Im Fokus: Gruppenvergewaltigung

Wie kommt es zu gemeinschaftlichen sexuellen Übergriffen oder gar Gruppenvergewaltigungen? Eine Soziologin über die Nähe von Brutalität und Normalität.

Männer stehen in der Silvesternachr 2015 auf dem Kölner Domplatz vor dem Hauptbahnhof
Bei der Kölner Silvesternacht 2015 kam es zu mehreren sexuellen Übergriffen. © picture alliance/dpa | Markus Boehm

Frau Wolters, gleich zu Beginn Ihres Buchs geht es um die sexuellen Übergriffe während der Kölner Silvesternacht 2015. Warum haben Sie sich so intensiv mit diesen Vorfällen auseinandergesetzt?

2015 war das Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise, ausgelöst vom Bürgerkrieg in Syrien. Es war die Rede von einem „Sommer des Willkommens“. Die Silvesternacht hat dem dann gefühlt ein herbes Ende gesetzt. Da stand ganz schnell die Behauptung im Raum: Jetzt sind all die Flüchtlinge hier und vergewaltigen deutsche…

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stand ganz schnell die Behauptung im Raum: Jetzt sind all die Flüchtlinge hier und vergewaltigen deutsche Frauen. Juristisch sind die Ereignisse allerdings wenig aufgearbeitet, es konnten kaum Täter ermittelt oder verurteilt werden. Doch das schien kaum eine Rolle zu spielen: Es entstand schnell eine Vorstellung davon, wer es gewesen war und warum es passiert ist. Das machte mich als angehende Gewaltsoziologin einigermaßen skeptisch, weil es quer zu den wissenschaftlichen Ideen lag, wie Gewalt funk­tioniert.

Was stört Sie an dem landläufigen Verständnis von Gewalt?

Die Vorstellung moderner Gesellschaften ist ja, dass wir Gewalt immer mehr hinter uns lassen. Wir neigen dazu, Gewalt als Zivilisationsbruch zu sehen, der überhaupt nicht in unsere Ordnung passt. Und wenn sie dann doch stattfindet, heißt es schnell: „Das kommt von außen.“ In Köln gab es die Idee von „importierter Gewalt“. Auch „unteren Schichten“ schreibt man oft einen Hang zur Gewalt zu. Das ist die politische Selbsterzählung einer Gesellschaft, die aber nicht zwingend der Realität entspricht.

Wie sieht denn Ihre Perspektive auf Gewalt aus?

Wenn Menschen miteinander interagieren, haben sie oft widerstreitende Wünsche und Gefühle. Gewalt ist da eine Handlungsoption unter vielen. Sie ist von anderen Formen des Handelns gar nicht so verschieden. Körperliches Wehtun ist stets eine Möglichkeit, die wir haben – und sexuelle Gewalt ebenfalls.

Moment mal, tätliche Angriffe sind doch in unserer Gesellschaft ein klares Tabu.

Zum Glück! Das führt allerdings nicht unbedingt dazu, dass Gewalt nicht mehr stattfindet. Auch in unserer vermeintlich friedlichen Zeit gibt es noch immer Rechtfertigungsstrategien für gewalttätiges Handeln. Es findet immer noch statt, wird aber neutralisiert.

Neutralisiert, was bedeutet das?

Die meisten von uns haben die Idee verinnerlicht, dass eine Vergewaltigung etwas Schreckliches ist. Wer es trotzdem tut, muss diese normative Spannung ausgleichen. Auch den Tätern aus meinem Buch würde ich unterstellen, dass sie irgendeine Form von Vergewaltigungstabu haben: eine Idee davon, dass es grundfalsch ist. Sie möchten nicht, dass so etwas ihrer Schwester, Mutter oder Freundin passiert. Aber das hindert sie nicht daran, es selbst zu tun. Sie finden also verschiedene Deutungen, um ihre Taten zu rechtfertigen.

Habe ich Sie richtig verstanden: Dass ich sexuelle Gewalt aus vollem Herzen ablehne, hindert mich nicht unbedingt daran, selbst zum Täter zu werden?

Ich weiß, das ist ein unangenehmer Gedanke. Aber sexuelle Gewalt ist viel häufiger, als wir gemeinhin denken.

Wirklich? In meinem Umfeld geht es eher friedlich zu.

