Stille

Wir fühlen uns vom ständigen Lärm genervt und sehnen uns nach Stille. Aber was ist Stille überhaupt? Und wie können wir zu ihr finden?

Die Illustration zeigt einen Mann im Großstadttrubel, der durch eine Mauer mit einem Loch in Form eines Gesichts auf das Meer schaut und nach Ruhe sucht.
Wir suchen nach Stille und meiden sie doch – aus Angst vor uns selbst? © Stephan Schmitz

Eine Bruchlandung mit dem Kleinflugzeug, ein waghalsiger Klippensprung in Mexiko, eine Segeltour um die halbe Welt und die Begegnung mit einem Yogi in Indien: Mit ihren 74 Jahren kann die Unternehmerin Marina Bahrendamm* auf eine Menge beeindruckender Erlebnisse zurückblicken. Das Faszinierendste jedoch bestand für die Münchnerin in einem „stundenlangen Nichts“. Sie war bei einer Wanderung in den Alpen viel zu früh an der Almhütte ihrer Freunde angekommen und wusste, dass sie ein paar Stunden allein auf…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

auf einer Anhöhe unter dem Gipfel würde warten müssen.

„Weit und breit war kein Mensch zu sehen, ich hörte in der Höhe nur selten einen Vogel, es wehte kaum Wind. Ich war völlig mit mir und meinen Gedanken allein“, erinnert sie sich. „Zuerst war das verstörend, die Ruhe draußen passte so gar nicht zu dem Wirbelsturm, der in mir zu toben begann. Aber nach ein paar Stunden spürte ich, wie sich das alles setzte wie Sand, der in einem Gefäß nach unten sinkt. Ich war plötzlich Teil der Umgebung, der Wiesen, der Berge. Ich fühlte einen Frieden, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.“

Die stillsten Stunden als größte Ereignisse

Eine Frau, deren Leben voller Ausnahmeerfahrungen war, erklärt ausgerechnet eine Zeit, in der nichts passierte, zu einem der Höhepunkte. Und befindet sich damit in bester Gesellschaft: „Die größten Ereignisse – das sind nicht unsere lautesten, sondern unsre stillsten Stunden“, schrieb Friedrich Nietzsche. „Wenn alles still ist, geschieht am meisten“, notierte Søren Kierkegaard.

Kein Adrenalinkick ist im Spiel, kein fotogener Moment, kein Selfiemotiv, das man posten könnte. Und doch ein beneidenswerter Zustand. Ein Gefühl, das vielleicht verloren, mit Sicherheit aber so selten geworden ist, dass wir es sehnsüchtig vermissen. Stille, das große Nichts? Wir scheinen danach zu dürsten: Überall eröffnen Räume und Häuser der Stille, locken Retreats, als wären sie das letzte große Abenteuer. Stille, ein Verkaufsschlager.

Das Bedürfnis nach Stille bedeutet, dass wir ihr Gegenteil, den Lärm, offenbar im Überfluss haben. Tatsächlich: das Umweltbundesamt zählt neben Gehörschäden auch Herzinfarkte, Arterienverkalkung, Bluthochdruck und erhöhten Blutzucker zu den möglichen Folgen chronischer Lärmbelastung. Schuld sind nicht zuletzt Stresshormone, die der Körper bei Lärm ausschüttet, weil er sich attackiert fühlt. Drei Viertel der Deutschen sind laut einer Umfrage des Instituts Allensbach davon überzeugt, dass der Umgebungslärm jedes Jahr zunimmt.

Geräusche des Lebens

Nur: Früher war die Welt mitnichten leiser. Das Hämmern, Schlagen, Feilen der Handwerker in den mittelalterlichen Gassen unserer Städte, das Pferdegetrappel und Gebrüll der Marktschreier muss ohrenbetäubend gewesen sein, beschreiben Historiker. Und noch jede Generation klagte darüber, dass die Welt so laut sei. So begründete Theodor Lessing 1908 die erste deutsche Anti-Lärm-Bewegung mit einer „Kampfschrift gegen die Geräusche des Lebens“.

