So nah war mir noch niemand

Es ist immer dabei, bekommt Streicheleinheiten – und treibt uns manchmal in den Wahnsinn: das Smartphone. Über eine Hassliebe, die unsere Zeit prägt

Die Illustration zeigt eine leichtbekleidete Frau, die mit einem lebensgroßen Smartphone auf einem Kissen liegend, Zärtlichkeiten austauscht
Eine intime Beziehung: wir und unser Smartphone © Shenja Tatschke

Mein Smartphone ist aufs Intimste damit verbunden, wer ich bin. Ich kann nicht mehr ohne es leben. Würde ich mein Smartphone verlieren, würde mir das wahrscheinlich mein Herz zerreißen“, das sagte eine 42-jährige Managerin in einer Interviewstudie. Neben ihr befragten die Kommunikationswissenschaftler Chang Sup Park und Barbara K. Kaye 59 weitere Smartphone-Intensivnutzerinnen und -nutzer. Fast noch erstaunlicher: Für ein Viertel von diesen fühlte sich das Mobilgerät an wie ein natürlicher Teil ihres…

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Fast noch erstaunlicher: Für ein Viertel von diesen fühlte sich das Mobilgerät an wie ein natürlicher Teil ihres Selbst. Manche von ihnen sagten, sie zählten es gewissermaßen zu den eigenen Gliedmaßen, als hätten sie einen weiteren Arm oder ein weiteres Bein. Diese Beschreibungen irritieren. Was kann Menschen dazu bringen, eine solche Bindung zu einem Stück Technik zu empfinden?

Das Besondere am Smartphone ist seine Art der Nutzung: Kein Mensch ist uns so nah wie diese Maschine. Sie ist überall dabei, kennt unseren Tagesablauf und Musikgeschmack, unsere politischen Meinungen, unsere Mails und Nachrichten, vielleicht sogar unseren Schlafrhythmus. Je nach Schätzung nehmen wir es zwischen sechzig- und hundertmal am Tag zur Hand. Doch je näher uns das Mobiltelefon kommt, desto schwerer wiegen seine Eigenschaften – im Guten wie im Schlechten. Ein Smartphone ist mit seiner kompakten Multifunktionalität ein unglaubliches Werkzeug.

Und weil es einer der wichtigsten Kontaktpunkte für zwischenmenschliche Kommunikation ist, wird es für viele Menschen zum Sinnbild für eben diese Kontakte. Es scheint den es nutzenden Nutzerinnen zu sagen: „Ich bin dein Anschluss an die Welt.“ Aber es gibt auch eine nervtötende Seite: Smartphones sind das Tor zu einem Kosmos, in dem alle möglichen Stressfaktoren lauern: die weitgehend unregulierte Welt der sozialen Medien, das süchtig machende Endlos-Scrolling, mit Hass durchtränkte Diskussionsforen und toxische Schönheitsideale.

Handybiografien

Das Handy bringt beständige Erreichbarkeit und ist der Inbegriff der Ruhelosigkeit. Ein Smartphone zu haben, das bedeutet zugleich Licht und Schatten. So entsteht eine intensive, man kann es nicht anders sagen: Beziehung. Manchmal sogar eine Beziehung mit zugehörigen Beziehungskrisen: Eine Freundin von mir hatte eine Zeitlang die Angewohnheit, ihr Smartphone im Briefkasten zu deponieren – um es nicht in der Wohnung zu haben –, und damit ein bisschen mehr Ruhe.

„Unser Verhältnis zu Mobiltelefonen ist kompliziert: Wir lieben sie, und zugleich hassen wir sie“, heißt es im Artikel eines Wissenschaftlerteams um den in den USA tätigen Anthropologen Joel C. Kuipers. 160 Interviews haben die Forscher zu persönlichen „Handybiografien“ geführt, zusätzlich 76 Befragungen und weitere Gruppengespräche und -beobachtungen. Der Fokus der Wissenschaftler lag dabei auf Highschoolschülerinnen und -schülern sowie deren Lehrerinnen und Eltern. Die Untersuchung habe gezeigt, dass die Beziehung von Menschen zu ihren Smartphones durch und durch ambivalent sei.