Das will ich Ihnen gar nicht absprechen. Allerdings nimmt Gewalt noch immer viel Raum in unserer Gesellschaft ein. Viele Frauen sind mit sexuellen Übergriffen in ganz verschiedenen Schweregraden konfrontiert. Und selbst Gruppenvergewaltigungen, die ja im Vergleich zu anderen Taten sehr selten sind, passieren in Deutschland laut Bundeskriminalstatistik rund zwei­mal pro Tag.

Einige Täter handeln aus dem Gefühl einer moralischen Empörung heraus – und inszenieren ihre Gewalt als Bestrafung, schreiben Sie in Ihrem Buch. Als Beispiel nennen Sie die Gruppenvergewaltigung von Delhi 2012, wo sechs Männer eine Frau mit einer Eisenstange folterten, woran sie später starb. Was soll da bestraft werden?

Die weiblichen Opfer sollen für eine Nichteinhaltung bestimmter Normen von Geschlecht und Sexualität zur Rechenschaft gezogen werden. Häufig geht es darum, dass das Opfer nicht weiblich, zurückhaltend oder tugendhaft genug sei – in den Augen der Täter. Folgt man dieser Logik, ist die Vergewaltigung als Strafakt naheliegend.

Nach einem reaktionären Verständnis von Sexualität sollen Frauen sich zurückhaltend geben, um keine Übergriffe zu „provozieren“. Die Täter machen diese Norm auf schreckliche Weise zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Wie ist das zu begreifen?

Dieses Vorgehen erinnert an historische Strafpraktiken, wie sie Michel Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen beschrieb: Die Strafe beinhaltete das Verbrechen selbst – und sollte gleichzeitig als Beweis dafür dienen, dass die Strafe legitim war. In den von mir beschriebenen Fällen war das ähnlich: Dass die Frau gerade eine Vergewaltigung erleidet, belegt in den Augen der Täter, dass ihre Vorwürfe gerechtfertigt waren. Die Inszenierung als moralischer Akt sorgt dafür, dass derartige Taten in Gruppensituationen nochmals befeuert werden.

Die Täter verletzen also ebenjene Regeln, an die sie selbst glauben?

Ja, genau. Die moralischen Grenzen las­sen sich erschreckend einfach umgehen. Für die Täter ist es nicht unbedingt ein Bruch mit dem Bestehenden. Ganz im Gegenteil, sie haben sogar eher das Gefühl, mit ihrer Handlung die ­soziale Ordnung wiederherzustellen oder zu bestärken.

Längst nicht alle Taten passen zu dieser Deutung als Strafe. Wie steht es um die anderen Fälle, die Sie untersucht haben?

Manchmal bemühen sich die Täter, die Vergewaltigung als gewöhnliche Form der Sexualität zu inszenieren. Das tun sie sogar dann, wenn sie Waffengewalt einsetzen oder anderweitig das Leben ihrer Opfer bedrohen. So war es beispielsweise in einem Fall in Sydney aus dem Jahr 2000: Obwohl es ganz klar ein Gruppenvergehen war, ließen sich die Täter gegenseitig Privatsphäre. Sie waren mit einem ihrer zwei Opfer jeweils allein im Raum. Es war eine Mimikry von Paarsexualität. Innerhalb und zwischen den Übergriffen betrieben sie Smalltalk. Die Täter arbeiteten massiv daran, gegenüber sich selbst und dem Opfer den Eindruck zu erwecken: Das hier ist Normalität, hier passiert nichts Außergewöhnliches. Erschreckend fand ich in diesem Fall, dass die Opfer auf perfide Weise in die Deutungen der Täter hineingezogen wurden – indem sie dazu gezwungen wurden mitzuwirken.

Wie lief das ab?

Die Täter brachten die beiden Opfer in eine Wohnung und vergewaltigten sie in getrennten Räumen. Beide Mädchen glaubten danach, sie hätten sich gegenseitig ausgeliefert – weil ein Täter einem der Mädchen beispielsweise erzählte, ihre Freundin habe verraten, dass sie keine Jungfrau mehr sei. Das hinterließ bei den Opfern das vage Gefühl, irgendwie mitgemacht zu haben. Eine solche Form der Inszenierung führt bei Betroffenen zu einer massiven Verunsicherung.

Weil es die eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit infrage stellt?

Genau. Darüber, dass sie die Tat nicht wollten, hatten die Betroffenen in den von mir untersuchten Fällen nie einen Zweifel. Allerdings vermittelten die Täter ihnen immer wieder den Eindruck: Das hier ist etwas völlig Normales, warum regst du dich überhaupt so auf?

