Schriftsteller Charles Lewinsky über die Suche nach Identität

Schriftsteller Charles Lewinsky im Gespräch über seinen neuen Roman, Identitätssuche und das menschliche Grundbedürfnis, wahrgenommen zu werden.

Der Autor Charles Lewinsky schaut direkt aus einem Fenster
Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky hat bereits 13 Romane veröffentlicht. © Florian Kalotay für Psychologie Heute

Schließlich hat Charles Lewinsky einem Interview zugestimmt. Als Treffpunkt schlug er seinen Hausverlag Diogenes vor. Genau genommen war es eher eine freundliche Weisung als ein Vorschlag. Unverhofft kommt die Sonne hervor an diesem Mittwochvormittag in Zürich. Ich gehe zu Fuß los. Auf dem Zeltweg, einer schmalen Verkehrsader, fahren mir Trolleybusse entgegen. Manche der stuck­verzierten Wohnhäuser, so stelle ich mir vor, könnten schon zur Zeit Napoleons gestanden haben, in der Lewinskys jüngster Roman Sein…

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stelle ich mir vor, könnten schon zur Zeit Napoleons gestanden haben, in der Lewinskys jüngster Roman Sein Sohn spielt.

Ich passiere eine Weinhandlung, sicher mondäner als die, in der Louis Chabos für eine Weile sesshaft wurde, der Protagonist des Romans. Der Verlag logiert in einem vierstöckigen Altbau am Ende einer Seitengasse. Eine liebenswürdige Gastgeberin hat eigens ein Zimmer für uns freigemacht und dort Hörnchen und Brötchen bereitgestellt. Lewinsky wird mit Appetit zugreifen. Mich trifft ein taxierender Blick, als er eintritt. Er trägt eine dunkle Jeans, Hemd plus Pullover und eine zerknautschte Kapuzenjacke, die er über die Rücklehne seines Stuhls hängt.

Lewinsky erweist sich als viel wohlwollender und geduldiger, als seine kurzangebundenen E-Mails mich hatten befürchten lassen. Auf „mein Judentum“ möchte er nicht angesprochen werden, hat er schon im Vorfeld kundgetan, dazu sei er zu oft befragt worden. Und ebenso entschieden stellt er früh in dem Gespräch eins klar: Für ihn geht es in Sein Sohn – anders als der Titel suggeriert und auch anders als ich die Geschichte gelesen habe – nicht um eine Suche nach dem Vater. Sondern um einen viel wichtigeren Antrieb.

Herr Lewinsky, Sie sagten einmal, dass Romanschreiben für Sie immer ein Abenteuer sei, weil Sie während des Schreibens noch gar nicht genau wissen, wohin die Erzählung steuert. War das bei Sein Sohn auch so?

Bei Sein Sohn war es sogar extrem so. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was passieren würde. Dann macht Schreiben Spaß, denn wenn man schon alles weiß, warum soll man es dann noch aufschreiben?

Was wussten Sie bereits, als Sie mit dem Roman anfingen?

Ich wusste den historischen Hintergrund: Es ist überliefert, dass der Herzog von Orléans, Louis-Philippe, zur Zeit der Französischen Revolution aus Paris floh, um der Guillotine zu entgehen. Er reiste quer durch Europa und änderte dabei ständig seinen Namen. Und einmal war er Französischlehrer in Maienfeld, einem kleinen Schweizer Ort in Graubünden. Er unterrichtete unter dem Namen „Monsieur Chabos“ an einem für die Zeit sehr fortschrittlichen Internat, von einer reichen Familie finanziert.

Mehr als aufs Unterrichten verstand er sich wohl aufs Verführen. Es heißt, er habe auf seiner Reise durch Europa mehrere Kinder hinterlassen. In Maienfeld hatte er ein Verhältnis mit der Internatsköchin, es sind sogar Briefe erhalten. Aus dieser Liebschaft ging ein Sohn hervor, der in Mailand in ein Waisenhaus gegeben wurde. Was aus ihm wurde, ist nicht überliefert. Louis-Philippe hingegen, der einem Nebenzweig der Bourbonen entstammte, wurde 1830 überraschend König von Frankreich.

Was hat Sie gereizt, die Geschichte seines Sohns weiterzuerzählen?

