Bedrückend, beklemmend, quälend, nagend, beschämend: Unter den unerwünschten Emotionen rangieren Schuldgefühle weit oben. Sie verursachen eine Empfindung der Schwere, deshalb möchten wir sie am liebsten so schnell wie möglich abschütteln. Der Wunsch ist verständlich – doch so einfach ist es nicht. Und es wäre auch nicht sinnvoll, denn Schuldgefühle wollen uns etwas sagen. Sie können wichtige Signale sein, dass etwas nicht im Lot ist, wir etwas versäumt, jemandem Schaden zugefügt oder gegen ein inneres…
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verstoßen haben. Sie rufen uns zu: Interessier dich für mich! Erforsche mich. Wende dich nicht vorschnell ab. Frag mich, woher ich komme. Mach etwas mit mir! „Schuldgefühle wollen uns etwas Gutes, auch wenn sie sich ziemlich ungut anfühlen können. Sie sind kostbar und haben eine konstruktive Seite“, schreibt die Wiener Psychologin und Coachin Helga Kernstock-Redl.
Schuldgefühle haben eine existenziell wichtige Funktion. Stellen wir uns für einen Moment vor, wir wären nicht in der Lage, Schuld zu empfinden. Wir hätten kein inneres Korrektiv, das uns signalisiert: „Du hast einen Fehler gemacht. Du bist zu weit gegangen. Entschuldige dich. Zeig Reue. Mach es wieder gut.“ Unser Zusammenleben wäre ein Desaster. Das kleine Gedankenexperiment macht deutlich, dass die Fähigkeit, Schuld zu empfinden, ein genialer Kunstgriff der Evolution ist, um ein halbwegs friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Reue zu zeigen ist schon seit Jahrtausenden ein elementarer Weg, den Schutz der Gemeinschaft zu erhalten. „Hinter dem schlechten Gewissen steckt die Angst, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden“, so die Mannheimer Psychotherapeutin Karen Kocherscheidt. Völlige Gewissenlosigkeit sei aus diesem Grund selten: Ausgeprägte Narzissten neigten beispielsweise dazu, die Schuld immer beim anderen zu suchen. Noch seltener sind echte Psychopathen, denen Schuldgefühle oder soziale Verantwortung komplett fremd sind.
Konstruktiv oder irrational?
Was die Sache kompliziert macht: Es fällt uns manchmal schwer, zu unterscheiden zwischen echter Schuld, die wir anerkennen und aus der wir lernen können, und übersteigerten, irrationalen Schuldgefühlen, die uns eine Verantwortung für etwas einreden, das gar nicht in unserer Macht lag oder liegt. Denn manchmal empfinden wir Schuldgefühle, obwohl wir uns real nichts haben zuschulden kommen lassen. Mathias Hirsch, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, hat mit Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt ein vielzitiertes Standardwerk verfasst. Er unterscheidet zwischen sozial notwendigen, konstruktiven Schuldgefühlen – die eher warnen, zu bedenken geben und das soziale Verhalten regulieren –, Schuldbewusstsein – also Anerkennung realer Schuld, wenn wir tatsächlich jemandem geschadet haben – und irrationalen Schuldgefühlen, die auf puren, von der Realität abgekoppelten Fantasien beruhen. Wie beispielsweise der kindlichen Vorstellung, an der Trennung der Eltern oder an der Depression der Mutter schuld zu sein. Oder der Idee, der an Krebs gestorbene Partner hätte durch noch mehr eigene Liebe und Fürsorge wie durch ein Wunder geheilt werden können.
Mathias Hirsch schlägt vor, von Schuldbewusstsein zu sprechen, wenn wir tatsächlich schuldig geworden sind, jemanden belogen, übervorteilt, beschädigt, etwas Wichtiges versäumt haben, und von Schuldgefühl, wenn wir innerlich besorgt sind, dass wir jemandem, der uns wichtig ist, geschadet haben könnten. Dass wir dazu in der Lage sind, zwischen Schuldbewusstsein und Schuldgefühlen zu differenzieren, verrät die Sprache. „Ich bin mir meiner Schuld bewusst.“ „Ich bin mir keiner Schuld bewusst.“ „Ich fühle mich schuldig.“ Raphael Bonelli, Psychiater und Neurowissenschaftler in Wien, vergleicht Schuldgefühle mit Schmerzgefühlen. So wie ein körperlicher Schmerz darauf aufmerksam mache, dass etwas nicht stimmt, zeige das Schuldgefühl einen sozialen Schaden an und sei eine Art inneres Alarmsystem. Doch manchmal kommt es zu einem falschen Alarm. So wie es Phantomschmerzen gibt, können uns auch Phantomschuldgefühle das Leben buchstäblich schwermachen.