Wie viel haben Vergewaltigungen überhaupt mit Sexualität zu tun?

Das ist eine alte Streitfrage. Lange Zeit herrschte das Bild vor, eine Vergewaltigung sei schiefgelaufener Sex. Männer hätten demnach einen unkontrollierbaren Sexualtrieb und bei einer Vergewaltigung trieben sie es eben zu weit. In den 1960er Jahren kämpften Feministinnen für eine neue Lesart: Sie sahen Vergewaltigungen als eine Form von Machtausübung von Männern über Frauen. Politisch war das eine wichtige Errungenschaft. Einige gingen allerdings so weit zu behaupten: Sexualität und Gewalt überlagern sich nicht, es ist entweder das eine oder das andere. Dagegen gibt es den offensichtlichen Einwand: Wenn es nur um Gewalt geht, warum verprügeln Männer die Frauen dann nicht einfach? Bei manchen Vergewaltigungen geht es auch um Lust, um Befriedigung – für die Täter. Solche Taten sind ohne eine Vorstellung des Sexuellen gar nicht durchführbar.

Das müssen Sie genauer erklären.

Das, was während einer Vergewaltigung passiert, hat viel damit zu tun, was die Beteiligten an Wissen über einvernehm­lichen Sex in die Situation bringen. In dem Fall in Sydney wollte einer der Täter – absurderweise mit einem Messer in der Hand – von dem Opfer unbedingt eine Einwilligung erzwingen. Das zeigt: An irgendeiner Stelle hat er gelernt, dass Konsens und Sex etwas miteinander zu tun haben, und versucht, das während der Tat anzuwenden – auf eine furchtbar zynische Weise natürlich.

Laufen derartige Taten eher geplant ab oder entstehen sie häufiger aus einer Situation heraus?

Das kommt darauf an. Die Gruppenvergewaltigung in Sydney war vermutlich von Anfang an von der Gruppe ge­plant. Ganz anders in der Silvesternacht in Köln: Die Idee, dass sich da Menschen in großem Stil verabredet hätten, um gemeinsam sexuelle Übergriffe zu begehen, ist falsch. Die Ermittler haben keine Hinweise auf derartige Absprachen gefunden, obwohl sie intensiv danach suchten. Offenbar war das etwas, das sich aus der Situation heraus entwickelt hatte.

Ein weiterer Fall, bei dem sich die Gewalt eher spontan entfaltete: Hamburger Jugendliche missbrauchten 2016 ein wehrloses Mädchen auf einer Party und filmten sich dabei. Sie analysieren das Verbrechen als eine Form von Gruppenvergnügen – für die Täter, wohlgemerkt. Wie meinen Sie das?

Die Jugendlichen hatten sturmfrei, betranken sich, konnten Dinge tun, die ihnen normalerweise verwehrt blieben. Was dann passierte, erinnert stark an andere Partys von Jugendlichen, die nicht auf diese Weise eskalieren: Sie machten sich über ein Gruppenmitglied lustig, das bewusstlos auf dem Bett lag und sich nicht wehren konnte. Am Anfang filmten sie ihr Opfer nur, das passierte bereits vor dem Übergriff. Dann berührten sie das Mädchen. Irgendwann penetrierten sie es mit einer Glasflasche. Dieses schrittweise Annähern – das funktionierte nicht anders als andere Formen von Übermut auch. Nur dass es hier mit furchtbaren Konsequenzen für das Opfer verbunden war.

Wie kam es dazu, dass die Situation derart entgleiste?

Mit so einem Ausgang hatte vermutlich keiner der Beteiligten gerechnet. In ihrem Vorstellungshorizont, wie dieser Abend verlaufen könnte, ist ein solcher Ausgang wohl überhaupt nicht vorgekommen. Und dann passierte es doch: nicht weil alle plötzlich die Kontrolle verloren, sondern weil die Situation bestimmte Spielräume eröffnete, die genau das möglich machten. Die Tat folgte weder einer Straflogik, noch war sie hochgradig sexualisiert. Es machte den Jugendlichen offenbar einfach Freude, sich an jemandem zu vergehen. Das soziale Skript von Spaß, das sie hatten, ließ sich anscheinend leicht in einen sexuellen Übergriff übersetzen.