Es war dieses Motiv, das man so ähnlich aus vielen Märchen kennt: ein in Armut aufwachsendes Waisenhauskind, dessen Vater König ist. Eine spannende Konstellation. Ich fing an, darüber nachzudenken: Was könnte dieser Sohn für ein Leben gehabt haben? So ist dieses Buch entstanden.

Ausgangspunkt dieses Lebenswegs ist das Mailänder Waisenhaus. Unter welchen Umständen wächst Louis Chabos dort auf?

Ich schildere Louis als ungewöhnlich klein und schwächlich. Im Waisenhaus ist er immer der Letzte, derjenige, der sich ducken und verprügeln lassen muss. Auch von den Nonnen, die die Kinder dort beaufsichtigen, wird er ignoriert und nicht geschützt: Wenn die stärkeren Kinder ihm etwas antun und ihm die Schuld geben, wird er zur Obernonne geschickt, die ihn dann ihrerseits verprügelt. Irgendwann haut er ab, er wird zum Landstreicher. Und er landet schließlich dort, wo damals jeder landete, der keinen besonderen sozialen Hintergrund hatte: bei Napoleons Armee – Mailand war seinerzeit französisch besetzt.

Louis wird Soldat, aber kein gewöhnlicher.

Als ich ihn zur Armee schickte, stand ich vor einem handwerklichen Problem: Ich hatte diesen Jungen als schmächtige kleine Gestalt geschildert – mit dieser Statur hätte er eigentlich bei der Musterung keine Chance. Ich konnte aber Louis nun nicht rückwirkend größer machen und das Manuskript entsprechend umschreiben – das wäre mir wie eine Fälschung vorgekommen, denn ich sah ihn halt nun mal so zierlich vor mir.

Auf der Suche nach einer Lösung habe ich mich mit der napoleonischen Armee befasst. Und ich wurde fündig. Napoleon hatte tatsächlich eine Truppe für kleine Menschen erfunden: Diese „Voltigeure“ sollten hinter einem Dragoner aufs Pferd aufspringen und von dort aus in das Kampfgeschehen eingreifen. Dass ich Louis also zu einem Kunstreiter machte, hatte dann wiederum Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Geschichte.

Sie begleiten Ihren Louis von klein auf. Wir beobachten ihn beim Älterwerden, und man spürt beim Lesen: Dieser Mensch reift, er verändert sich. Mit welchen Mitteln haben Sie es geschafft, diesen Eindruck einer inneren Entwicklung zu vermitteln?

Keine Ahnung. Ich bin halt meiner Figur gefolgt. Es ist doch logisch, dass jemand, der aus dem Waisenhaus abhaut und dann viel erlebt, sich dabei verändert.

Schon. Aber diese Reifung wird ja nicht bloß behauptet, man spürt sie.

Dann habe ich ihn doch wahrscheinlich richtig verfolgt.

Schlüpfen Sie beim Schreiben in diese Figur hinein und beobachten, was in ihr vorgeht?

Hineinschlüpfen ist für mich ein falsches Bild. Ich sehe der Figur zu. Und sie zeigt mir dann schon, was in ihr vorgeht und was sie vorhat. Ich habe ein extremes Beispiel erlebt, als ich an meinem Roman Melnitz schrieb. Dort gibt es eine Szene, in der zwei Frauen aus dem Haus gehen, die Tante mit ihrer Nichte. Ich glaubte zu wissen, wo sie hingehen, nämlich in den Züricher Palmengarten, um dort Kaffee zu trinken. Zürich ist meine Heimatstadt, ich wusste also genau, welchen Weg sie nun nehmen würden.

Aber sie nahmen zu meiner Überraschung einen anderen. Sie gingen nicht in den Palmengarten. Ich wusste wirklich nicht, wohin sie steuern und bin meinen Figuren wie ein Detektiv nachgelaufen. Irgendwann stellte ich fest, dass sie zu einer Séance gehen. Das ist eine seltsame Sache: Natürlich haben diese Figuren keine eigene Existenz, und sie gehen zu dieser Séance, weil mein Kopf sich das ausgedacht hat. Doch mein Kopf hat sich das auf einer Ebene ausgedacht, die ich gar nicht bemerkt habe.