Immer öfter gab es auch Denker, die den Geräuschpegel in den Städten jenseits der Kategorien von nervtötend, laut und leise betrachteten, sondern ihm die Absicht der Massensuggestion unterstellten: „Der Lärm gibt ein Sicherheitsgefühl wie die Volksmenge“, schrieb der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung 1957 an Karl Oftinger, den Gründer der Schweizerischen Liga gegen den Lärm. „Der Lärm schützt uns vor peinlichem Nachdenken, er zerstreut ängstliche Träume, er versichert uns, dass wir ja alle zusammen seien und ein solches Getöse veranlassen, dass niemand es wagt, uns anzugreifen.“

Messerscharf beschrieb Jung die einlullende Wirkung von Geräuschen, die einen Menschen letztlich von einer Erfahrung ablenkten, die viel größer, gewaltiger, mächtiger sei: „Je mehr Sie dem Lärm auf den Leib rücken, desto mehr geraten Sie auf das verbotene Territorium der Stille, die so sehr gefürchtet wird.“

Absolute Stille bedrückt uns

Den stillsten Platz der Erde verortet das Guinnessbuch der Rekorde nicht in der Natur, sondern in einer künstlichen, von Menschenhand geschaffenen Testkammer der Orfield Laboratories, wo der Motorradhersteller Harley Davidson an der Akustik seiner Motoren tüftelt. Angenehm fühlt es sich dort allerdings nicht an: Völlige Stille wie in der Testkammer oder in anderen, meist für wissenschaftliche Zwecke konstruierten schalltoten Räumen bedrückt uns sogar – unbewusst assoziieren wir damit unangenehme Zustände wie Totenstille oder Leichenstarre.

Die sogenannte Weiße Folter – unter diesem Namen werden Foltermethoden zusammengefasst, die kaum objektiv nachzuweisen sind, die aber vor allem die Psyche stark belasten – bedient sich nicht ohne Grund der Methode, Menschen im Dunkeln in schalldichten Räumen zu isolieren.

In einer Studie unter der Leitung des Psychologen Timothy D. Wilson von der University of Virginia sollten die Probanden eine Viertelstunde in völliger Stille verbringen. Zwar durften sie den Versuch abbrechen, doch wurde ihnen in diesem Fall ein elektrischer Schlag in Aussicht gestellt. Verblüffenderweise zogen viele Teilnehmer die Bestrafung einem Verbleib in der Stille vor.

Wir brauchen Stimulation

Unser Gehirn scheint mit kompletter äußerer Stille überfordert zu sein. Verzweifelt sucht es dann nach Lauten in der Umgebung. Und notfalls fantasierten sich die Probanden einfach ein paar Geräusche dazu, erklärt der Neuropsychologe Erich Kasten: „Man hört Stimmen oder Musik, die in Wirklichkeit nicht da sind. Es kommt zu Trugwahrnehmungen, zu Halluzinationen. Besonders schnell tritt der Effekt ein, wenn wir auch von allen anderen Sinneswahrnehmungen ausgeschlossen sind, in totaler Dunkelheit oder wenn man nicht einmal etwas riechen kann.“

Kasten vermutet zwei widerstreitende Bedürfnisse in uns: „Die eine Seite sehnt sich nach Stille und Erholung, die andere nach Beschäftigung. Das Verrückte ist: Unser Gehirn braucht die Stimulation. Es schreit danach wie ein kleines Raubtier. Bei allem Bedürfnis nach Stille: Das Hirn empfindet völlige Reizlosigkeit als Bestrafung, als Langeweile. Und das ist eines der übelsten Gefühle überhaupt.“

