Die Wurzeln des Männerhasses

Therapiestunde: Eine Klientin verarbeitet ein transgenerationales sexuelles Trauma. Wie sie der Gestalttherapeut Victor Chu, dabei unterstützt.

Die Illustration zeigt eine Frau, die mit einer männlichen Handpuppe spielt, die wiederum eine Puppe in der Hand hält und das wiederholend
In der Therapie erkennt die Patientin: Sie ist nicht die einzige Frau in der Familie, die sexualisierte Gewalt erlebt hat. © Michel Streich für Psychologie Heute

Bereits in ihrer Kindheit erlebte Camille sexualisierte Gewalt. Der Gestalttherapeut Victor Chu beschreibt, wie er sie unterstützte, das transgenerationale Trauma zu überwinden:

Ich bin Gestalttherapeut. Seit 25 Jahren führe ich gestalttherapeutische Familienaufstellungen durch. In Familienaufstellungen, einer von Bert Hellinger entwickelten Methode, können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre gegenwärtige Familie oder auch ihre Herkunftsfamilie mithilfe anderer Gruppenmitglieder stellvertretend für ihre…

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gegenwärtige Familie oder auch ihre Herkunftsfamilie mithilfe anderer Gruppenmitglieder stellvertretend für ihre Familienangehörigen in den Raum stellen. Diese erspüren ähnlich wie im Rollenspiel die Beziehungen in der Familie. Dadurch können ungelöste oder tabuisierte Familienkonflikte sichtbar gemacht und gelöst werden.

Das gestalttherapeutische Familienstellen unterscheidet sich von der hellingerschen Vorgehensweise dadurch, dass ich den aufgestellten Familienmitgliedern keine vorgefassten Sätze und Rituale vorgebe, sondern sie ermutige, miteinander in direkten Kontakt zu gehen und einander ungefiltert zu sagen, was sie im Sinn haben. Ich achte sehr auf die Körpersprache. Außerdem nutze ich Steine verschiedenster Größen, um Belastungen sicht- und spürbar zu machen, und Seile und Stöcke, um Gren­zen zu ziehen.

Heilsame Traumatherapie

Als männlicher Therapeut ist es nicht einfach, Familienaufstellungen zu leiten, in denen sexualisierte Gewalt thematisiert wird. Ich muss Mitgefühl sowohl für die Männer als auch für die Frauen empfinden. Gleichzeitig muss ich neutral sein und bei jeder aufgestellten Beziehung erkennen, wer Täter oder Täterin und wer Opfer ist. Die Wiederherstellung der persönlichen Würde sowohl der Täterinnen und Täter als auch der Opfer ist mir wichtig. Solche transgenerationalen Traumatherapien können außerordentlich heilsam sein.

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Im vorliegenden Beispiel möchte ich einen Fall aus meinen Fortbildungsseminaren beschreiben. Die betreffende Teilnehmerin, ich nenne sie hier Camille, hat im Laufe der Jahre insgesamt vier Familienaufstellungen gemacht, aus denen ich mit ihrer Erlaubnis die wesentlichen Schritte hier beschreibe.

Camille ist eine Frau Mitte 50, kompetent, selbstbewusst, attraktiv. Nach ihrer Scheidung hat sie zwei Söhne allein großgezogen. Als sie mit den Aufstellungen anfing, sprach sie von einem tiefsitzenden Männerhass. Als Kind sei sie von ihrem Stiefgroßvater mütterlicherseits sexuell missbraucht worden. Ihr Vater sei ihr gegenüber „schmierig“ und sexuell übergriffig gewesen. Ihre Mutter sei schwach und habe sie nicht geschützt.

In sich spüre sie eine riesengroße Traurigkeit. Von allen Partnern ihres Lebens habe sie sich getrennt. Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann intim werde, habe sie das Gefühl, dass eine große Wunde in ihr wieder aufreiße. In ihrer Vagina gebe es einen Schmerzpunkt, dessen Berührung sie beim Beischlaf zu vermeiden versuche. Außerdem plage sie ein ständiges Husten.

Verwundete weibliche Linie in der Familie

Camille ist das zweite von drei Kindern ihrer Eltern. Der Großvater väterlicherseits war Lehrer und nahm sich eine elf Jahre jüngere Schülerin zur Frau – hier finden wir bereits einen ersten Hinweis auf eine Grenzverletzung, ein Verhältnis zwischen einem Lehrer und einer Schülerin. Der Vater, das letzte Kind aus dieser Ehe, entstand in der Nacht, nachdem der Großvater mit seinen Saufkumpanen gewettet hatte, wer von ihnen als Erster ein Kind zeuge. Der Vater ging seinerseits fremd und zeugte mit einer Geliebten ein Kind. Als ­Camille in die Pubertät kam, näherte er sich ihr inzestuös. Zudem ließ er zu, dass sein Freund Camille sexuell missbrauchte – mit seinem Wissen und Einverständnis.