Magda Kerber (Name geändert) ist Abteilungsleiterin in einem großen Unternehmen und verantwortlich für 20 Mitarbeiter. Sie klagt über permanente Schuldgefühle, wenn sie abends nach Hause geht. „Ich fühle mich fast jeden Abend schuldig, weil ich wieder nicht alles geschafft habe, weil mein E-Mail-Fach immer noch nicht leer ist, weil ich meine Kollegen nicht ausreichend unterstütze und mit meinen wichtigen Themen nicht schnell genug vorankomme.“ Sie macht sich Vorwürfe, schreibt innerlich eine Liste ihrer Verfehlungen und Versäumnisse und hat inzwischen einen imaginären Berg an Schuld aufgehäuft, den sie nicht mehr abtragen kann, so sehr sie sich auch anstrengt. „Ich fühle mich dann mies und wertlos, wie eine Versagerin.“
Erraten der Erwartungen
Doch bei Lichte besehen hat sie keinerlei Schuld auf sich geladen, keine wichtigen Termine verpasst, nicht gegen Unternehmensregeln verstoßen und auch keine Mitarbeiter brüskiert. Kerber vermutet, dass ihr ihre zu hohen Ansprüche das ständige schlechte Gewissen verursachen. Sie beginnt ein Coaching. Und bald wird ihr klar, dass das Problem tiefer liegt. Sie geht in ihrer Erinnerung zurück in die Zeit, in der das Gefühl zum ersten Mal auftauchte: Ihre Mutter war als berufstätige Frau mit zwei kleinen Kindern dauerhaft überlastet. Magda Kerber versuchte, Arbeit im Haushalt zu übernehmen, um sie zu entlasten. Doch es funktionierte nicht. Was sie auch machte, es war immer das Falsche.
„Ich habe mich furchtbar angestrengt, zu erraten, was meine Mutter wohl von mir und meiner Schwester erwartete. Sie hat nie etwas Konkretes verlangt, war aber jeden Abend sauer und hat stundenlang nicht mehr mit mir gesprochen. Wenn ich den Küchenboden geputzt hatte, war sie ärgerlich, weil ich den Balkon hätte fegen sollen. Fegte ich den Balkon, wären die Betten dran gewesen. Ich konnte es ihr nie recht machen.“ In dieser gereizten Atmosphäre entwickelte sie nach und nach die Vorstellung, schuld zu sein an der Gereiztheit ihrer Mutter. Seitdem schleppte Kerber das schlechte Gewissen mit sich herum. Als erwachsene Frau und in ihrer Rolle als Führungskraft versuchte sie zu erahnen, was andere von ihr erwarteten, ihr Chef, ihre Kollegen und Mitarbeiterinnen. Ihr inneres Gesetz lautete: „Ich muss allen ihre Wünsche und Bedürfnisse von den Augen ablesen und sie erfüllen.“ Sie kam nicht auf die Idee, dieses Gesetz zu hinterfragen.
Erst als Kerber klarwurde, dass sie als Kind gar keine Chance hatte, die unausgesprochenen Forderungen ihrer Mutter zu erfüllen – und das auch niemals ihre Aufgabe gewesen war –, konnte sie das irrationale Schuldgefühl im Beruf nach und nach ablegen und einen eigenen Maßstab finden. „Wer ständig einen inneren Druck verspürt und Angst hat, zu versagen und schuldig zu werden, sollte seinen inneren Gesetzestext anschauen und überprüfen, ob die Regeln überhaupt erfüllbar sind und der Realität entsprechen“, empfiehlt Helga Kernstock-Redl (siehe Interview auf Seite 22). Ständig wiederkehrende Schuldgefühle sind für die Psychotherapeutin ein Anzeichen, dass wir an alten Gesetzen festhalten, die längst nicht mehr gültig sind.
„Es tut mir leid“ – wir bieten ein Stofftier an
Den Umgang mit Schuld und schlechtem Gewissen lernen wir in der Kindheit. Reaktionen der Eltern, anderer Kinder, Erzieher oder Lehrer machen uns deutlich, was akzeptabel, unerwünscht oder verboten ist. Wenn wir ein anderes Kind geschubst oder ihm etwas weggenommen haben, merken wir an den Reaktionen der anderen, dass das nicht in Ordnung war. Das Kind weint, Eltern oder Erzieher ermahnen uns, aufzuhören und es nicht wieder zu tun. Wir streichen dem Kind vielleicht über den Kopf, sagen: „Es tut mir leid“, und bieten ein Stofftier an. So lernen wir nach und nach einen konstruktiven Umgang mit Schuld und schlechtem Gewissen. Vermitteln andere ihre Vorstellungen, Verbote und Regeln wohlwollend und erklären sie so, dass Kinder sie gut verstehen können, helfen die verinnerlichten Regeln, gut durchs Leben zu kommen. Schuldgefühle haben dann eine aktivierende Energie, sie sind ein Anreiz, sich einfühlsam und respektvoll zu verhalten. Sie führen zu Zugewandtheit und Aufmerksamkeit für das Gegenüber und sind eine Art sozialer Kitt.