Was also hat es mit diesem Phänomen auf sich, das wir zugleich lieben und hassen? Was ist Stille? Stille sei „ein Empfindungsbegriff“, schreibt der Historiker und Schriftsteller Gerald Huber in seiner Abhandlung Zur Kulturpsychologie der Stille, rein subjektiv, mehr spür- als hörbar. Messbar, womöglich in Dezibel, ist sie jedenfalls nicht. „Die Unzulänglichkeit einer quantitativen Vorstellung von Stille“, erläutert Huber an folgendem Beispiel: „Das (zuweilen ohrenbetäubende) Rauschen des Meeres wird oft als still erlebt, dagegen kann auch ein vergleichsweise leiser Ton (zum Beispiel ein Wort) eine Stille stören.“

Ein Zuviel an Informationen und Reizen

Stille empfinden wir wohl immer dann, wenn kein Geräusch zu hören ist, das wir als störend empfinden. Genau wie der Begriff „Ruhe“, der oft als Synonym benutzt wird, scheint sie auch oft vom Fehlen jeder Bewegung gekennzeichnet, von Stillstand eben. Innehalten in einer Bewegung. Eins werden mit dem Wind, der sich legt. Das sind zumindest die Bedeutungen der Worte anasilan und desinere, in denen das englische Wort silence seinen Ursprung hat: eine Unterbrechung, ein Sichfallenlassen in den Ruhezustand.

Offenbar können wir in unserem rastlosen Alltag diese Art von Stille kaum noch finden. Wie gesagt, auch in früheren Epochen ging es bisweilen laut zu – doch wohl kaum so unruhig. „Wir leben in einer hektischen Welt“, erklärt Erich Kasten. „Eigentlich in einem Zustand ständiger Überreizung. Vor Millionen Jahren lebten wir in kleinen überschaubaren Sippen – heute finden wir uns in einer Massengesellschaft wieder. Aus kleinen Orten sind Megastädte geworden. Eigentlich ist es unverständlich, dass der Mensch, der in der Lage ist, seine Lebensbedingungen zu kontrollieren, sich selbst eine Umwelt geschaffen hat, die ihn ständig belastet.“

Susanne Schneider-Riede, Leiterin der Fachstelle Geistliches Leben der Evangelischen Akademie Baden, die immer wieder Stilleseminare anbietet, sagt: „In meiner Wahrnehmung rennen wir uns selbst weg. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen, das aber auch für die einzelnen Menschen gilt.“ Ruhelosigkeit ist damit innerer und äußerer Zustand zugleich: ein Zuviel an Informationen und Reizen, die auf uns einhämmern.

Außen ganz still, innen ganz laut

Wir leiden unter der Überflutung und sehnen uns nach Stille – und doch meiden wir sie meist. Wahrscheinlich lag Carl Gustav Jung richtig: Wir schrecken vor der Stille zurück, weil sie uns mit uns selbst konfrontiert. Ganz bei sich sein bedeutet auch: sich selbst zuhören und anschauen. Und wenn es dann außen ganz still ist, wird es bisweilen drinnen ganz laut.

„Bei den Veranstaltungen und Erfahrungen, in denen es um Stille geht, müsste es eigentlich einen warnenden Beipackzettel geben“, sagt Schneider-Riede. „Dass Stille sehr anstrengend werden kann. Dass sie irritiert. Wir nehmen dann halt das Gewusel außen, aber auch innen viel ­stärker wahr. Das kann wie ein innerer Shitstorm sein.“ Schneider-Riede erinnert sich an einen Manager, der fluchtartig ein Stille-Wochenende abbrach und erklärte: „Wenn ich in der Stille die Augen schließe, sehe ich lauter Mitarbeiter, und hier kann ich ihnen nicht ausweichen.“ Der innere Lärm wird in der Stille hörbar.

Psychotherapeuten wissen, dass Stille mächtig ist: „Eine typische Situation in der Therapie kann so aussehen: ein paar Minuten still sein, gucken, was passiert“, beschreibt der Konstanzer Psychotherapeut und Meditationstrainer Andreas Knuf. „Dann taucht Langeweile auf, oder es kommen andere unangenehme Gefühle nach oben. Aber dann weiß man, womit man sich konfrontieren muss.“ Stille Momente in der Psychotherapie sind also eine Chance, zur Wahrheit in sich selbst zu gelangen – und damit auf den Weg der Problemlösung.