Die mütterliche Familie war ebenso dysfunktional: Der Großvater mütterlicherseits verhielt sich der Großmutter gegenüber außerordentlich herrisch und einschüchternd. Sie konnte sich zwar nicht gegen ihn wehren, rächte sich jedoch dadurch, dass sie sich während des Krieges einen heimlichen Geliebten nahm, mit ihm ein Kind zeugte und dieses dem Großvater unterschob. Nach dem Krieg trennte sie sich vom Großvater und heiratete ihren Cousin. Dieser missbrauchte als Stiefvater die Mutter, die damals in ihrer Pubertät war – und später missbrauchte er auch seine Enkelin Camille. Selbst ein Missbrauchsopfer, konnte die Mutter Camille nicht vor den Übergriffen vonseiten des Stiefgroßvaters, des Vaters und dessen Freund schützen.

In den Aufstellungen zeigte sich die verwundete weibliche Linie in ihrem ganzen Ausmaß: die Großmutter väterlicherseits, die als Schülerin von ihrem Lehrer zur Frau genommen wurde; die Großmutter mütterlicherseits, die ihrem übermächtigen Mann das Kind eines heimlichen Geliebten unterschob und später zuließ, dass ihr zweiter Mann ihre Tochter und ihre Enkeltochter missbrauchte; die missbrauchte Mutter, die ihre Tochter nicht schützen konnte; schließlich Camille.

Sehnsucht nach mütterlicher Zuwendung

Es war für Camille außerordentlich wichtig, diese Wurzeln ihres Männerhasses, ihres Ekels und ihrer körperlichen Verletzlichkeit zu entdecken. In der letzten Aufstellung stellte sich die Großmutter mütterlicherseits zum ersten Mal ihrem despotischen Mann, der bei dieser Konfrontation in sich zusammenfiel. Nachdem die Großmutter ihre weibliche Stärke wiedergewonnen hatte, konnte sie ihre Tochter, die Mutter Camilles, schützen. Mit der Großmutter im Rücken war die Mutter nun bereit, Camille als Tochter anzunehmen.

Camille fühlte sich zum ersten Mal von ihrer Mutter gesehen und ernst genommen. Sie gab dieser einen großen Stein dafür, dass sie sie nicht geschützt hatte. Unter ihrem Groll spürte sie eine tiefe Sehnsucht nach mütterlicher Liebe. Es fiel ihr schwer, sich als Kind der Mutter anzunähern. Sie musste einen inneren Widerstand überwinden, bis sie sich endlich von der Mutter in den Arm nehmen und bemuttern lassen konnte.

Mit der neu entdeckten Nähe zur Mutter und Großmutter spürte sie die Frauenpower in sich wachsen. Mithilfe von Seilen zog sie eine symbolische Grenze zu ihrem Stiefgroßvater, ihrem Vater und dessen Freund und gab jedem einen schweren Stein für dessen Übergriff. Ihrem Vater konnte sie ihre Wut ins Gesicht schreien – etwas, was ihr lange „im Halse steckengeblieben war“: ein Grund für ihr ständiges Husten.

Versöhnung mit dem eigenen Sohn

Zum Schluss kam es auch zur Begegnung mit ihrem Ex-Mann: Sie zeigte ihm offen ihren Zorn darüber, dass er sie im Schlaf geschwängert hatte – was sie vorher beschwichtigend als einen „nicht einvernehmlichen Beischlaf“ bezeichnet hatte. Durch diesen Akt hatte sie sich wieder missbraucht gefühlt (Retraumatisierung). Daraus war ihr ältester Sohn entstanden.

Sie erkannte, dass sie das gewalttätige Männerbild, das sie in sich trug, auf ihn übertragen hatte. Als sie dies zugab, brach der Stellvertreter ihres Sohnes in Tränen aus. Er sagte Camille, dass er als Kind unter unerträglicher Einsamkeit gelitten habe, vielleicht ein Grund für seine spätere Adipositas und Suizidalität.

Camille bat ihn um Verzeihung dafür, dass er die ganze Wucht ihrer Wut auf Männer abbekommen hatte. Jetzt erkannte sie zum ersten Mal, dass er ein anderer Mann war als die Männer, die sie bisher im Leben erlebt hatte. Langsam versöhnten sich Mutter und Sohn. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie stark der Blick einer Mutter auf ihren Sohn als einen werdenden Mann ihn in seinem Selbstbild prägen kann. In ihrem Blick nimmt er alle die Männererfahrungen mit auf, die sie im Laufe ihres Lebens gemacht hat.

Mittlerweile lebt Camille in Liebe und tiefer Verbundenheit mit ihrem jetzigen Partner zusammen. Die Beziehung zu ihren Söhnen hat sich verändert und ist inniger geworden. Der plagende Husten ist verschwunden.

Sie sind selbst betroffen von sexualisierter Gewalt oder kennen jemanden in Ihrem Umfeld? Dann können Sie sich unter anderem an den Weissen Ring wenden: telefonisch unter 116 006, täglich von 7 bis 22 Uhr oder online unter: weisser-ring.de/vergewaltigung

Dr. Victor Chu ist Arzt und Diplompsychologe und arbeitet als Psychotherapeut, Tai-Chi-Lehrer und Ausbilder in Gestalttherapie und gestalttherapeutischem Familienstellen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2023: Du manipulierst mich nicht