Stellen Eltern hingegen Regeln auf oder machen häufig Vorwürfe, die völlig an den kindlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten vorbeigehen, werden sie zum Nährboden für irrationale Schuldgefühle. Magda Kerber hatte keine Chance, die unausgesprochenen, täglich wechselnden und überfordernden Regeln ihrer Mutter zu befolgen. Sie glaubte einfach, der Mutter helfen und deren Wünsche nach Unterstützung erfüllen zu müssen. Und auch wenn sie es gekonnt hätte, geholfen hätte es nichts: Die Unzufriedenheit und Überforderung der Mutter, die sie stets von neuem auf das Kind projizierte, erzeugten in der Tochter das Gefühl, nie zu genügen. Diese Form bezeichnet Mathias Hirsch als „Basisschuldgefühl“. Hirsch unterscheidet zwischen vier Typen von irrationalen Schuldgefühlen:
Basisschuldgefühl: Ein Schuldgefühl aufgrund der bloßen Existenz des Kindes oder seines So-Seins, insbesondere seines Geschlechts, das zu dem Gefühl führt, unwillkommen, eine Last zu sein oder im Weg zu stehen und zu viel Platz einzunehmen.
Schuldgefühl aus Vitalität. Etwas begehren, haben wollen, Erfolg haben wollen, andere übertreffen wollen, Sexualität leben wollen – diese vitalen Impulse werden als schuldhaft erlebt, wenn sie von der familiären Umgebung nicht willkommen geheißen werden können.
Trennungsschuldgefühl: Die Autonomiebestrebungen des Kindes in allen Lebensaltern (auf eine hohe Mauer klettern, woanders übernachten, Geheimnisse haben, allein verreisen,…) sind mit Schuldgefühlen verbunden, weil die Eltern sie als bedrohlich erleben.
Traumatisches Schuldgefühl: Schwere Gewalt- und Verlusterfahrungen führen dazu, dass die Opfer sich selbst schuldig fühlen an dem, was ihnen widerfahren ist.
Basisschuldgefühl
Wer unter ausgeprägten Schuldgefühlen leidet, die nicht durch reale Schuld begründet sind, hat in der Regel in seiner Herkunftsfamilie eine Form von Gewalt erlebt, beispielsweise emotionale Vernachlässigung, Entwertung, Beschimpfung bis hin zu körperlicher Gewalt und Missbrauch. „Es gibt keine hundertprozentig guten Eltern, das ist auch gar nicht wünschenswert“, so Psychoanalytiker Hirsch. 75 Prozent reichten aus, zumindest sollten Eltern überwiegend fürsorglich und liebevoll sein. Dann haben Kinder gute Chancen, sich angenommen und wertvoll zu fühlen, und entwickeln keine pathologischen Schuldgefühle. „Wenn sich jedoch ein Mädchen nicht willkommen fühlt, weil es unterschwellig spürt oder sogar gesagt bekommt, dass die Eltern sich einen Jungen gewünscht haben, ist das eine basale narzisstische Verletzung für ein kleines Kind, die ein Schuldgefühl erzeugt.“
Auch Sätze wie: „Wegen dir mussten wir heiraten. Du bist schuld daran, dass wir eine schlechte Beziehung haben. Wegen dir musste ich meine Karriere aufgeben“, wirken wie Gift. Wenn Kinder sie oft genug hören und niemand es je korrigiert, glauben sie irgendwann daran. Das kindliche Schuldgefühl treibt sie später an, es anderen recht zu machen, für Harmonie zu sorgen, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, damit es anderen gutgeht. Für dieses Muster sind Frauen deutlich anfälliger als Männer. In einer Studie an der Universität des Baskenlandes in San Sebastian wurden 360 Männer und Frauen befragt, wie schuldig sie sich fühlten, wenn sie einen Krankenhausbesuch aufgeschoben, den Geburtstag eines guten Freundes vergessen hatten oder im Streit ausfallend geworden waren. Das Ergebnis: Frauen entwickeln in jeder Altersgruppe schnell Schuldgefühle, Männer dagegen erst ab einem Alter von 40 bis 50 Jahren. Besonders schwache Schuldgefühle gegenüber anderen zeigten die 25- bis 33-jährigen Männer. Das Forscherteam führt das auf Erziehungsstereotype zurück.
Schuldgefühl aus Vitalität
In der Adoleszenz entwickeln Jugendliche irreale Schuldgefühle, wenn Eltern die völlig legitimen vitalen Bedürfnisse der Heranwachsenden als Bedrohung erleben und sanktionieren. Der 17-Jährige, der in den Club will, um zu feiern und Mädchen kennenzulernen, und zu Hause bleibt, weil die Mutter wieder Migräne hat. Die 16-Jährige, die unbedingt ein Jahr im Ausland verbringen möchte und sich anhören muss, sie sei egoistisch und lasse die Familie im Stich. Schuldgefühle aus Vitalität können äußerst hartnäckig sein und noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter das Leben unterschwellig lenken.