Geist und Körper reagieren

Innerer Frieden ist der Lohn der Stille. Der Bonner Psychotherapeut und Meditationsforscher Harald Piron verglich für eine Studie die Aussagen von 40 Experten unterschiedlicher Meditationstraditionen zu ihren Meditationserfahrungen. „Die Übereinstimmung war groß. Nach den ersten Hindernissen, die man am Anfang überwinden muss, stellen sich Entspannung und Bewusstseinsklarheit ein, man ist seinen Gedanken nicht mehr ausgeliefert, empfindet innere Freude und inneren Frieden, Dankbarkeit, Demut, Liebe, Verbundenheit und dann auch völlige geistige Stille.“

Auch der Körper reagiert, erklärt Neuropsychologieprofessor Erich Kasten: „In einem Zustand der Stille sorgt der Neurotransmitter Gamma-Aminobuttersäure, GABA, für einen inneren Entspannungszustand. Das ist der Stoff, der auch aktiv ist, wenn man abends nach einem Gläschen Wein wohlig müde wird. Nachweisen lässt sich auch, dass das Gehirn von Betawellen auf Alphawellen umschaltet – und damit in eine Art regenerativen Zustand, in dem sich auch unsere Gehirnzellen erholen.“

Eine im Fachmagazin Brain, Structure & Function 2013 veröffentlichte Gemeinschaftsstudie, an der unter unterem die Berliner Charité und das Dresdner Forschungszentrum für Regenerative Therapien beteiligt waren, zeigte, dass zwei Stunden Stille am Tag zu neuer Zellbildung im Hippocampus führen, einer Gehirnstruktur, die beim Lernen, Erinnern und bei Gefühlen eine wichtige Rolle spielt. Womöglich werden Stilleübungen eines Tages zur Vorbeugung gegen Depression oder Alzheimer genutzt werden.

Einfach mal nichts tun

Erholung kann unser Gehirn auch in gesundem Zustand gut gebrauchen: „Ständige Reize sind eine Belastung für den präfrontalen Kortex, der in Entscheidungen und Problemlösungen involviert ist. Außerdem aktiviert das Hirn im Ruhezustand sein default mode network, das beim Tagträumen, bei der Meditation und beim Fantasieren gefordert ist. Wir kommen in unseren inneren Fluss, unsere Empathie wird gestärkt, wir werden kreativer und reflektierter“, schwärmt Kasten.

Selbst bei kühler Kosten-Nutzen-Analyse ist das innere und äußere Zur-Ruhe-Kommen ein lohnendes Unterfangen, für das man auch mal einen anfänglichen Hürdenlauf des Geistes in Kauf nehmen kann. Psychotherapeut Knuf rät Klienten, sich abends mal zehn Minuten hinzusetzen, um – nichts zu tun. Und in der Woche mindestens einen halben Tag lang völlig unverplant zu lassen. „Wenn die Zeit ohne Aktivität zu kurz ist, passiert wenig“, erklärt Knuf, „der innere Motor braucht relativ lange, um wirklich ruhig zu werden. Und solange ich innen viel Lärm habe, werde ich auch außen keine Stille empfinden können.“

Zeit schafft Raum

Meditationskurse? Eine gute Sache, aber: „Zum Kurs zu hetzen, dort zwei Stunden Stille zu üben, um anschließend zum nächsten Termin zu eilen, ist auch nicht förderlich“, warnt Knuf. Und Achtsamkeits-Apps auf dem Smartphone hält er eher für eine Grille des Zeitgeists, der mit Stille nicht viel anzufangen weiß. Die Routen, die zur Stille führen (siehe Kasten unten), sind meist keine Kurzstrecken. Stille braucht Zeit. Dann findet sie auch Raum.