Ist das so ähnlich wie beim Träumen? Da weiß man ja auch nicht, was als Nächstes passieren wird, obwohl das alles im eigenen Kopf stattfindet.

Ja, Träumen scheint mir ein guter Vergleich. Wenn eine Figur nicht macht, was man sich für sie ausgedacht hat, sondern etwas anderes, ist man als Autor glücklich. Denn man weiß: Jetzt lebt sie. Ich glaube nicht, dass ich meinen Figuren in den Kopf schlüpfe, aber indirekt lege ich wohl stellvertretend Empfindungen in sie hinein. Die eigenen Erfahrungen, die in einen Roman einfließen, sind oft gar nicht groß, sondern es sind viele kleine Beobachtungen.

Wie nah sind Sie Ihren Figuren beim Erzählen?

Das ist verschieden. Jede Geschichte, die man erzählt, hat ihre eigenen Regeln und ihre eigene Sprache. Es gibt Bücher, in denen man sehr viel vom Innenleben seiner Figur erzählt, und andere, bei denen man außen bleibt. Es gibt Bücher, bei denen man die Figuren wie Zinnsoldaten herumschieben kann, denn ihr Innenleben ist für die Geschichte gar nicht wichtig. Bei anderen ist gerade das, was in der Figur vorgeht, das Entscheidende.

Wie war das bei Sein Sohn?

Es gibt in diesem Buch keine einzige Szene, in der der Protagonist Louis Chabos nicht auftritt. Es passiert nichts außerhalb von ihm. Von allem, bei dem er nicht dabei ist, weiß ich als Erzähler auch nichts.

Sie geben diesem Louis Chabos den Auftrag mit, nach seinem Vater, nach seiner Herkunft zu suchen…

Das ist ganz und gar nicht sein Auftrag! Die Suche nach der Herkunft ist im Roman weder Louis’ Haupttätigkeit noch sein Hauptantrieb. Erst nach etlichen Kapiteln kommt in ihm überhaupt erst der Gedanke auf, nach seinen Eltern zu suchen. Und diese Idee hat er nicht einmal selbst, sondern sie wird an ihn herangetragen. Der Vater wird erst viel später bei ihm zu einer fixen Idee.

Louis hat zunächst ein ziemlich ungemütliches Leben, immer nah am Abgrund. Doch an entscheidenden Stellen begegnet er Männern, die es gut mit ihm meinen und ihn eine Zeitlang unter ihre Fittiche nehmen. Sind das denn nicht Vaterfiguren für ihn?

Ich kann diesen Vaterbezug nicht teilen. Louis trifft zweimal auf Menschen, die ihm etwas geben, das mir viel wichtiger erscheint als das Wissen um die eigene Herkunft: Sie nehmen ihn ernst. Er spürt: Da ist jemand, der mich anerkennt, für den ich etwas wert bin. Und er hat erstmals das Gefühl: Vielleicht bin ich ja tatsächlich etwas wert. Die meisten Menschen haben sicherlich das Glück, dass ihr Vater sie wahrnimmt und ernst nimmt. Das ist extrem wichtig. Aber das heißt nicht, dass jeder, der einen ernst nimmt, die Vaterstelle einnehmen muss. Es kann ein guter Freund sein. Es kann eine Lehrerin sein.

Wonach, wenn nicht nach dem Vater, sucht Louis auf seinen Irrwegen?

Ich glaube, der Hauptantrieb meiner Figur – und ich meine, es ist der Hauptantrieb jedes Menschen – ist die Frage nach der eigenen Persönlichkeit: Wer bin ich überhaupt? Im Waisenhaus hieß es: Du bist ein Frosch! Du bist gar nichts. Dann trifft er auf den Marchese, zu dem er zur Ausbildung als Diener geschickt wird. Das ist der erste Mensch, der diesen kleinen Jungen als eigenständige Existenz, als Persönlichkeit wahrnimmt und auch so behandelt. Das tut Louis unendlich gut, denn nur wenn man sich als Person wahrgenommen fühlt, hat man das Selbstbewusstsein, um etwas zu lernen und in seine Persönlichkeit hineinzuwachsen.

Und wer ist die zweite Vertrauensperson, die Sie nicht Vaterfigur nennen?