„Die Technologie interagiert auf komplexe Weise mit unserer Identität und unseren Beziehungen“, resümieren sie in einem Artikel in dem Anthropologiemagazin Sapiens. Eines sei dabei aber klar: Gleichgültig sei diese Technologie kaum jemandem. Kuipers und seine Kollegen zitieren als Beleg Maggie Hankins, eine Jugendliche, mit der sie gesprochen hatten: „Mobiltelefone sind persönlich. Ob du dein Handy hasst, ob du es liebst oder ob du verwirrt davon bist, du hast in jedem Fall Gefühle gegenüber deinem Handy. Und so komisch es klingen mag: Du hast auch Gefühle für dein Handy.“

Digitale Demenz?

Keine Frage: Das ist erst mal eine ziemlich verstörende Einsicht. Kaum jemandem dürfte warm ums Herz werden bei der Vorstellung, dass seine Kinder vor einem Flimmerkasten sitzen und langsam Gefühle für ihn entwickeln. Und es gibt keinen Zweifel, dass sie mit Bedacht an Medien und Technologie herangeführt werden müssen. Doch in den letzten Jahren ist eine Art von Alarmismus entstanden: In der öffentlichen Debatte macht sich der Eindruck breit, die Mobilgerätenutzung sei eine toxische Liebesaffäre, bei der der eine – der Mensch – in einem kräftezehrenden Abhängigkeitsverhältnis zum anderen – dem Mobiltelefon – feststeckt. Smartphones machten uns dumm, depressiv und abhängig, heißt es gerne, sie führten uns geradewegs in die soziale Isolation: Wir brächten unsere Kinder um den Verstand, lautet etwa die These des vieldiskutierten Buches Digitale Demenz des Neurowissenschaftlers Manfred Spitzer.

In vielen Untersuchungen lag der Fokus in den letzten Jahren auf dem Schaden, den Smartphones anrichten. Ein Beispiel: Eine breitdiskutierte Studie des südkoreanischen Radiologen Hyung Suk Seo behauptete, einem neurochemischen Zusammenhang zwischen Smartphonesucht und erhöhter Depressions- und Angststörungswahrscheinlichkeit auf die Spur gekommen zu sein. Die Studie ist aufgrund der kleinen Anzahl von nur 19 Teilnehmenden nicht unumstritten. Doch die simplifizierenden Schlagzeilen ließen nicht lange auf sich warten: „Internetsucht macht die Gehirnchemie kaputt.“

Erst in letzter Zeit setzt ein Umdenken ein. So kritisiert etwa ein Forscherteam um den italienischen Psychologen Luca Pancani, die Fachliteratur habe bisher vor allem auf den exzessiven Smartphonegebrauch geschaut und dabei „jene Folgen vernachlässigt, die nicht klar mit einer problematischen Nutzung korreliert sind“ – zum Beispiel dass Smartphones vielen Menschen das Knüpfen romantischer Beziehungen einfacher machen oder dass sie den Alltag durch Notiz- oder Kalender-Apps erleichtern.

Ein Taschenmesser aus Glas, Plastik, Silikon

Die in Cambridge forschende Neurowissenschaftlerin Amy Orben wird in einem Interview mit dem britischen Guardian noch deutlicher. Dazu befragt, ob sich Smartphones negativ auf die seelische Gesundheit, den Schlaf und die Konzentrationsfähigkeit auswirkten, entgegnete sie: „Auch wenn diese Befürchtungen in Gesellschaft und Medien regelmäßig große Aufmerksamkeit bekommen, gibt es dafür sehr wenige seriöse, belastbare und transparente wissenschaftliche Belege.“ Insbesondere warnt sie davor, dem Smartphone eine gehirnverändernde Wirkung zuzuschreiben. „Es wird ja gerne betont, Smartphones führten zu einer Dopaminausschüttung. Na ja: Alles, was Spaß macht, führt dazu. Ein Dopaminkick ist eben ein Merkmal von Freude – ob das nun eine Unterhaltung mit Freundinnen ist oder das Essen einer Pizza.“

Selbstverständlich: Mobilgeräte, die ununterbrochen blinken oder piepsen, können ein Hindernis für Kontemplation oder tiefere Gespräche sein. Auch der Einwurf, dass eine Person, die lieber zum zwanzigsten Mal Instagram aufruft, als einmal ins Grüne zu gehen, auf Dauer möglicherweise ungesund lebt: geschenkt. Aber man kann unsere Hassliebe zum Smartphone eben auch als eine eigentlich glückliche Liebe mit Hindernissen deuten, und das hieße, nicht nur den Gefahren, sondern auch dem Potenzial nachzuspüren. Anders gesagt: Es gibt durchaus gute Gründe, weshalb Sie Ihr Smartphone ruhig ein wenig lieben dürfen.