Experten sind heute überzeugt, dass wir eine Welt brauchen, in der sich Geräuschvielfalt und Stille abwechseln. Naturgeräusche helfen, Stille zu finden. Eine empfundene äußere Stille, bar aller störenden Geräusche, kann den Weg zu innerer Stille für viele Menschen erleichtern, zwingend notwendig ist sie aber nicht für jeden.

Schließlich finden manche sogar erst bei den zarten Tönen von Klangschalen, bei Musik oder sogar bei wesentlich intensiveren Geräuschen zur Ruhe. Erich Kasten etwa findet innere Stille beim Spielen mit seinen Enkeln. „Und das“, versichert er, „ist alles andere als leise.“

Ruhe bitte!

So gelangt man zur inneren Stille – eine Anregung des Schweizer Psychotherapeuten Theodor Itten

1: Für das Wahrnehmen von Stille braucht man Zeit und einen Raum, in dem die meisten äußerlichen Lärmquellen minimiert werden können. Das kann zu Hause sein, in einer Kirche oder in einem Ruheraum im Flughafen. Das Smartphone oder andere elektronische Medien sollte man außer Reich- und Blickweite bringen und dafür die Aufmerksamkeit ganz nach innen richten. Der Anfang ist immer das eigene Schweigen. Mit drei bis fünf Minuten kann man anfangen – und die Zeit mit den Wochen immer weiter ausdehnen. Dabei hinsetzen oder hinlegen. Eine Faustregel: Nie stehen, wenn wir sitzen können, nie sitzen, wenn wir uns hinlegen können.

2: Es hilft, die Augen zu schließen und damit weitere Einflüsse von außen auszuschalten. Versuchen Sie sich einen Ort der Stille in sich selbst vorzustellen, in der eigenen Innenwelt. Erst wenn Sie diesen Ort spüren, die Augen wieder öffnen. Jetzt die Farben der Dinge im Ruheraum bewusst wahrnehmen. So kommt man ins Hier und Jetzt, in die Gegenwart. Dann die Augen wieder schließen, im Inneren verweilen, der Stille nachspüren.

3: Kinn in Richtung Herz fallenlassen, dem Atem, wie er kommt und geht, nachspüren. Hinhorchen, wo das eigene Herz pocht. Mit der Wahrnehmung im Inneren bleiben. Versuchen Sie, sich vom Gefühl der Stille tragen zu lassen, folgen Sie Ihrem Bewusstsein, nicht Ihren Gedanken. Hören Sie der eigenen Stimme zu. Aufsteigende Gedanken, wenn möglich, nur wahrnehmen, nicht aber verfolgen und bewerten.

4: Am Ende der Stillezeit die Augenlider langsam öffnen, den Raum wahrnehmen. Hilfestellung: Ein Ritual kann Stille leichter machen, weil der Kopf dabei in einen anderen Modus schaltet. Es ist dann einfacher, die Gedanken loszulassen. Deshalb am besten täglich zur gleichen Zeit und am gleichen Ort versuchen, zur Ruhe zu kommen.

Selbst in einem Gruppengespräch kann man Stille üben. Man versuche, aktiv zuzuhören, statt wie sonst seine Meinung kundzutun. Man verfolgt den Verlauf schweigend. Manchmal spürt man relativ bald, wie man innerlich ruhiger wird. Es ist, als ob man das Lagerfeuer ausbrennen lässt, statt immer wieder neues Holz nachzulegen.

Theodor Itten: Schweigen. Von der Kunst der Stille bis zur befohlenen Ruhe. Springer, Berlin 2018

„Stille muss man lernen“

Den Gedanken und Gefühlen ­nachspüren: Meditationsforscher Peter Sedlmeier über die Stille als Weg zu sich selbst

Mehr Menschen denn je scheinen Stille zu suchen. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, sie zu finden. Machen wir etwas falsch?