Die Berliner Therapeutin und Sozialpädagogin Ingrid Meyer-Legrand leitet regelmäßig Seminare für Kriegsenkel und Kriegsenkelinnen. Sie berichtet von einem Seminar mit Frauen zwischen Mitte fünfzig und Ende sechzig. Mehr als die Hälfte berichtete von belastenden Schuldgefühlen: „Ich fühle mich immer noch schuldig, dass ich meinen Heimatort verlassen habe und 300 Kilometer weit weggezogen bin.“ „Ich habe ein Schuldgefühl, weil ich studiert habe und mein Vater einfacher Handwerker war und mit der Welt, in der ich jetzt lebe, nichts anfangen kann.“ „Ich fühle mich immer noch schlecht, weil meine Mutter, die immer Tänzerin werden wollte, wegen uns Kindern darauf verzichten musste. Ich habe eine Tanzausbildung, aber ich habe mich nie getraut, auf die Bühne zu gehen. Ich fühle mich irgendwie schuldig.“ Diese Aussagen zeigen eindrucksvoll, wie mächtig und einschränkend irrationale Schuldgefühle sein können. Für Mathias Hirsch sind sie Ausdruck eines gefühlt unlösbaren inneren Konflikts, der im Berufs- und Privatleben zu großen Blockaden führen kann.
Viele Menschen suchen seine Praxis auf wegen Prüfungsangst und Arbeitsstörungen, die in irrationalen Schuldgefühlen wurzeln. „Wenn ich Arzt werden will, überrunde ich meinen Vater, der nur einfacher Bäcker war und sich vielleicht benachteiligt fühlt. Den Vater zu überrunden ist jedoch verboten. Psychoanalytisch gesprochen entsteht eine ödipale Konkurrenz mit dem Vater, denn wenn ich Arzt bin, bin ich in den Augen der Mutter besser als der Vater“, erklärt Hirsch. Ein Weg, den Konflikt zu lösen, seien Arbeitsstörungen und Prüfungsängste. Der Erfolg wird unbewusst verhindert, um die Schuldgefühle im Zaum zu halten. Gerade in der Adoleszenz sei es deshalb wichtig, dass Eltern ihre Kinder ihren eigenen Weg finden lassen, ohne ihnen elterliche Wünsche aufzuzwingen.
Trennungsschuldgefühl
Je schwerer sich Eltern damit tun, desto bedrückender ist es für Jugendliche und junge Erwachsene, von den Eltern wegzugehen. Das Trennungsschuldgefühl entsteht jedoch laut Hirsch bereits viel früher, beispielsweise wenn das Kind mit zwei Jahren den Mut entwickelt, sich von den Eltern zu entfernen, in ein anderes Zimmer zu laufen, die Umgebung zu erkunden. Wenn die Eltern gekränkt oder strafend auf die ersten Autonomiebestrebungen reagieren, versteht das Kind die Welt nicht mehr und beginnt, sich schuldig zu fühlen. Nach der Einschätzung von Mathias Hirsch basieren viele Störungen und Krankheitsbilder der Psychotherapiepatientinnen und -patienten auf nicht gelungenen Ablösungsprozessen und den damit verbundenen Schuldgefühlen.
Je zufriedener Eltern mit ihrem Leben und ihrer Ehe sind, je besser das gemeinsame Leben geglückt ist, desto leichter können sie die Kinder in die Freiheit entlassen. Wenn sie mit sich ins Reine kommen und ihr Leben neu ausrichten, ohne dafür die Kinder zu brauchen, tun sie damit nicht nur sich selbst etwas Gutes, sondern auch ihren erwachsenen Kindern. Denn Trennungsschuldgefühle haben eine langandauernde destruktive Wirkung. „Wenn jemand Schwierigkeiten hat, die Firma zu verlassen, obwohl der Chef ein Choleriker ist, oder sich nicht trennen kann, obwohl der Partner gewalttätig wird, hat das meist mit Trennungsschuldgefühlen zu tun.“ Da ist zum Beispiel die Chefsekretärin, die sich insgeheim für das Wohl der ganzen Firma verantwortlich fühlt und bleibt, obwohl sie unter Tarif bezahlt wird und ihr Chef sie schlecht behandelt.
„Sie fühlt sich wie ein Kind dem Vater gegenüber verpflichtet zu bleiben. Der Gedanke, ihn im Stich zu lassen, weckt in ihr Schuldgefühle. Die Vorstellung, den Arbeitgeber zu wechseln, empfindet sie als Verrat. Das sind natürlich irrationale Schuldgefühle. Die schwierige Beziehung zu den Eltern wird auf die Firma projiziert“, sagt Mathias Hirsch. Dass irrationale Schuldgefühle die Lebensfreude vermiesen, beruflichen Erfolg blockieren und Liebesbeziehungen belasten, liegt auf der Hand. Sie lassen sich lindern oder sogar heilen, indem Menschen lernen, liebevoller mit sich selbst umzugehen und sich gegen Zumutungen abzugrenzen.