Wir vergessen mittlerweile gerne einmal, welch ein Paradigmenwechsel es war, als man mit dem Aufkommen des Smartphones sein Telefon mit den bloßen Fingern bedienen konnte: mit einem großen Display, das Knöpfe kontextabhängig einblendete, und Bedienelementen, die sich natürlich und lebensweltlich anfühlten, mit einer Scroll-Leiste zum Beispiel, die sich verhielt wie ein elastisches Gummiband, mit Apps, die sich ohne technische Vorkenntnisse installieren ließen.

Das Smartphone ist heute für viele Menschen der wichtigste Computer im Leben, die eine zentrale Schaltstelle, ein Schweizer Taschenmesser aus Glas, Plastik und Silikon. Eine vergleichbare Rolle hatte früher der Desktop-PC inne, doch der sorgte durch seine komplizierte Bedienung für Frustrationen und war gar nicht so persönlich, denn er war ortsgebunden. Das typische Problem der späten neunziger und frühen nuller Jahre hieß denn auch: Ich verfluche meinen Computer, denn er tut nicht, was er soll.

Den PC beschimpfen

Das Phänomen war so verbreitet, dass der Kognitionspsychologe Kent L. Norman ihm 2004 eine theory of computer rage widmete. Die zugrunde liegende Befragung machte unter anderem Abstürze, lange Ladezeiten und komplizierte Handbücher als Ursache für die heiß aufbrandende Wut aus: Mehr als 80 Prozent der Befragten sagten seinerzeit, sie hätten schon einmal ihren PC „laut beschimpft“, mehr als ein Drittel hatte schon mutwillig eine CD-ROM malträtiert, fast jeder und jede Zehnte aus Zorn einen Bildschirm zerstört. Normans Wunsch im Jahr 2004: Die Technologie möge doch bitte endlich nutzerfreundlicher werden!

Im Großen und Ganzen ist dieser Wunsch im heutigen Zeitalter der user experience erfüllt worden. Smartphones fügen sich verhältnismäßig geschmeidig in unser Leben ein. Gerade deshalb empfinden wir sie als Erweiterung unseres Selbst. Darin liegt freilich die Gefahr der Abhängigkeit und der fehlenden Abgrenzung, aber diese sind auch ein Beleg dafür, dass es sich bei den Smartphones um ein gelungenes, nämlich ungekannt frustrationsarmes Stück Technologie handelt.

Bemerkenswert ist auch: In der eingangs genannten Studie von Park und Kaye hatten alle Befragten eine Geschichte darüber, wie ihr Smartphone ihnen geholfen habe, den Alltag einfacher zu machen – zum Beispiel der Geschäftsführer, der Kundenmails auf dem Handy bearbeitet. Das mag unspektakulär klingen. Doch jede winzige Anpassung des Alltagsverhaltens hat durch die milliardenhafte Verbreitung des Smartphones potenziell massive Auswirkungen.

Wieso sollte ich auf die Zeitung von morgen warten, wenn ich den Nachrichtenstrom in Echtzeit auf Twitter verfolgen kann? Wieso sollte ich ein steriles Hotel buchen, wenn es bei Airbnb eine wohnlichere Bleibe zu einem günstigeren Preis gibt? Wer braucht noch Kontaktanzeigen, wenn es Dating-Apps mit ausgefeilten Matching-Algorithmen gibt? Pointiert gesagt: Mit jeder disruptiven App-Idee, die ein echtes Alltagsbedürfnis besser befriedigt als alles bisher Dagewesene, kann ein ganzer Wirtschaftszweig zugrunde gehen. Und ein neuer entstehen.