Stille wurde zu allen Zeiten als Mittel gesehen, spirituelle Ziele zu erreichen, wie etwa die Erleuchtung. Und zu allen Zeiten hat man danach gesucht. Ich bin nicht sicher, ob sie heutzutage wirklich schwerer zu finden ist als früher. Eigentlich haben es die Menschen heute sogar leichter als etwa noch ein paar Jahrhunderte zuvor: Die industrielle Revolution hat dazu geführt, dass Mitglieder aller sozialen Schichten mehr Freizeit haben, in der sie die Stille suchen können. Die oft beklagte Überreizung produzieren wir meist selbst. Wir sind ja nicht die Sklaven der Unterhaltungsindustrie. Aber nicht jeder kann sich gut dagegen wehren.

Hat unsere Gesellschaft vielleicht kein Talent zur Stille?

Schwer zu sagen. Ständig nach Reizen zu suchen ist vorübergehend durchaus angenehm und Teil unseres hedonistischen Weltbildes. Wir scheinen nur nicht zu erkennen, dass das fortwährende Ausschauhalten nach einem Update, einem besseren Film als dem, den wir gestern gesehen haben, nach einer brandneuen Information keine länger anhaltende Befriedigung schafft. Selbst die Suche nach Stille durch Achtsamkeitstechniken ist für manche die Suche nach etwas, was gerade aktuell ist, eine Art Mode.

Also ist es keine echte Suche?

Vielleicht doch, aber nicht jede Art von Achtsamkeitsmeditation führt zu mehr innerer Stille. Traditionell werden dafür eher konzentrative Formen von Meditation vorgeschlagen. Diese Formen der Meditation sind, wie Meditation generell, eine Antwort auf das, was Buddhisten als Dukkha bezeichnen: eine Folge von unangenehmen Zuständen, die unser ganzes Leben durchziehen und aus denen wir einen Ausweg suchen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass alles vergänglich ist.

Nicht jeder sucht Erleuchtung – trotzdem scheint Stille uns gutzutun. Was macht sie so wertvoll?

Sie kann dazu führen, dass wir mehr mit uns ins Reine kommen. In dem Zustand erkennen wir eher, wer wir sind, was wir wollen – und welche Elemente eigentlich nicht zu uns gehören. Und wir können die Dinge, die nicht so sind, wie wir sie eigentlich gerne hätten, besser akzeptieren.

Ist Stille ein Weg zu sich selbst?

In der Stille nimmt man sich selbst besser und vor allem realitätsgerechter wahr, hört sich im weitesten Sinne selbst zu. Man ist dabei ja im besten Fall nicht abgelenkt und erkennt, wie man wirklich denkt und fühlt. Man betrachtet, wie Gefühle auf Gedanken ­folgen, welche Gedanken erst durch Gefühle ausgelöst werden. Vielleicht führt zur größeren Öffnung auch, dass man sich in diesen Momenten mal nicht mit lauter Dingen beschäftigt, die erledigt werden müssen. Sich selbst zu betrachten kann wiederum auch zur Beruhigung der Geistestätigkeit führen.

Für einige Menschen ist Stille unerträglich.

Wer unbewältigte Geschichten mit sich rumträgt, hat ein Problem, weil sie in der Stille stärker ins Bewusstsein rücken. Da hilft Meditation allerdings auch nicht weiter, psychische Probleme sollten psychotherapeutisch bearbeitet werden.

Gibt es Menschen, die Stille von ihrem Naturell her besser hinkriegen als andere?

Ich denke schon – das zeigt sich schon darin, wie Kinder innerhalb einer Familie sich unterscheiden: Die einen können einfach nicht stillsitzen, andere spielen konzentriert stundenlang allein. Die Genetik ist da wohl ein starker Einflussfaktor. Man erlebt das auch in Retreats: Die einen tun sich schwer, andere haben gar keine Probleme. Ich brauche selbst in einem Retreat auch immer einige Tage, bis ich wieder drin bin.

Und empfinden Sie die Welt danach als lauter?