Das ist – später im Roman – Aloys Jost, der übrigens auch eine historische Vorlage hat. Jost ist ein ehemaliger Revolutionär, Jakobiner, der sich in der Schweiz niedergelassen hat und eine Weinhandlung betreibt. Auch dieser Mensch nimmt Louis ernst, er mag und schätzt ihn und nimmt ihn schließlich bei sich auf, vererbt ihm später sogar sein Unternehmen. Louis fasst dort Fuß, es geht ihm gut. Er führt eine glückliche Ehe, ist Familienvater. So könnte es weitergehen – wenn nicht irgendwann im Roman eine Störung einträte: Louis erfährt durch einen Zufall, wer sein Vater ist.

Was geschieht mit Louis an diesem Kipppunkt der Geschichte?

Louis fällt ein Zeitungsartikel in die Hände, aus dem anhand eindeutiger Indizien hervorgeht, dass sein ihm unbekannter Vater der König von Frankreich ist. In diesem Moment bricht sein eigentlich stabiles bürgerliches Leben zusammen. Denn das, was Louis seine Kindheit und Jugend hindurch erfahren hat – dass er ein Niemand war, dass man ihn verprügelte –, kommt plötzlich wieder hoch.

Der springende Punkt ist nicht, dass er nun weiß, wer sein Vater ist. Was die alte Wunde wieder aufreißt, ist vielmehr die Erkenntnis: Dieser Mensch, der mein Vater ist, wollte nie etwas von mir wissen. Er verleugnet mich, ihm bin ich egal. Louis wünscht sich einfach nur ein Lebenszeichen von seinem Vater. Er will von ihm anerkannt werden: Mich gibt es, ich bin jemand. Er schreibt Briefe an den Hof. Und da nie eine Antwort kommt, wird dieser Drang in ihm immer stärker, bis er schließlich nach Paris fährt und völlig durchdreht, weil er nicht an diesen Vater herankommt.

Sie hatten diese Figur Louis Chabos ja schon in einem sicheren Hafen gehabt. Er hat seine prekäre Existenz überwunden, sich etwas aufgebaut. Er liebt seine Frau, seine Kinder, denen er Märchen von Königssöhnen vorliest. Warum verjagen Sie ihn aus diesem glücklichen Leben?

Wenn der Roman mit diesem Happy End schließen würde, dann wäre er in der Tat ein Märchen. Der letzte Satz hieße: „Jetzt gehörst du endlich zu uns!“ Doch das wäre in meinen Augen eine Lüge. Ich glaube nicht, dass die Welt so funktioniert.

Wenn Louis die ganze Zeit über nach sich selbst gesucht hat, dann müsste er doch dort in Graubünden eigentlich bei sich angekommen sein. Denn was ist Identität anderes als das Aufgehobensein inmitten von Menschen, die einem etwas wert sind?

Das mag sein, aber Louis ist ein zutiefst verwundeter Mensch. Seine Grundverletzung ist: Du bist ein Frosch. Du bist niemand. Eine solche Verletzung ist nie ganz wegzukriegen. Er könnte jahrelang jede Woche dreimal zu einem Psychoanalytiker gehen, dann wüsste er vielleicht um die Ursachen seines Traumas, aber er wäre es nicht los. Nun stellt er fest: Mein Vater hat nie etwas von mir wissen wollen. Er reagiert nicht auf meine Kontaktversuche. Für ihn bin ich nichts. Die alte Verletzung ist wieder da.

Meinen Sie, dass auch im echten Leben Kinder, die im Waisenhaus aufgewachsen sind, eine solche Verletzung mit sich herumtragen?

Das muss nicht sein. Man kann das nicht verallgemeinern. Jeder Mensch ist anders, jede Biografie ist anders, auch im Waisenhaus.

Manche Adoptivkinder – auch solche, die sich in ihrer Adoptivfamilie wohl und geborgen fühlen – fahnden nach ihren biologischen Eltern, sobald sie erwachsen sind und ihre Vermittlungsakten einsehen können…

…und andere Adoptivkinder sagen: Das ist mir egal, ihr seid meine Eltern, bei euch bin ich aufgewachsen, und alles andere interessiert mich nicht.