Das Ende der Berieselung

Das Smartphone ist indes nicht nur Brandbeschleuniger für innovative Geschäftsmodelle, sondern auch ein Kreativwerkzeug. Es hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen Zugang zu hochwertigen Werkzeugen bekamen: Man kann damit vorzeigbare Fotos machen, ohne eine Spiegelreflexkamera mit Ansteckobjektiv zu besitzen, oder ein YouTube-Video filmen, ohne vorher eine sündhaft teure Filmkamera kaufen zu müssen. Im halbprofessionellen und professionellen Bereich fand dadurch eine Machtverschiebung statt – von der Unterhaltungsindustrie hin zum Einzelnen; im Amateurbereich entstanden die Voraussetzungen für eine größere Vielfalt kreativer Entfaltungsmöglichkeiten.

Natürlich ist nicht alles, was wir auf unseren Smartphones schaffen, große Kunst. Aber immerhin tun wir – irgendwas. Das ist keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, wie sehr noch in den Neunzigern die Sorge vorherrschte, das Fernsehen als damals noch dominierendes Medium stürze ganze Generationen in die Lethargie der Passivberieselung. Da doch lieber mit der Welt interagieren.

Zum Beispiel über die Kamera: In einem Experiment von Informationswissenschaftlern um Yu Chen von der University of California wurden 41 Teilnehmende dazu angehalten, vier Wochen lang jeden Tag ein Foto aufzunehmen. Ob sie nun lächelnd Selfies schossen oder glücksspendende Gegenstände festhielten – die bewusste Handlung des Fotografierens hatte eine durchgehend positive Wirkung. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Probanden wohler fühlten, ihren authentischen Gefühlen fotografischen Ausdruck zu verleihen, wenn sie wussten, dass das Resultat nicht auf Plattformen wie Instagram, Facebook oder Snapchat landen würde, weil so der Faktor Imagepflege wegfiel.

Wenn wir uns neu in unser Smartphone verlieben wollen, ist das vielleicht ein Schlüssel: dass wir es unabhängig von den sozialen Medien denken, unabhängig von Mechanismen des Vergleichens, Kommentierens und Selbstinszenierens, die ja in der Tat belastend sein können. Und es neu entdecken als ziemlich gutes Werkzeug, das uns dabei hilft, ein persönliches sinnstiftendes Netz von Erinnerungen und Austausch zu schaffen – nur für uns und unsere Liebsten. Und der „Veröffentlichen“-Button bleibt einfach mal ungedrückt.

Zum Weiterlesen

Chang Sup Park, Barbara K. Kaye: Smartphone and self-extension: Functionally, anthropomorphically, and ontologically extending self via the smart­phone. Mobile Media & Communication, 7/2, 2019, 215–231. DOI: 10.1177/2050157918808327

Joel C. Kuipers u.a.: How cellphones make and break human connections. Sapiens, 2021; sapiens.org/culture/cellphone-ethnography

Literatur

Joel C. Kuipers u. a.: How cellphones make and break human connections. Sapiens, 2021. https://www.sapiens.org/culture/cellphone-ethnography/

Luca Pancani u. a.: The psychology of smartphone: The development of the Smartphone Impact Scale (SIS). Assessment, 27, 2020, 1176–1197. DOI: 10.1177/1073191119831788

Amy Orben: To talk about smartphones affecting the brain is a slippery slope. The Guardian, 1. Februar 2020. https://www.theguardian.com/technology/2020/feb/01/amy-orben-psychology-smartphones-affecting-brain-social-media-teenagers-mental-health

Kent L. Norman: Computer rage: Theory and practice. 2004. https://web.archive.org/web/20151119181900/http://129.2.36.150/trons/hcil22oct2004/hcilbbl_10_22_2004.pdf

Chang Sup Park, Barbara K. Kaye: Smartphone and self-extension: Functionally, anthropomorphically, and ontologically extending self via the smartphone. Mobile Media & Communication, 7, 2019, 215–231. DOI: 10.1177/2050157918808327

Yu Chen u. a.: Promoting positive affect through smartphone photography. Psychology of Well-Being, 6, 2016. DOI: 10.1186/s13612-016-0044-4

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2022: Sehnsucht