Traumatisches Schuldgefühl
Extreme Beispiele für irrationale Schuldgefühle gibt es bei Menschen, die Opfer von Gewalttaten geworden sind, zum Beispiel als Kind geschlagen oder missbraucht wurden. Die psychoanalytische Erklärung hierfür lautet: Ein Kind ist darauf angewiesen, ein Bild von genügend guten Eltern zu bewahren, weil es sonst Angst haben muss zu sterben. Ist der Vater gewalttätig, nimmt das Kind ihm die reale Schuld ab, um ihn sich weiterhin als guten Vater vorstellen zu können. Es identifiziert sich mit dem Aggressor. Dasselbe geschieht bei sexuellem Missbrauch. Jungen, die Gewalt erfahren, neigen zur Täteridentifikation, werden auffällig, unangepasst, schlagen andere Kinder. Mädchen neigen zur Opferidentifikation: Ich bin schlecht, ich bin nichts wert, ich bin schuld, ich habe ihn provoziert. Auch Folteropfer oder Lagerinsassen neigen zu starken Schuldgefühlen und Selbstbezichtigungen. Das sogenannte survivor guilt syndrome wurde erstmals bei Holocaust-Überlebenden festgestellt. Diese Form des Schuldgefühls kann den Eindruck der absoluten Ohnmacht und Sinnlosigkeit mildern. Die Vorstellung, etwas schuldhaft getan zu haben, um zu überleben, vermittelt ein Gefühl von Kontrolle. Schuldgefühle können also in Situationen von Ohnmacht ein verzweifelter Versuch sein, ein Bewusstsein persönlicher Macht und Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Reale Schuld und ihre Entwicklungsschritte
Eine übermäßige Schuldneigung macht anfällig für Selbstbeschimpfungen und intensive Versagensgefühle. „Jede psychische Störung ist mit unrealistischen Schuldgefühlen verbunden“, sagt Mathias Hirsch. Am deutlichsten ist der Zusammenhang bei depressiven Erkrankungen. Wer an einer Depression leidet, gibt sich die Schuld für alles, was im Leben schiefgelaufen ist. Aufgabe der Psychotherapie sei, pathologische Schuldgefühle auf die dahinter liegenden Beziehungserfahrungen zurückzuführen und dadurch kleiner zu machen. Auf eine Kurzformel gebracht: Konstruktive Schuldgefühle und das Anerkennen realer Schuld sollten gefördert, neurotische Schuldgefühle reduziert werden. Die neurotischen Hintergründe des Schuldempfindens ließen sich meist lindern oder heilen, bestätigt die Psychoanalytikerin Vera Kattermann. In dem Maße, in dem das Ich eine gesündere Selbstwertregulierung erlerne, die Strenge des Über-Ichs nachlasse und die Fähigkeit zu Abgrenzung und konstruktiver Aggression wachse, würden Schuldgefühle nach und nach verschwinden.
Raphael Bonelli unterstützt seine Patienten und Patientinnen ebenfalls darin, sich von irrationalen Schuldgefühlen zu befreien. Er ist jedoch der Auffassung, dass die Psychotherapie sich in jüngster Zeit zu stark auf neurotische Schuldgefühle konzentriert hat. Auch die Ratgeberliteratur fokussiere einseitig auf Tipps, Schuldgefühle loszuwerden. Doch das reicht seiner Meinung nach nicht aus. Es sei auch Aufgabe von Psychotherapie, Menschen zu ermuntern, realer Schuld ins Auge zu blicken und Wege der Wiedergutmachung zu finden. Das Bemühen, sich selbst zu hinterfragen und den eigenen Anteil an einem Streit oder einem Unglück zu sehen, setze das Bewusstsein voraus, dass man selbst fehleranfällig ist. „Dieses Bewusstsein fehlt heute vielen“, schreibt Bonelli. Auch die Analytikerin Kattermann legt Wert auf die Unterscheidung zwischen realer Schuld und neurotischen Schuldgefühlen: Reale Schuld bleibe bestehen, schreibt sie, sie stelle andere Fragen und bedürfe anderer innerer Entwicklungsschritte. Sehr wichtig sei, dass sich Schuldiggewordene selbst verzeihen könnten. Anschließend rückten Möglichkeiten der Wiedergutmachung ins Blickfeld. Je nach Schwere und Art der Schuld und auch abhängig von den persönlichen Ressourcen benötigen solche Prozesse viel Zeit.
Weil Schuld sich so unangenehm anfühlt, wehren wir sie gerne ab und schieben sie anderen zu, im Alltag gerne denen, die gerade in der Nähe sind, etwa unserer Partnerin. Paartherapeuten können ein Lied davon singen. Es ist immer der Partner, der lieblos, unaufmerksam, untreu oder ungerecht handelt. „Vorwürfe sind sozusagen nach außen verlegte Schuldgefühle“, schreibt der Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer in seinem Buch Du bist schuld! Zur Paaranalyse des Vorwurfs. Anderen Schuld zuzuweisen bringt innerlich kurzfristig eine Befriedigung. Doch langfristig führt das Festhalten an der Opferrolle und das Auslagern der eigenen Schuld in eine Sackgasse. Eigene Schuld anzunehmen, einzugestehen und abzutragen festigt die Beziehung zu anderen. Nur wenn wir uns einer Schuld bewusst sind, können wir sie auflösen. Wir bedauern unseren Fehler und suchen aktiv nach Möglichkeiten, ihn wiedergutzumachen, oder – wenn das nicht möglich ist – nach Wegen, wie wir ihn in Zukunft vermeiden. So werden Schuldgefühle zum Entwicklungsmotor und fördern Verzeihen, Güte und Widerstandskraft.