Auch Sebi, die Hauptfigur Ihres Vorgängerromans Der Halbbart, wächst früh als Waise auf. Warum ist er nicht ähnlich traumatisiert wie Ihr Louis Chabos?

Der Roman spielt im Mittelalter. Dass man ohne Eltern aufwuchs und sehr früh selbständig sein musste, war in dieser Zeit keine Seltenheit. Im Unterschied zu Louis hat Sebi als Kind zwei Bezugspersonen, die ihm wichtig sind und die ihn ernst nehmen: seinen älteren Bruder und den Halbbart, einen welterfahrenen klugen Mann. Diese Bindung und dieses Ernstgenommenwerden geben ihm Kraft.

Beide Protagonisten, Louis und Sebi, suchen nach ihrer Identität.

Alle suchen nach ihrer Identität! Es gibt überhaupt keine andere Geschichte auf dieser Welt! Tragisch wird es, wenn man glaubt, seine Identität gefunden zu haben, und sie erweist sich als falsch. Herr Putin ist überzeugt davon, er sei ein Geschichtsphilosoph. Wenn diese Zuschreibung sich als nicht funktionierend entpuppt, dann ist seine Persönlichkeit angegriffen und er dreht durch.

Manche suchen nach Identität und Verwurzelung bei Ihren Ahnen. Kennen Sie auch dieses merkwürdige Gefühl von ehrfürchtiger Verbundenheit, wenn Sie sich alte Schwarz-Weiß-Fotos von Ihren Groß- oder Urgroßeltern anschauen?

Überhaupt nicht.

Das überrascht mich. Ihrer Familiensaga Melnitz haben Sie hinten im Buch eigens einen Stammbaum der Figuren hinzugefügt.

Bloß als Handreichung, damit man beim Lesen nicht den Überblick verliert.

Kennen Sie Ihren eigenen Stammbaum?

Ich kenne ihn, aber da ist nichts von „ehrfürchtiger Verbundenheit“. Es ist reine Neugier. Ich habe einmal herausgefunden, dass einem Vorfahren des hiesigen Rechtsaußen-Politikers Christoph Blocher im selben Jahr das Schweizer Bürgerrecht verliehen wurde wie meinem Urgroßvater, der Bloch hieß. Ein amüsanter Zufall, aber das schafft so wenig eine Verbindung zwischen den beiden wie ich eine tiefere Verbindung zu meinem Urgroßvater empfinde, den ich ja nicht gekannt habe.

Wenn ich Sie recht verstehe, kann es echte Verbundenheit nur mit den Menschen geben, zu denen wir zu Lebzeiten eine Bindung hergestellt haben. Diese Erfahrung muss auch Ihr Romanheld Louis machen. Als er eines Tages seine Mutter ausfindig macht, läuft diese Begegnung ganz anders ab, als er sich das ausgemalt hat.

Er findet nicht wirklich seine Mutter. Er findet eine Frau, von der er weiß: Rein biologisch ist das meine Mutter. Aber sie erkennt ihn nicht, verwechselt ihn mit ihrem damaligen Liebhaber, Louis’ Vater. Sie lebt im „Pfrundhaus“, einer Einrichtung, die heute einer psychiatrischen Klinik entspräche. Hätte Louis als Kind eine Beziehung zu ihr aufbauen können, hätte er sich nun sicher um sie gekümmert, so wie ich mich um meine demente Mutter gekümmert habe. Aber diese Frau ist ihm fremd und muss ihm fremd bleiben.

Später landet Louis bei seinen besessenen Versuchen, mit seinem Vater, dem König, Kontakt aufzunehmen, in Paris selbst in der Psychiatrie, nämlich in einer Heilanstalt des Psychiatriereformers Jean Étienne Esquirol. Dort diagnostiziert man bei ihm eine „Monomanie“. Das sei jemand, der sich „vernünftig verhält, sich aber etwas Unmögliches einbildet“.

