Bedrückend, beklemmend, quälend, nagend, beschämend: Unter den unerwünschten Emotionen rangieren Schuldgefühle weit oben. Sie verursachen eine Empfindung der Schwere, deshalb möchten wir sie am liebsten so schnell wie möglich abschütteln. Der Wunsch ist verständlich – doch so einfach ist es nicht. Und es wäre auch nicht sinnvoll, denn Schuldgefühle wollen uns etwas sagen. Sie können wichtige Signale sein, dass etwas nicht im Lot ist, wir etwas versäumt, jemandem Schaden zugefügt oder gegen ein inneres Gesetz verstoßen haben. Sie rufen uns zu: Interessier dich für mich! Erforsche mich. Wende dich nicht vorschnell ab. Frag mich, woher ich komme. Mach etwas mit mir! „Schuldgefühle wollen uns etwas Gutes, auch wenn sie sich ziemlich ungut anfühlen können. Sie sind kostbar und haben eine konstruktive Seite“, schreibt die Wiener Psychologin und Coachin Helga Kernstock-Redl.
Schuldgefühle haben eine existenziell wichtige Funktion. Stellen wir uns für einen Moment vor, wir wären nicht in der Lage, Schuld zu empfinden. Wir hätten kein inneres Korrektiv, das uns signalisiert: „Du hast einen Fehler gemacht. Du bist zu weit gegangen. Entschuldige dich. Zeig Reue. Mach es wieder gut.“ Unser Zusammenleben wäre ein Desaster. Das kleine Gedankenexperiment macht deutlich, dass die Fähigkeit, Schuld zu empfinden, ein genialer Kunstgriff der Evolution ist, um ein halbwegs friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Reue zu zeigen ist schon seit Jahrtausenden ein elementarer Weg, den Schutz der Gemeinschaft zu erhalten. „Hinter dem schlechten Gewissen steckt die Angst, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden“, so die Mannheimer Psychotherapeutin Karen Kocherscheidt. Völlige Gewissenlosigkeit sei aus diesem Grund selten: Ausgeprägte Narzissten neigten beispielsweise dazu, die Schuld immer beim anderen zu suchen. Noch seltener sind echte Psychopathen, denen Schuldgefühle oder soziale Verantwortung komplett fremd sind.
Konstruktiv oder irrational?
Was die Sache kompliziert macht: Es fällt uns manchmal schwer, zu unterscheiden zwischen echter Schuld, die wir anerkennen und aus der wir lernen können, und übersteigerten, irrationalen Schuldgefühlen, die uns eine Verantwortung für etwas einreden, das…
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