Literatur
Mathias Hirsch: Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017 (7. Auflage)
Mathias Hirsch: Schuldgefühl. Psychosozial, Gießen 2020
Helga Kernstock-Redl: Schuldgefühle. Woher sie kommen, warum sie Ängste verursachen, wie sie unser Leben unterschwellig lenken und wie wir sie ablegen können. Goldegg, Berlin 2020
Raphael M. Bonelli: Selber schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen. Droemer Taschenbuch, München 2016
Was ist Schuld?
Schuld, psychologisch In der Psychologie zählt Schuld zu den sogenannten sekundären Emotionen. Diese sind komplexer und setzen ein tieferes Verständnis von sich selbst und von sozialen Beziehungen voraus. Das unterscheidet die sekundären von den sogenannten primären Emotionen, die bereits bei Säuglingen zu beobachten sind, wie Freude, Ärger oder Ekel. Zu den sekundären Emotionen zählen neben Schuld zum Beispiel auch Empathie, Verlegenheit, Stolz und Scham. Um Schuld oder Scham empfinden zu können, muss ein Kind sein eigenes Verhalten mit sozial erwünschten Normen vergleichen können. Daher treten diese Emotionen erst im Laufe des Kleinkindalters auf.
Schuld, ethisch Der Begriff umfasst religiöse, rechtliche, moralische und politische Dimensionen. Die Philosophin Maria-Sibylla Lotter beschreibt Schuld als ein „System von Elementen“, die in der europäischen Kulturgeschichte unterschiedlich „gewichtet, interpretiert oder auch ausgeblendet wurden“. Eine Schuld kann sich demnach erstens auf eine Verpflichtung beziehen, eine empfangene Gabe zurückzuzahlen, etwa einen Kredit oder eine Hypothek. Zweitens kann Schuld entstehen, wenn ein Mensch „Urheber eines Übels“ wird, er oder sie also anderen Personen einen Schaden zufügt. Und drittens handelt es sich bisweilen um einen „vorwerfbaren Verstoß“, etwa gegen eine Regel, eine Norm oder eine bestimmte Erwartung.
Schuldgefühl Man verurteilt sich selbst, weil man glaubt, etwas falsch gemacht zu haben. Der Psychiater und Psychotherapeut Raphael Bonelli schreibt, dass Schuldgefühle, Schuldbewusstsein und ein schlechtes Gewissen ein Zeichen dafür seien, dass ein Mensch psychisch gesund ist. Denn dass man schuldig wird, ist normal und Teil des Lebens. Ein Schuldgefühl ohne tatsächliche Schuld gilt indes als pathologisch, also krankhaft. Menschen, die auch nach harmlosem Verhalten oft Schuld empfinden, neigen zugleich verstärkt zu negativen Affekten und Unzufriedenheit.
Ethik und Moral Ethische Regeln unterscheiden sich nach Kultur-, Migrations- oder Bildungshintergrund, Szene- oder Peergroupzugehörigkeit, so der Psychoanalytiker Micha Hilgers: „Die jeweilige ,Mentalität‘ und der Zeitgeist, die Epoche, das Geschlecht und Alter erlauben bestimmtes Verhalten oder Erleben oder verbieten es umgekehrt gerade, oft aus den gleichen Gründen, jedoch mit unterschiedlichen Begründungen.“ Und je nach sozialer Gruppe stellt normabweichendes Verhalten sogar soziale Anerkennung und Prestige in Aussicht.
Gewissen Wenn wir uns etwas haben zuschulden kommen lassen, rationalisieren wir gern und wehren Schuldgefühle ab, anstatt zu bereuen. Das Gewissen sei Schwankungen unterworfen, so Micha Hilgers, es sei „oft widersprüchlich in seinen Forderungen, in seinen Ge- und Verboten, daher oft fraktioniert, vor allem aber beeinflussbar und daher auch korrumpierbar“. Unser Gewissen ist durchaus willens, einzelne Normverstöße hinzunehmen, denn dann erklärt es das fehlerhafte Verhalten zur Ausnahme, als „noch in erträglichem Maße fehlerhaft“. Solange das so ist, gerät das „Über-Ich“ nicht in Konflikt mit dem handelnden Ich. Hilgers: „Das Ich erträgt folglich Scham und Schuld überhaupt nur, wenn sie nicht grundsätzlichen Charakter haben und keine dramatischen Fehlverhaltensweisen betreffen.“
Checkliste: Sind Sie schuldig?