Das kam schon vor. Doch die innere Stille geht auch mit einer Leichtigkeit einher, die daher rührt, dass das Ego kleiner wird und man die Welt gelassener sieht. Lärm hat dann auch nicht mehr so große Auswirkungen auf einen, als wenn man gestresst ist. Der saust quasi so durch einen durch, berührt nicht mehr.

Wie können wir Stille am besten finden?

Stille kann man lernen. Ein wichtiger Schritt ist, sich den Unterhaltungsmedien weniger auszusetzen. Das ist dann oft leichter, wenn man aus seinem gewohnten Kontext hinausgeht. Im Urlaub zum Beispiel. Aber auch wenn man arbeitet, könnte man seinem Umfeld, falls das praktikabel ist, sagen: Ich bin jetzt eine Woche lang telefonisch nicht erreichbar – und dann schaltet man sein Handy tatsächlich mal aus.

Das halten Sie durch?

Für mich fühlt sich das sehr gut an. Ich kann auch aushalten, eine Zeitlang nicht zu sprechen. Das ist übrigens ein weiteres gutes Mittel, still zu werden: schweigen.

Und den Kopf einfach mal ausstellen?

Die Gedanken kann man nicht abstellen, entscheidender ist ohnehin, wie man mit Gedanken umgeht. Das betrifft vor allem die Reaktivität. Wir ärgern uns, mögen einige Leute nicht, sind traurig – aber es kommt darauf an, den Einfluss dieser Gefühle auf uns zu vermindern oder wirkungslos werden zu lassen. Man wird nicht mehr durch seine Emotionen fortgeschwemmt. Dabei werden ruhige Freude und Gleichmut stärker.

Ist Meditation ein Weg, Stille zu erleben? Und macht nicht allein diese Absicht dahinter ihren Effekt zunichte?

Viele Formen von Meditation haben den Zweck, Stille zu erzeugen – eine innere Stille natürlich. Meditation ohne Absicht gibt es ohnehin nicht: Jeder, der etwas macht, verbindet eine Motivation damit. Unsere Aktionen haben immer einen Grund oder ein Ziel. Man hört zwar häufig, dass man mit Meditation nichts erreichen wollen sollte, aber das ergibt sich allenfalls mit fortschreitender Praxis. Ich vermute auch, dass die Motivation dafür, warum man mit dem Meditieren anfängt, langfristig nicht so entscheidend ist. Entscheidend ist doch, dass man sich auf einen Weg einlässt.

Haben wir in der Weihnachtszeit, wo so viel von Stille geredet wird, eine größere Chance, sie zu finden?

Meiner Wahrnehmung nach geschieht leicht das Gegenteil. Was um uns herum passiert, stimmt nicht mit dem überein, womit Weihnachten eigentlich assoziiert wird, und schon gar nicht mit Stille. Die aufgestülpte Besinnlichkeit tut uns vermutlich nicht gut. Die Zahl der Menschen, die in der Psychiatrie landen, steigt in dieser Zeit sogar an.

Peter Sedlmeier ist Professor am ­Institut für ­Psychologie der Technischen Universität ­Chemnitz. Er schrieb das Buch Die Kraft der ­Meditation. Was die Wissenschaft ­darüber weiß (Rowohlt 2016)

Literatur

Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille. Galiani Berlin, Berlin 2010.

Gerald Huber: Zur Kulturpsychologie der Stille. Universität Salzburg, Salzburg 1990.

Theodor Itten: Schweigen: Von der Kunst der Stille bis zur befohlenen Ruhe. Springer, Heidelberg 2018

Erling Kagge: Stille. Ein Wegweiser. Insel, Berlin 2016

Sara Maitland: Das Buch der Stille: Über die Freuden und die Macht von Stille. Edition Steinrich, Berlin 2017

Klaus Nagorni (Hg.): Der Verlust der Stille: Ansätze zu einer akustischen Ökologie, (Herrenalber Forum 13). Evangelische Akademie Baden, Karlsruhe 1995

Günther Seubold, Thomas Schmaus u. a. (Hg.): Ästhetik der Stille. DenkMal, Alfter 2014

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille