Nie mehr Narzisst von Station 6

Persönlichkeitsstörungen wie Narzissmus werden abgeschafft, zumindest in der gewohnten Form. Ein Psychologieprofessor erklärt, warum er das gut findet

Die Illustration zeigt einen Mann in einer psychiatrischen Klinik, der nachdenklich auf dem Boden sitzt und sich im Putzwasser spiegelt, während die Reinigungskraft den Fußboden mit dem Wischmob wischt
© Christina Baeriswyl für Psychologie Heute

Herr Professor Fiedler, Sie haben ein dickes Standardwerk über Persönlichkeitsstörungen verfasst, die jüngste Auflage zusammen mit einer Kollegin. Das können Sie jetzt gründlich umschreiben, denn die Weltgesundheitsorganisation hat die Persönlichkeitsstörungen mit ihrem neuen Klassifikationssystem für Krankheiten fast alle abgeschafft. Hat auf einmal niemand mehr eine Persönlichkeitsstörung?

Doch, natürlich. Aber wovon man sich verabschieden muss, sind die Kategorien, die es bisher für…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

eitsstörung?

Doch, natürlich. Aber wovon man sich verabschieden muss, sind die Kategorien, die es bisher für Persönlichkeitsstörungen gab. Es ist also zukünftig nicht mehr so leicht möglich zu sagen, das ist der Narzisst von Station 6. Solche Stigmatisierungen fallen weg.

Krankheitskategorien wie Narzissmus wurden ja oft als Schubladen kritisiert, in die Menschen gesteckt werden. In der ICD-11 gibt es weiter viele Krankheitskategorien für andere psychische Störungen, etwa Depression oder Schizophrenie. Aber bei den Persönlichkeitsstörungen werden sie bis auf eine Ausnahme gestrichen. Was schreiben Sie in Zukunft stattdessen auf den Antrag für eine Psychotherapie an die Krankenkasse?

Da kann nach wie vor Persönlichkeitsstörung stehen. Aber die Betreffenden werden nicht mehr in eine Kategorie wie Narzissmus einsortiert, sondern ihre Probleme werden auf bis zu fünf Dimensionen beschrieben. Sie dürfen die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vergeben, wenn jemand einen problematisch hohen Wert in mindestens einem dieser Persönlichkeitsbereiche aufweist.

Es gilt jetzt also nicht mehr „Persönlichkeitsstörung oder nicht“, sondern es gibt verschiedene Schweregrade?

Ja. Eine leichte Persönlichkeitsstörung liegt vor, wenn der Mensch zumindest noch einige funktionierende Beziehungen hat und im Beruf einigermaßen klarkommt. Er schadet sich selbst oder anderen nicht. Bei einer moderaten Persönlichkeitsstörung kommt es dagegen oft zu Konflikten mit anderen im Privatleben und bei der Arbeit, die auch vorübergehende psychische Verletzungen nach sich ziehen.

Und bei der schweren Persönlichkeitsstörung?

Solche Menschen haben typischerweise keine Freunde und massive Probleme, etwa am Arbeitsplatz. Dass sie dafür mitverantwortlich sind, ist ihnen aber nicht klar. Die Schäden für sie selbst und andere sind deutlich. Meist sind mehrere Persönlichkeitsbereiche betroffen.

Auf welchen Persönlichkeitsbereichen können Menschen anhand der ICD-11 eingestuft werden?

Da ist die negative Affektivität – jemand leidet unter seinen Gefühlen, empfindet also beispielsweise öfter innere Leere, Angst, Ärger, Schuld, Irritabilität, Verletzlichkeit oder ­Depressivität. Die zweite Dimension ist das Ausmaß der Dis­tanziertheit. Den Betroffenen fehlen Freunde oder Partner, ihr Gefühlsleben ist eingeschränkt, sie neigen zu Misstrauen. Dann gibt es die Enthemmung. Wer hier hoch liegt, strebt nach schnellen Belohnungen, kann seine Impulse nicht gut kontrollieren, explodiert etwa immer wieder aus heiterem Himmel.

Es folgt die Zwanghaftigkeit als problematischer Persönlichkeitsbereich, die gab es bisher als Kategorie.

Hier geht es in der Neufassung um Inflexibilität und starren Perfektionismus. Das macht es schwer, Aufgaben abzuschließen und seine Ziele zu erreichen. Und dann gibt es als letzten Punkt die Dissozialität. Hier dominieren Persönlichkeitsmuster, die bisher als Merkmale dissozial-narzisstischer Personen angesehen wurden: Kaltherzigkeit, Feindseligkeit und Mangel an Empathie. Dazu kommt um Aufmerksamkeit heischendes Verhalten in der Erwartung, von anderen wegen positiver oder negativer Verhaltensmuster bewundert zu werden. Die Folgen sind oft Verstöße gegen das Recht oder die Moral.

Kandidaten für einen hohen Wert auf dieser Dimension sind also Menschen, die bisher als dissozial oder narzisstisch diagnostiziert wurden. Eine Persönlichkeitsstörung bekommen sie bei ausreichendem Schweregrad mithin nach wie vor bescheinigt, genau wie Menschen mit hohen Werten in anderen Persönlichkeitsbereichen. Wo ist der Fortschritt, was waren die Probleme des alten Systems?

Ein großes Problem bisher war, dass bei den meisten Betroffenen gleich mehrere Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden mussten. Bei 80 bis 90 Prozent der Patienten, bei denen man eine festgestellt hat, hat man noch zwei oder drei andere gefunden. Und man hat dann versucht, eine Hauptdiagnose daraus zu machen und nur auf dieser Basis zu behandeln. Das funktioniert aber nicht. Das heißt, die Therapiekonzepte, die bisher für einzelne der Kategorien entwickelt wurden, reichen oft bei weitem nicht aus, wenn jemand komplexe Probleme hat.

Hat das bisherige kategoriale System weitere Nachteile?

Wie schon erwähnt verführt die bisherige kategoriale Diagnostik zur Stigmatisierung – der Narzisst von Station 6. Das ist nicht günstig, auch wenn die Diagnose bisher schon natürlich nicht Narzisst, sondern narzisstische Persönlichkeitsstörung lautete. Wenn die Patienten mit einer Negativdiagnose stigmatisiert werden, die sie für sich nicht akzeptieren, dann geht die Therapie den Bach runter. Gar nicht so selten haben Therapeutinnen und Therapeuten am Wochenende eine Borderlinefortbildung gemacht und dann plötzlich viele Patienten aus dem Bauch heraus als Borderlinepatienten diagnostiziert. Das waren reine Eindrucksdiagnosen, da wurde keine Untersuchung mit vorgegebenen Fragen gemacht, wie es nötig wäre.

Eigentlich mögen Therapierende Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, beispielsweise Borderline, ja nicht so, oder?

Sie gelten als schwierig, oft zu Unrecht. Therapierende, die nicht erfolgreich sind, entschuldigen sich häufig mit den Persönlichkeitsstörungen ihrer Patienten. Aber diese Entschuldigungen beruhen meistens auf Bauchdiagnosen.

Ausgerechnet die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird es aber als einzige weiter geben, obwohl auch sie abgeschafft werden sollte. Das ist maßgeblich zwei Deutschen zu verdanken, die an der Spitze wissenschaftlicher Organisationen für Persönlichkeitsstörungen standen – Ihrer Co-Autorin, der Psychiaterin Sabine Herpertz, und dem Psychiater Martin Bohus. Die beiden haben kräftig Lobbyarbeit bei der zuständigen Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation geleistet.

Das ist wie im Kaninchenzüchterverein, da gelten Mehrheitsentscheidungen. Und es ist eine ganz knappe Mehrheit für Borderline herausgekommen. Sabine Herpertz hat ihr Leben lang Borderline erforscht und auch Herr Bohus hat dicke Bücher darüber geschrieben. Ihm ist immer der Kragen geplatzt, wenn die Arbeitsgruppe angefangen hat, auch die Borderlinestörung streichen zu wollen [lacht]. Und die beiden haben halt gewonnen. So ist das in den Entwicklungszirkeln, in den Taskforces, wie das so schön heißt.

Interessant zu hören, wieso Diagnosen abgeschafft oder beibehalten werden. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe, die die Borderlinestörung streichen wollten, haben öffentlich vernehmlich mit den Zähnen geknirscht. Ihre Leiter haben das neue System als „Amalgam aus Wissenschaft, Pragmatismus und Politik“ bezeichnet. Hätten Sie die Borderlinestörung abgeschafft?

Ich hätte sie nicht drin haben müssen, weil die Dimensionen, etwa die der Enthemmung, hingereicht hätten, um die Störung zu diagnostizieren. Das ist aber nur meine Meinung. Ich kann die Beibehaltung gerade so akzeptieren, weil Borderline die bestbeforschte Persönlichkeit ist und wir inzwischen drei oder vier tolle Therapieverfahren haben, die eben auf dieser Diagnose basieren. Sie sorgen dafür, dass die Patienten innerhalb von ein, zwei, drei Jahren ihre Borderlineproblematik nicht mehr haben. Es gibt zwar noch Lebenssituationen, in denen sie nicht gut zurechtkommen. Sie leiden häufig noch an ihrer Umwelt, weil sie in einem Milieu groß geworden sind, das nicht ganz vernünftig organisiert war. Wenn eine Frau in einer schlagenden Familie groß geworden ist, dann hat sie vielleicht einen Schläger als Ehemann und der ist der Vater der Kinder und sie will unbedingt mit ihm zusammenbleiben. Aber man kann Borderlinerinnen selbstsicher machen im Umgang mit der Situation. Wir vermitteln die nötigen Fähigkeiten, die helfen, Übergriffen vorzubeugen, und es so ermöglichen, mit dem Partner zusammenzubleiben.

Borderline gibt es also noch, Narzissmus aber nicht mehr, jedenfalls nicht in der ICD. Sind Sie damit einverstanden?

Sehr. Es gibt zehn oder zwölf unterschiedliche Theorien zu Narzissmus, die kann man nicht unter einen Hut bekommen. Jede Therapeutin und jeder Therapeut versteht unter Narzissmus etwas anderes. Für mich ist das Entscheidende beim Narzissmus die Kränkbarkeit. Und die steht in der ICD-11 – unter negativer Affektivität. Wir helfen den Patienten, sie ­loszuwerden. Früher haben sich die Behandelnden an den Überlegenheitsvorstellungen dieser Patienten gestört. Das ist Unsinn. Sie dürfen glauben, was sie wollen, das steht im Grundgesetz.

Aber gesund ist es deswegen ja noch nicht unbedingt. Und es führt auch zu Problemen mit den Mitmenschen, wenn sich jemand immer überlegen fühlt.

Ich brauche trotzdem keine Narzissmusdiagnose. Vielleicht diagnostiziere ich eine moderate Persönlichkeitsstörung, wenn der Mensch nicht zurechtkommt im Leben, weil alle Leute ihn ausgrenzen oder mobben. Dann kann ich dem Betroffenen helfen, seine Ideen von der eigenen Überlegenheit durch andere zu ersetzen und auf eine andere Art mit Kollegen umzugehen. Ich helfe ihm auch, dass er sich nicht mehr kränken lässt, aber ich sage deswegen nicht Narzisst. Das ist abwertend, das ist kränkend und das will ich nicht mehr.

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung spielt ja nicht selten in psychiatrischen Gutachten vor Gericht eine Rolle, weil sie Gewalttaten mitverursachen kann. Dürfen die Sachverständigen den Begriff jetzt auch nicht mehr verwenden?

Vor Gericht gelten andere Regeln. Aber in jedem Fall darf nicht aus dem Bauch heraus diagnostiziert werden, das geht nur anhand einer klinischen Untersuchung mit standardisierten Fragen. Es gibt Gerichtsfälle, in denen Therapeuten wegen Beleidigung verklagt wurden, weil sie eine Borderline- oder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung konstatiert hatten. Ich darf nicht einfach Persönlichkeitsstörung sagen, das geht nicht ohne strukturiertes Diagnose-Interview.

Also dürfen wir Donald Trump keinen Narzissten nennen, solange er nicht standardisiert begutachtet wurde, möglichst im Rahmen eines Prozesses?

Fachleute sollten sich hüten, Journalisten dürfen das gern tun.

Aber die grundsätzliche Frage bleibt natürlich: Ist es richtig, jemandem eine Störung zu bescheinigen, weil er ist, wie er ist? Kann es krankhaft sein, eine bestimmte Persönlichkeit zu besitzen?

Das geht nur, wenn die Menschen an ihrer Persönlichkeit leiden, wenn sie also zu negativen Folgen für sie selbst führt. Eine Ausnahme gilt für Gutachten vor Gericht, wo es um die Frage geht, ob eine krankhafte Persönlichkeit zu Straftaten und negativen Folgen für die Opfer geführt hat. Aber im normalen Leben können Eigenheiten, die andernfalls als Persönlichkeitsstörung diagnostiziert würden, durchaus positive Folgen haben.

Tatsächlich? Da bin ich auf ein Beispiel gespannt.

Ich bekomme viele Briefe von Menschen, die mein Buch gelesen haben und beispielsweise fragen: Herr Professor, was ist eigentlich schlimm daran, dass ich gerne im Mittelpunkt stehe, mich schön anziehe und schminke? Und mich von einer Person ab- und anderen zuwende, wenn ich nicht mehr die Aufmerksamkeit bekomme, die ich haben will? Was ist schlimm daran? Das ist die typische Beschreibung etwa einer Boutiquebesitzerin. Die muss im Mittelpunkt stehen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich schön anziehen und schminken. Und wenn die Aufmerksamkeit nicht mehr kommt, muss sie sich anderen Leute im Laden zuwenden. Das waren aber bisher vier Kriterien der histrionischen Persönlichkeitsstörung und mehr brauchte man nicht für die Diagnose. Doch wenn die Dame nicht leidet, sollte sie keine Diagnose bekommen.

Doch wenn Sie leidet, kann sie behandelt werden und sollte es vielleicht auch. Aber meistens kommen Patientinnen und Patienten ja nicht wegen Persönlichkeitsstörungen in Therapie, sondern zur Behandlung von Depressionen, Ängsten und dergleichen. Spielt es da eine Rolle, ob Sie eine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren, und was für eine?

Oh ja. Jemand verliert beispielsweise seinen Arbeitsplatz und entwickelt eine Depression. Plötzlich arbeitslos zu sein ist für fast alle schwierig, aber nicht alle werden depressiv. Ich muss dann aufklären und muss beispielsweise sagen: Dein Problem liegt darin, dass du viel zu anhänglich-loyal und gewissenhaft bist. Und wenn dir dann der Arbeitsplatz genommen wird, hast du ein Verlusterlebnis und es besteht die Gefahr, dass du eine Depression bekommst. Wenn du in Zukunft bei solchen Verlusterlebnissen nicht wieder mit einer Depression reagieren willst, müssen wir ein bisschen an deiner Persönlichkeit arbeiten. Das ist hilfreich. Eine Diagnose bedeutet immer auch Aufklärung.

Zum Weiterlesen

Peter Fiedler, Sabine Herpertz: Persönlichkeitsstörungen. Mit E-Book inside. Beltz, Weinheim 2016 (7., vollständig überarbeitete Auflage)

Peter Tyrer u.a.: The development of the ICD-11 classification of personality disorders: An amalgam of science, pragmatism, and politics. Annual Review of Clinical Psychology, 2019, 15/1, 481–502. DOI: 10.1146/annurev-clinpsy-050718-095736

Peter Fiedler ist Psychotherapeut und war Professor für klinische Psychologie an der Universität Heidelberg. Er hat zahlreiche Lehrbücher verfasst – über Persönlichkeitsstörungen, Sexualität, Verhaltenstherapie, Stalking und Stottern

Literatur

Peter Fiedler, Sabine Herpertz: Persönlichkeitsstörungen. Mit E-Book inside. 7., vollständig überarbeitete Aufl.: Beltz, Weinheim 2016

Sabine Herpertz, Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen im ärztlichen Alltag, Deutsches Ärzteblatt, 10. Januar 2022

Steven K. Huprich: Personality Disorders in the ICD-11. Opportunities and Challenges for Advancing the Diagnosis of Personality Pathology. Current Psychiatry Reports 2020, 22, 40. DOI:10.1007/s11920-020-01161-4

Peter Tyrer u. a.: The Development of the ICD-11 Classification of Personality Disorders: An Amalgam of Science, Pragmatism, and Politics. Annual Review of Clinical Psychology, 2019, 15/1, 481–502, DOI:10.1146/annurev-clinpsy-050718-095736

WHO: ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics 6D10 Personality disorder

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2022: Nein sagen lernen