1. Gibt es ein allgemein anerkanntes Gesetz oder Recht, das gebrochen wurde? Welches genau ist es?
2. UND waren Sie voll zurechnungsfähig?
3. UND über 14 Jahre alt?
4. UND hatten Sie eine echte Wahl?
5. Oder gibt es eine gesetzlich bestätigte, im Alter von über 14 Jahren im Zustand der Zurechnungsfähigkeit und mit echter Wahlmöglichkeit getroffene (Rück-)Zahlungsverpflichtung?
6. Hatten Sie unter ebendiesen Voraussetzungen wirklich die Verantwortung für das Verhalten oder das Befinden einer dritten Person und müssen daher unter Umständen dafür die volle Verantwortung übernehmen?
7. Gibt es mildernde oder rechtfertigende Umstände, die eine Schuld reduzieren, wie zum Beispiel die Wahrung eines höherwertigen Rechtsgutes oder ein eigenes Recht, auf das Sie sich berufen können?
Helga Kernstock-Redl: Schuldgefühle. Woher sie kommen, warum sie Ängste verursachen, wie sie unser Leben unterschwellig lenken und wie wir sie ablegen können, Goldegg, Berlin 2020
Wege, Schuldgefühle abzulegen
Ich prüfe objektiv die Realität hinter der Schuld (Realitätscheck)
Ich mache es wieder gut
Ich nehme Leid auf mich (Strafe/Buße)
Ich werde es nie wieder tun (daraus lernen)
Es tut mir leid (Entschuldigung)
Ich verändere mein inneres Gesetz
Es steht mir zu, ich habe das Recht (Selbstwert und Rechte aufbauen)
Ich teile die Schuld zwischen den Beteiligten aufIch bitte um Verzeihung
Ich erkenne das wahre Gefühl hinter dem Schuldgefühl (zum Beispiel Trauer, Wut)
Ich erkenne meine eigene Not an (Selbstmitgefühl)
Helga Kernstock-Redl: Schuldgefühle. Woher sie kommen, warum sie Ängste verursachen, wie sie unser Leben unterschwellig lenken und wie wir sie ablegen können. Goldegg, Berlin 2020
„Heute sind wir frei“
Ich will, ich muss , ich sollte – manche von uns hätten viel zu viele solcher Sätze im Kopf, sagt die Psychologin Helga Kernstock-Redl. Aber wir können unsere inneren Gesetze hinterfragen
Frau Kernstock-Redl, meistens finden wir Schuldgefühle unangenehm und wollen sie schnell loswerden. Sie betonen, dass Schuldgefühle auch kostbar sind. Was ist das Gute daran?
Wie jedes Gefühl will auch das Schuldgefühl etwas Gutes für uns und die Gemeinschaft, in der wir leben. Schuldgefühle sollen unangenehm sein, damit wir möglichst viel dafür tun, um sie loszuwerden. Sie animieren uns, Regeln einzuhalten, uns für einen Fauxpas zu entschuldigen oder Gerechtigkeit wiederherzustellen nach einem Konflikt, in dem wir uns unfair verhalten haben. Sie wollen also etwas Gutes, aber zu viel des Guten ist schlecht. Der Sinn von Schuldgefühlen ist nicht, dass sie uns dauerhaft quälen. Viele fühlen sich ihren Schuldgefühlen ausgeliefert. Aber wir können die Energie nutzen, die in einem Schuldgefühl steckt, um etwas wiedergutzumachen oder um irrationale Schuldgefühle loszuwerden. Schuldgefühle sind wie Hinweisschilder, an denen wir uns schmerzhaft den Kopf stoßen, um zu erkennen, dass wir gegen ein inneres Gesetz verstoßen haben.
Es gibt innere Gesetze, die sinnvoll sind und uns und anderen dienen. Zum Beispiel, ehrlich zu sein, uns an Absprachen zu halten. Aber was ist mit verinnerlichten Gesetzen, die absurd sind, die wir vielleicht gar nicht erfüllen können?
Menschen, die zwanghaft perfektionistisch sind, haben so viele innere Gesetze, wie etwas richtig sein soll, dass sie bei der kleinsten Abweichung Schuldgefühle entwickeln. Sie sind übertrieben streng zu sich aus Angst, Fehler zu machen und dafür bestraft oder beschuldigt zu werden. Wer ständig mit dem inneren Druck zu versagen durch die Welt läuft, sollte das als Einladung nehmen, den inneren Gesetzestext zu überprüfen: Welche Ich-will-, Ich-muss-, Ich-sollte-Sätze habe ich im Kopf? Sind sie überhaupt erfüllbar? Wenn ich das innere Gesetz habe: „Ich darf nicht nein sagen“, wird mich jede Ablehnung einer Forderung von anderen in tiefe Schuldgefühle stürzen. Dann wäre es an der Zeit, das innere Gesetz zu verändern.
Die inneren Gesetze entstehen ja in der Regel in der frühen Kindheit. Wir suchen sie uns nicht aus.