Die Diagnose selbst ist gar nicht so falsch. Louis bildet sich tatsächlich etwas ein. Nur gehen die Ärzte natürlich davon aus, dass er sich einbildet, der Sohn des Königs zu sein. Doch ausgerechnet das ist ja keine Einbildung, sondern Tatsache. Der Wahn besteht darin, dass Louis besessen davon ist, von seinem Vater anerkannt, gewürdigt zu werden. Er kommt in Paris an und rennt sofort zum Schloss, zu den Tuilerien. Das ist kein vernünftiges Verhalten. Die alte Verletzung ist stärker als jede Vernunft.

Seine Vorstellung ist: Er klopft dort an der Schlosspforte an, dann steht da der König, breitet die Arme aus und ruft: Mein Sohn, mein Sohn! Louis will gar nicht auf dem Thron sitzen, das ist nicht sein Motiv. Er will nur Anerkennung. Es würde ihm völlig reichen, wenn der König sagt: Jawohl, du bist mein Sohn. Trinken wir einen Kaffee zusammen. Auf Wiedersehen. Dann würde Louis auf immer zurückfahren in sein Schweizer Dorf und die Geschichte wäre rund für ihn.

Was ist die Moral von der Geschicht?

Geschichten haben keine Moral. Geschichten sind Geschichten. Die Moral kann sich jede und jeder selbst herauslesen. Ich sehe meine Aufgabe darin, Geschichten zu erzählen, die zum Nachdenken anregen, aber nicht die Antworten dieses Nachdenkens schon vorgeben. Ich schreibe nicht Onkel Toms Hütte, das einzig auf die Aussage hinausläuft: „Sklaverei ist schlecht.“ Ich sage nicht, dass man solche Bücher nicht ­schreiben sollte, aber das ist eine andere Form von Literatur.

Nun verfassen Sie ja nicht nur Romane. Sie haben Sitcoms für das Schweizer Fernsehen geschrieben, außerdem Schlagertexte und jüngst wieder ein Musical mit dem Titel Oh läck du mir!. Das klingt heiter und deftig. Viele Ihrer Romane hingegen haben bei allem reichlich vorhandenen Humor eine eher melancholische Melodie. Wie passt das bei Ihnen zusammen?

Das sind zwei völlig verschiedene Berufe, die man beide mithilfe einer Tastatur ausübt. Ich habe jahrelang meine Familie damit ernährt, dass ich Dinge geschrieben habe, die jemand bei mir bestellt hat. Ich habe das erste der von Ihnen erwähnten volkstümlichen Lieder geschrieben, weil ein befreundeter Musiker mich um einen Text bat. Ich habe ihm gesagt: Volksmusik, du weißt, das interessiert mich überhaupt nicht. Und er sagte: Du kannst doch Verse schreiben, komm, tu mir den Gefallen. Er wollte mit dem Stück an einem Schlagerwettbewerb teilnehmen. Dann habe ich dieses Genre und die Machart der Texte analysiert und mich als Worthandwerker an die Arbeit gemacht.

Ein halbes Jahr später stand ich in der Westfalenhalle Dortmund und man überreichte mir einen falschen Kristall auf Granitblock und sagte mir: Sie sind jetzt der Gewinner des Grand Prix der Volksmusik. Auf ähnliche Weise habe ich eine Sitcom-Reihe für das Schweizer Fernsehen geschrieben, die inzwischen unendlich oft wiederholt wurde.

Man sagte mir: Was wir brauchen, sind Episoden von 23 Minuten und 30 Sekunden, nicht mehr als fünf feste Darsteller, nicht mehr als zwei feste Schauplätze, lösbar in einem kleinen Studio mit nicht mehr als drei Kameras, es muss für Erwachsene als auch für Kinder geeignet sein, Sie sind völlig frei! Solch eine Aufgabe zu lösen ist wie Slalomfahren: Man steckt sich selbst nach den Vorgaben die Stangen auf und umkurvt sie dann beim Runterfahren. Das ist Handwerk.

Das machen Sie aber auch gerne, oder?

Nicht immer. Ich habe mir mal einen Button gemacht mit der Aufschrift: „Je Scheiße, desto teuer“.

Und wenn Sie Romane schreiben?

Das ist etwas ganz anderes. Niemand gibt mir einen Auftrag, niemand redet mir rein, niemand liefert mir eine Ausrede. Ich kann nicht sagen: Die Regie hat’s versiebt. In einem Buch bin ich zu hundert Prozent selbst verantwortlich. Es ist eine völlig andere Art des Schreibens.

