich als Beraterin und Coachin selbständig gemacht.
Eine Ausbildung zur Coachin hat Sengstock nicht absolviert, das braucht sie auch nicht, um als solche zu arbeiten, sie ist keine Therapeutin und keine Psychologin. Trotzdem erhält sie nach eigenen Angaben zwischen 20 und 30 Coachinganfragen pro Tag. Meist sind es Frauen im Alter zwischen 35 und 60 Jahren, die über YouTube zu ihr finden, sagt sie. Für eine 50-Minuten-Sitzung berechnet sie 110 Euro, für eine 90-Minuten-Sitzung 160 Euro. Das entspricht etwa dem Kassensatz bei wissenschaftlich anerkannten Psychotherapie-Formen.
Mehr als tausend Klientinnen und Klienten hat sie nach eigenen Angaben schon beraten. Vielleicht sind es die einschlägigen Titel der Videos, die die Menschen überzeugen: „Warum Narzissten hassen, aber nicht loslassen“, lautet einer, „Typisches Opferspielen von Narzissten“ ein anderer. Oder: „Stoppe Narzissten sofort.“
Keine verlässliche Diagnose ohne valide Messinstrumente
Psychotherapeutin Aline Vater sagt, jeder Mensch müsse für sich entscheiden, für was er sein Geld und seine Zeit aufwendet. Aber: „Ich würde mir schon wünschen, dass es etwas wissenschaftlich fundierter präsentiert wird.“ Eine Diagnose sollte vorliegen. Dafür benötige man valide Messinstrumente wie das Strukturierte Klinische Interview für DSM-5-Persönlichkeitsstörungen und störungsspezifische Fragebögen. Diese würden ambulant tätige Psychotherapeuten fast immer anwenden.
Laien hingegen erstellten häufig falsche Augenscheindiagnosen, und die Angebote bestätigten die Sichtweise der Klientinnen und Klienten unhinterfragt. Das fühle sich für diese vielleicht zunächst gut an, sei langfristig aber keine gute Strategie zur Konfliktlösung und persönlichen Reife. „Man sollte sich nicht nur auf das Bauchgefühl verlassen“, sagt Vater.
Im Café in Basel erzählt Regine Rees, sie sei bis heute baff, wie konsequent sie nach ihren Recherchen auf einmal handeln konnte. Ihre Scheidungsankündigung habe eingeschlagen wie eine Bombe, erinnert sich Rees. Rick sei auf die Knie gefallen, habe sie angefleht zu bleiben. Die nächsten Wochen und Monate hätten sich angefühlt wie ein Drogenentzug. Sie habe nicht schlafen können, sich zerrissen gefühlt, konnte kaum mehr arbeiten. Sie suchte Hilfe bei einem Psychiater im Schweizer Nachbarort. Der habe gemeint, sie solle ihrem Partner kein Label verpassen, die Beziehung sei einfach schlecht gewesen.
„Eine miese Beziehung ist aber was ganz anderes“, sagt Rees. Der Therapeut habe ihr eine Liste zusammengestellt mit Dingen, die sie unternehmen könne, um sich besser zu fühlen, mit Freundinnen ins Kino gehen, spazieren, Sport treiben, solche Sachen. Doch Regine Rees wollte Antworten auf ihre Fragen – und das waren andere, als der Psychiater ihr bot. Also googelte sie wieder und fand eine Heilpraktikerin für Psychotherapie, ein paar hundert Kilometer entfernt, die sich auf ihrer Website als Expertin für narzisstischen Missbrauch präsentiert. Psychologen und Psychiater seien mit der Symptomatik meist „völlig überfordert“, schreibt sie dort zudem, weil diese „so vielfältig und schwer einzuordnen ist“.
Überall Narzissten: Du bist ein Narzisst, und du, und du
In der mehrjährigen Weiterbildung, die alle Psychotherapeutinnen und -therapeuten der wissenschaftlich anerkannten Psychotherapierichtungen bis zur Approbation durchlaufen müssten, seien Persönlichkeitsstörungen ein ganz zentraler Punkt, sagt hingegen Aline Vater. Aus ihrer Sicht ist eines der größten Probleme die lange Wartezeit für einen Therapieplatz und dass Betroffene wohl auch deshalb lieber zu einfachen, schnell zugänglichen Lösungen greifen.
Artemis Sengstock etwa bietet für 250 Euro ein „VIP-Coaching in akuten Krisen“ an, mit einer Termingarantie innerhalb von sieben Tagen. Auch Regine Rees hatte schnell einen Termin bei der Heilpraktikerin. Von ihr fühlte sie sich sofort verstanden: Die Frau habe selbst eine narzisstische Beziehung erlebt und ihr konkrete Verhaltenstipps gegeben. Dafür nahm Rees auch die höheren Kosten in Kauf. „Ich wollte die Bestätigung bekommen, dass das, was ich tue, das Richtige ist“, sagt sie.
Heute fühlt sie sich „so gut wie lange nicht“, erzählt sie im Café. Es sei ihr Erweckungserlebnis gewesen, als sie gemerkt habe, dass Rick ein Narzisst sei, sagt Rees. Die Erkenntnis gab ihr ein Gefühl von Kontrolle, das Verhalten ihres Mannes deuten zu können, und damit letztlich die Kraft, sich aus der Beziehung zu lösen. Rick ist inzwischen ausgezogen, die Scheidung soll bald durch sein. Rees geht wieder aus, mit Freundinnen, ins Kino und Theater. Über eine Dating-App schreibt sie mit anderen Männern. Doch ein Thema lässt sie nicht los. In fast jeder Romanze, die sie liest, beobachtet sie die Protagonisten ganz genau. Und denkt sich oft: Du bist doch ein Narzisst. Und du auch. Und du auch.
Text: Joshua Kocher, Redaktion und Fachexpertise: Eva-Maria Träger
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Lesen Sie auch das Interview mit Psychotherapeutin Aline Vater, in dem sie erklärt, wo eine Therapie bei „narzisstischem Missbrauch“ ansetzt.
Quellen
Hilmar Benecke: Narzissmus in Partnerschaft und Paartherapie. Psychotherapie im Dialog, 20/03, 2019, 63–68. DOI: 10.1055/a-0771-7168
Kristin Dombek: Die Selbstsucht der anderen. Ein Essay über Narzissmus. Suhrkamp, 2016
Claas-Hinrich Lammers: Narzissmus oder kein Narzissmus? Ein Überblick zum Nutzen und Unnutzen des Begriffs in unserer Gesellschaft. Psychotherapie im Dialog, 20/ 03, 2019, S. 19-25. DOI: 10.1055/a-0771-7102
Joshua D. Miller: Controversies in narcissism. Annual Review of Clinical Psychology, 13, 2017, 291– 315. DOI: 10.1146/annurev-clinpsy-032816-045244
Aline Vater u. a.: Narzisstische Persönlichkeitsstörung. Forschung, Diagnose, Psychotherapie. Die Psychotherapie, 58/ 06, 2013, 599 –615. DOI: 10.1007/s00278-013-1021-5
Bärbel Wardetzki, Sonja R.: Und das soll Liebe sein? Wie es gelingt, sich aus einer narzisstischen Beziehung zu befreien. Dtv, München 2018