Viele davon basieren auf uralten Regeln aus der Kindheit, die ihre Gültigkeit längst verloren haben, und doch hängen sie uns noch sehr lange nach. Grob vereinfacht scheint es zwei extreme Gruppen zu geben. Die einen haben die Regel verinnerlicht: „Ich darf alles bekommen, was ich möchte. Meine Eltern müssen immer für mich sorgen.“ Manche denken mit Mitte sechzig noch, die neunzigjährige Mutter müsse weiterhin für sie da sein. Die andere Gruppe hat die entgegengesetzte Regel verinnerlicht: „Ich muss brav sein und tun, was die Erwachsenen sagen und alle Erwartungen erfüllen.“ Das sind dann Menschen, die ihren Beruf aufgeben, um die alten Eltern zu pflegen, oder die zulassen, dass der Vater, der schon lange in Pension ist, immer noch alles im Familienbetrieb bestimmt. Von außen betrachtet ist die Dynamik zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern oft absurd, weil sie von Regeln dominiert wird, die mal im Kleinkindalter gegolten haben. Im Idealfall werden die alten Regeln irgendwann aufgelöst. Oder man verständigt sich gemeinsam auf neue oder entscheidet autonom, welcher „Moral“ man im Erwachsenenalter folgen will. Das würde Schuldgefühle enorm reduzieren.
Was ist mit Schuldgefühlen, wenn die Eltern pflegebedürftig werden und man sich nicht selbst kümmern kann oder möchte?
Meist kümmern wir uns um Kinder, Freundinnen oder alte Eltern, weil wir sie gern haben. Das Motiv ist Liebe und kein Regelwerk. Schuldig fühle ich mich erst, wenn ich mich verpflichtet fühle. Wir leben nicht in Indien, wo es keine Altersversorgung gibt und 95 Prozent der Bevölkerung es als ihre Pflicht ansehen, sich um die alten Eltern zu kümmern. Hierzulande kann ich auch organisieren, dass die Eltern gut versorgt sind. Wenn der Anspruch kommt, ich muss es selbst tun, kann ich ihn hinterfragen. Hilfreich kann auch sein, die Schuld zu belassen und gleichzeitig ein Recht aufzubauen. Am Beispiel der alten Mutter: „Ich bin es dir schuldig, mich um dich zu kümmern, aber ich habe auch ein Recht auf mein eigenes Leben.“ Menschen mit starken Schuldgefühlen empfehle ich, das Wort Recht durch Pflicht zu ersetzen. Ich habe auch eine Pflicht gegenüber meinen Kindern, meinem Partner und gegenüber der Person, die ich mit achtzig sein werde und die eine Rente braucht. Ich bin mir jedoch auch selbst etwas schuldig. Also hänge ich meinen Job nicht an den Nagel, sondern organisiere einen Pflegedienst und bringe so das, was ich meiner Mutter und mir selbst schuldig bin, ins Gleichgewicht.
Innere Gesetze als veraltet zu erkennen ist ein wichtiger Schritt, aber die bloße Erkenntnis bringt meist noch keinen Durchbruch. Was fehlt noch, um sich wirklich davon zu befreien?
Meine Lieblingstechnik, ein altes Gesetz zu verändern, ist die Zeitreise. Die erwachsene Helga reist zurück in die Zeit, in der der kleinen Helga das alte Gesetz eingeredet wurde, und sagt ihr, dass es heute nicht mehr gilt. Diese Selbsthilfetechnik empfehle ich sehr, allerdings nicht bei schweren Traumatisierungen. Ich kann meinem Hirn auf diese Weise sagen: „Es ist vorbei, heute gelten andere Gesetze. Damals musstest du gehorchen, heute sind wir frei.“ Eine andere Methode ist, das alte innere Gesetz so lange zu übertreten, bis man sich daran gewöhnt. Wenn ich die Regel verinnerlicht habe: „Ich muss immer für meine Kollegen einspringen“, werde ich beim ersten Mal, wenn ich es nicht tue, Schuldgefühle haben, beim zweiten Mal ein Prozent weniger und irgendwann gar keine mehr. Entscheidend ist, zu erkennen: Ich bestimme meinen inneren Kodex. Das bedeutet nicht, keinen mehr zu haben. Ich bestimme, welche Regeln für mich gelten. Das macht frei und selbstbestimmt und zeigt mir, dass ich erwachsen bin.
Wann ist es ratsam, sich psychotherapeutische Hilfe zu holen?
Wenn die Lebensqualität dauerhaft durch Schuldgefühle beeinträchtigt wird. Wer sich chronisch schuldig fühlt oder nach einem Verlust oder einem Fehler noch sehr lange unverändert leidet und allein nicht aus dem Teufelskreis herausfindet, sollte etwas dagegen tun. Ich sage Betroffenen: Das Schuldgefühl wurde von der Natur sicher nicht gemacht, um Sie zu quälen. Lassen Sie uns gemeinsam schauen, wo es herkommt und was es Ihnen sagen will. Sie haben es verdient, sich davon zu befreien.
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Helga Kernstock-Redl ist Psychologin, Psychotherapeutin und Lehrbeauftragte in der Aus- und Weiterbildung. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf dem guten Umgang mit starken Gefühlen. Zuletzt erschien von ihr das Buch Schuldgefühle bei Goldegg (2020)