Irgendwann wachte die Betroffene auf und begann zu schreien. Daraufhin setzten die anderen sie fast unbekleidet im Hinterhof aus und verschwanden. Rettungskräfte brachten das Mädchen schließlich unterkühlt ins Krankenhaus. Wie erklären Sie sich das abrupte Ende?

In dem Moment, in dem das Mädchen zu schreien begann, brach die Konstruktion in sich zusammen. Die Gruppenmitglieder konnten den vermeintlichen Spaß keine Sekunde länger durch­halten. Das beendete allerdings nicht die Gewalt, schließlich setzten sie ihr Opfer danach vor der Tür ab.

Ob als Strafe, Sexualität oder Gruppenspaß inszeniert: Alle drei Deutungen orientieren sich daran, wie die Vergewaltiger selbst – und nicht deren Opfer – ihr Handeln einordnen. Laufen Sie damit nicht Gefahr, den Rechtfertigungen der Täter auf den Leim zu gehen?

Es kann passieren, dass die Täter beim Nacherzählen neue Deutungen hinzufügen, die in der Situation selbst noch gar nicht vorhanden waren. Mich hat vor allem interessiert, was in den Interaktionen selbst passiert. Das Geschehen ist durchsetzt von Rechtfertigungsideen. Genau diese leiten an, was in sol­chen Situationen passiert. Das macht sie wichtig.

Wie steht es um das Unrechtsbewusstsein der Vergewaltiger nach der Tat?

Ich fand bemerkenswert, dass die Täter in den von mir untersuchten Fällen kaum ein Gespür dafür hatten, dass sie Ärger bekommen könnten. Sie unternahmen wenig, um ihre Taten zu verheimlichen. Die 2004 verstorbene Französin Samira Bellil erzählt in ihrer Autobiografie beispielsweise, wie der Täter sie die ganze Nacht lang seinen Freunden ausliefert, sie selbst vergewaltigt – und ihr am nächsten Morgen Frühstück macht und sie gehen lässt. In anderen Fällen fahren die Täter ihre Opfer nach der Tat nach Hause oder sie versuchen, einen scheinbar freundschaftlichen Kontakt aufzubauen. Das mag absurd wirken, aber es ist ein Muster, das bei Gruppenvergewaltigungen anscheinend häufiger vorkommt.

Vorfälle von sexueller Gewalt sorgen immer für ein breites Echo. Wie erleben Sie die mediale Auseinandersetzung mit dem Thema?

Eine Kollegin von mir beschäftigt sich mit sexuellem Kindesmissbrauch. Sie meint, Medienvertreterinnen und -vertreter stellten ihr viele Fragen, bei denen ihr der Verdacht komme: Eine wirkliche Antwort wollen die Fragenden gar nicht hören. Es gehe eher um einen performativen Ausdruck, das alles von sich fernhalten zu wollen und als etwas besonders Schlimmes zu markieren, nach dem Motto: Wie kann man so etwas nur tun? Meine Antwort lautet: Natürlich kann man so etwas tun. Es ist sogar ziemlich leicht. Die normativen Schranken gegen solche Gewalttaten können für meine Begriffe erschreckend einfach umgangen werden.

Was wünschen Sie sich bezüglich der Art und Weise, wie Gruppenvergewaltigungen in der Öffentlichkeit besprochen werden?

Ich wünsche mir weniger moralische Panikmache. Einige Vorfälle bekommen eine starke mediale Präsenz und erscheinen dann schnell als riesiges Problem. Auch wenn ich damit vielleicht meinen eigenen Forschungsgegenstand herunterspiele: Gruppenvergewaltigungen sind vergleichsweise selten. Die Aufmerksamkeit steht in einem krassen Missverhältnis zu anderen Fällen von sexualisierter Gewalt, die vielleicht weniger spektakulär erscheinen, aber ebenfalls erhebliches Leid verursachen.

Sie sind selbst betroffen von sexualisierter Gewalt oder kennen jemanden in Ihrem Umfeld? Dann können Sie sich unter anderem an den Weissen Ring wenden: telefonisch unter 116 006, täglich von 7 bis 22 Uhr oder online unter weisser-ring.de/vergewaltigung

Laura Wolters arbeitet am ­Hamburger Institut für Sozialforschung. Ihre Promotionsschrift Vom Antun und Erleiden. Eine ­Soziologie der Gruppenvergewaltigung erschien 2022 im Verlag Hamburger Edition.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2023: Selbstmitgefühl