Nüsschen zum Tatort

Bin ich ein emotionaler Esser? Drei Bücher beleuchten die Frage, wie Emotionen das Essverhalten bestimmen und wie wir unseren Hunger verstehen lernen.

Dass bei außerordentlich gesunder Langlebigkeit Ernährung eine essenzielle Rolle spielt, steht außer Frage. Okinawa heißt seit längerem in Japan „das Land der Unsterblichen“, weil dort ausnehmend viele sehr alte, dabei exzeptionell gesunde Menschen leben. Dabei spielen neben dem Essen – in der Regel pflanzenbasiert, fleischarm, stark Omega-3-Fettsäure-lastig, ballaststoffreich sowie fett- und zuckerfrei – noch drei weitere Faktoren eine Rolle: Stressminderung, regelmäßige Bewegung und Gemeinschaftseinbettung.

Welchen Einfluss hat Ernährung wirklich auf Gesundheit und Langlebigkeit? Wie können wir uns gesund ernähren – und dazu noch gut? Was bedeutet es, hungrig zu sein, Hunger zu spüren? Und: Bin ich ein „emotionaler Esser“? Nüsschen zum Tatort, nachts an den Kühlschrank, bei Stress Schokolade? Funktionieren Diäten deshalb nicht, weil sie ein Grundprinzip – die Achtsamkeit des individuellen Körperbewusstseins – außer Acht lassen? Und wie kann ich tatsächlich effektiv abnehmen, ohne Jo-Jo-Effekt und ohne mir bizarre bis schädliche Lebensmittelchemie zuzuführen?

Das sind die Fragen, die Melanie Mühl, FAZ-Redakteurin und Sachbuchautorin, gleich zu Anfang ihres Buches Das Ernährungsgefühl stellt. Sie beugt sich über die unterschiedlichen Aspekte und Unteraspekte von Hunger: Magen-, Zell-, Augen- und Nasenhunger bis Mund-, Herz- und Gedankenhunger. Sie analysiert, wann Sättigung eintritt, physiologisch wie psychologisch. Und sie geht der Frage nach, warum Diäten so schwer durchzuhalten sind, nur punktuell anschlagen und bereits mittelfristig nutzlos sind.

Mit Achtsamkeitstraining gegen Fressattacken

Mühl denkt über ein achtsames Essverhalten nach und porträtiert Fasten als traditionelle Heilpraxis. Die finale Frage: „Können wir uns glücklich essen? Und wenn ja – wie?“, ist selbstredend eine suggestive Fangfrage. Denn nicht der Big Mac, der Tchoupitoulas-Eisbecher bei Creole Creamery in New Orleans (2 Kilogramm: 8 Eiskugeln, 8 Toppings, Kirsche und ein Sahneberg als Krönung) oder die Riesenschweinshaxe mit Extraknödeln machen auf Dauer glücklich, sondern eben die dem Genussmoment enthobenen Langzeitfolgen ausgewogener ganzheitlicher Ernährung.

Das angenehm zu lesende Buch baut auf Thesen, Theorien, Erkenntnissen und Einsichten auf, die durchaus bekannt sind und hinlänglich kursieren. Mühl führt diese mit leichter Hand bündig auf wenig Raum zusammen. Aufschlussreich sind ihre Ausführungen zu Hunger und ausgelösten innerkörperlichen Prozessen – Stichwort Unterzuckerung. Sie beschreibt auch, wie man mittels Achtsamkeitstraining oder beruhigender Musik gegen Fress­attacken ansteuern kann.

Am Ende ihres Buches skizziert die Autorin den Zusammenhang von psychischer und physischer Gesundheit und zitiert den in Los Angeles lehrenden Neurogastroenterologen Emeran Mayer: „Vielleicht werden wir in Zukunft psychiatrische Probleme nicht mehr nur im Gehirn, sondern auch im Verdauungstrakt behandeln.“

"Gefühlsessen" ist erlernt

Es ist kaum möglich, etwas Essbares zu sehen, zu riechen, zu schmecken, ohne nicht den Anflug eines Gefühls zu verspüren. Sei dieses nun Appetit, Hunger, Gier oder einfach Futterneid, es ist evolutionär bei jeder Spezies vorhanden. Das behauptet Michael Macht, Psychotherapeut und Dozent an der Universität Würzburg, in seinem Buch Hunger, Frust und Schokolade. „Emotional Eating“ bedeutet in der Folge ökonomisch aber auch: die Verlockungen dort zu platzieren, wo sie wahrgenommen und gekauft werden. Die Schokoriegel also vorn an der Supermarktkasse als Mitnahmeartikel.

Macht behandelt erhellend das „Gehirn des Essverhaltens“ wie die innere Emotionsbalance, die zu gestörtem Essverhalten führt, zwischen den Polen Adipositas, dem Trost durch Kalorien, Binge-Eating, dem Blitzfressanfall, und Bulimie, der extremistischen Nullkalorienbestrafung des eigenen Körpers. Macht erläutert, dass „Gefühlsessen“, um unangenehme Gefühle oder belastende Situationen zu bewältigen, in erster Linie erlernt ist. Sein Buch liest sich insgesamt aufschluss- und lehrreich, gelegentlich mutet die Darstellung etwas zu federgewichtig an, etwa bei der Erläuterung der „Emotionsfamilie“, bei Fallgeschichten oder bei den zu zahlreichen autobiografisch-anekdotischen Vignetten.

Selbstoptimierung durch Verzicht

Julia Ross leitet seit über 20 Jahren eine Klinik in Kalifornien, in der Ess-, Sucht- und Stimmungsprobleme behandelt werden. Ihr Buch Die Heißhunger-Kur ist dem nordamerikanischen Self-Help-Gedanken verpflichtet. So ist das letzte und längste Kapitel der Selbst­optimierung gewidmet, mit Tracking- und Test-Tools, Checklisten und vielen Rezepten. Der apodiktische Stil, in dem Ross ihre An- und Einsichten vermittelt, mutet bei aller Überzeugungsvehemenz mechanistisch an: Lassen Sie dies weg, lassen Sie das weg und Sie nehmen binnen kurzem ab! Ordnen Sie sich einem Heißhunger-Code zu – und knacken Sie diesen! Intellektuell wirklich nahrhaft ist das nicht.

„Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte.“ Vielleicht ist die Maxime des US-amerikanischen Journalisten Michael Pollan in seinem gleichnamigen Buch noch immer das Klügste.

Melanie Mühl: Das Ernährungsgefühl. Wie Emotionen unser Essverhalten beeinflussen. Hanserblau, München 2021, 176 S., € 14,–

Michael Macht: Hunger, Frust und Schokolade. Die Psychologie des Essens. Droemer, München 2021, 221 S., € 18,–

Julia Ross: Die Heißhunger-Kur. Welcher Sucht-Typ sind Sie? Aus dem Amerikanischen von Maren Klostermann. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 560 S., € 22,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2021: Erfüllter leben
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