In Ihrem Buch Sind Sie das? schildern Sie für jeden ihrer Romane, welche Bezüge es dort zu Ihrem persönlichen Leben gibt. Wie viel Charles Lewinsky steckt in Ihren Geschichten?

Es gibt einige Anknüpfungspunkte zu meinem Leben, aber auf einer eher oberflächlichen Ebene. Der Rückschluss vom Buch auf den Autor führt oft in die Irre. Ein lustiges Beispiel: Als ich das Manuskript zu meinem Roman Melnitz abgegeben hatte, rief mich eine Lektorin an, die mich noch nie gesehen hatte. Sie sagte, es sei doch staunenswert, wie viel man aus einem Buch über den Autor erfahren könne.

Zum Beispiel, dass ich – so wie ich dieses Kleidungsgeschäft in dem Roman beschrieben habe – ein sehr modebewusster Mensch sein müsse. Als ich das in meinem Freundeskreis erzählte, gab es Lachanfälle. Jemand weniger Modebewussten als mich kann man sich nicht vorstellen. Mir hat mal ein guter Freund gesagt: Du kannst tragen, was du willst. Dir steht nix.

Manche Autorinnen und Autoren schreiben sehr persönlich. Im Grunde handelt jeder ihrer Romane von ihnen selbst. Auch das kann wunderbare Literatur sein. Aber ich bin nicht so. Ich möchte Geschichten erzählen.

Louis Chabos sucht nach Selbstvergewisserung. Woraus schöpfen Sie persönlich ein Gefühl von Verwurzelung?

Aus meinem Schreiben. Darüber hinaus bin ich ein brauchbarer Ehemann und Vater, was mir wichtig ist. Ich zähle mich zu den Menschen – ich glaube, es ist die große Mehrheit –, die gar keine große Selbstvergewisserung brauchen, weil sie in stabilen Verhältnissen aufgewachsen sind.

Ich habe gerade einen Artikel von Michelle Obama gelesen. Sie schrieb, das Tolle an in ihrer Kindheit sei gewesen: Wenn sie nach Hause kam und sich über irgendeine Ungerechtigkeit, etwa über die Behandlung durch einen Lehrer beklagte, denn habe ihre Mutter gesagt: „Deal with it. If you want to be loved, come home.“ Also: Erwarte das nicht von anderen, aber hier daheim wirst du immer geliebt werden. Diese Gewissheit verleiht eine Grundstabilität, die oft ein Leben lang trägt.

Leseprobe aus Charles Lewinskys Roman Sein Sohn

„Ich habe das Mittel für Sie bereit gemacht. Damit schlafen Sie ein, und im Schlaf hören Sie auf zu atmen. Völlig schmerzlos. Sie müssen mich nur überzeugen. Was wollte ich sagen?“

„Sie haben behauptet, ich sei Egoist.“

„Richtig. Weil Sie nicht an die Menschen denken, die unter Ihrem Tod leiden könnten. Ihre Eltern zum Beispiel.“

„Ich hatte nie Eltern“, sagte Louis.

„Ein medizinisches Wunder.“

„Sie haben mich im Waisenhaus abgegeben. Ich habe nie mehr etwas von ihnen gehört.“

„Haben Sie sich darum bemüht?“

„Ich kenne nicht einmal ihre Namen.“

Der Apotheker schenkte Wein nach. „Waisenhäuser haben Verwaltungen“, sagte er. „Verwaltungen führen Listen. Haben Sie dort nachgefragt?“

„Ich bin von dort weggelaufen.“

„Jetzt laufen Sie wieder weg“, sagte der Apotheker.

Aus dem Roman Sein Sohn von Charles Lewinsky. Diogenes, Zürich 2022

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 Schriftsteller. Berühmt wurde er mit der jüdischen ­Familiensaga Melnitz. Sein jüngstes Buch Sein Sohn, im vergangenen Herbst erschienen, ist sein dreizehnter Roman. Charles Lewinskys Bücher wurden in sechzehn Sprachen übersetzt. Unter den ­zahlreichen Preisen, mit denen sein Werk ausgezeichnet wurde, ist auch der französische Prix du meilleur livre étranger.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2023: Bei sich ankommen