Das Dorfgeheimnis

Therapiestunde: Seit Frau Schmitt einen neuen Vorgesetzten hat, erlebt sie Panikattacken im Büro. Was könnte der Auslöser dafür sein?

Eine Frau steht in Verteidigungshaltung vor dunklen Schattenmenschen und hält dabei eine brennende Fackel in der Hand
Auslöser ihrer Panikattacken ist eine Angewohnheit ihres neuen Chefs. Doch woher kommen die belastenden Gefühle? © Michel Streich für Psychologie Heute

Es brauchte einige Sitzungen, bis Frau Schmitt Vertrauen zu mir aufbauen konnte. Sie kam in unsere Praxis, weil sie am Arbeitsplatz als Sachbearbeiterin in einem großen Betrieb diffuse Panikgefühle mit Atemnot erlebte. Sie habe sich mehrmals kurzfristig krankgemeldet – dies habe es bei ihr in all diesen Jahren noch nicht gegeben. Wir sprachen also über ihren Job, ihre Vorgesetzten, ihre immer hinfälliger werdenden Eltern, ihre innere Stimme, keine Fehler machen zu dürfen und keinesfalls aufzufallen.

Als…

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ihre immer hinfälliger werdenden Eltern, ihre innere Stimme, keine Fehler machen zu dürfen und keinesfalls aufzufallen.

Als Verhaltenstherapeut habe ich gelernt, mir Situationen genau und quasi wie mit der Lupe anzusehen: Was ging dem Symptom voraus, was spielte sich im Kopf ab, wie reagierte das Umfeld? In welchen Situationen taucht das Symptom nicht auf? Eigentlich konnte Frau Schmitt auch unter Stress gut arbeiten, war bei Kolleginnen und Kollegen beliebt und oft zuständig für die gute Atmosphäre am Arbeitsplatz. Im Verlauf der Exploration wurde jedoch deutlich, dass ein neuer Vorgesetzter die Angewohnheit hatte, sich manchmal hinter ihren Schreibtischstuhl zu stellen und ihr über die Schulter zu blicken – dies konnte als ein Auslöser der Panikattacken identifiziert werden.

Also: Was für Gedanken kommen bei ihr hoch, wie reagiert sie emotional und physiologisch? Gedanken waren zunächst nicht klar zu identifizieren, die Gefühlslage war völlig diffus, die Physiologie spielte verrückt. Meine Frage: „Kennen Sie solche Gefühle bei sich, tauchen da Erinnerungen aus Ihrer Kindheit oder Jugend auf?“ Ich bat sie, die Augen zu schließen und mir zu berichten, was auftauchte. Sie begann plötzlich schwer zu atmen und zu zittern.

"Ich hatte das alles ganz vergessen"

Auf meine Frage, was sie gerade sehe, sagte sie: „Eine Scheune, am Boden, ich bin ein junges Mädchen, er liegt auf mir.“ Zunächst hole ich sie wieder zurück: „Sie sind hier und in Sicherheit, Sie sind erwachsen und stark.“ Sie beruhigt sich, will sich entschuldigen. Ich mache ihr klar, dass sie etwas mit sich herumträgt, was ihr in der Form nicht bewusst zu sein scheint, was aber möglicherweise mit ihren Panikzuständen zusammenhängt. Wir explorieren vorsichtig und behutsam die Bilder – immer mit der Bitte, kurz die Hand zu heben, wenn es ihr zu viel wird, damit ich nicht weiter frage.

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Sie fängt stockend an, von Erinnerungen zu berichten – es tauchen etwa zehn Jahre ältere Mitschüler aus dem Dorf auf, die sie umringten und sie einem ihrer Mitschüler als „Mutprobe“ anboten. Immer mehr Details kamen hoch – ich rundete die Sitzung ab mit der Zusicherung, dass ich alles aufgeschrieben hätte und wir in der nächsten Stunde diese Erinnerungen wieder aufgreifen könnten. Wir besprachen, dass sie sich bei einschießenden Bildern oder Träumen bei mir melden könne.

Zum Schluss sagte sie: „Ich hatte das alles ganz vergessen und nie mit jemanden darüber gesprochen!“ Die nächsten Sitzungen waren mit immer mehr Details gefüllt: Sie war über Monate hinweg von dem Mitschüler fast täglich nach der Schule vergewaltigt und penetriert worden – anfangs noch mit einer Gruppe von zusehenden Schülern, später allein mit dem Täter. Sie wurde plötzlich mit Gerüchen und Geräuschen konfrontiert, die alles wieder lebendig werden ließen.

Wir tauchten mehr und mehr in die Erinnerungen ein, ließen die Emotionen hochkommen und baten dann in der Erinnerung die erwachsene Frau Schmitt hinzu, um sie zu fragen, was sie jetzt als Erwachsene machen würde. „Das Mädchen wegreißen, in Sicherheit bringen und den Jungen vertreiben.“ Sie hatte sich bis dahin selbst schuldig gefühlt – in der Ansicht, sie hätte es verhindern können, wenn sie sich mehr gewehrt hätte.

Zu den Großeltern abgeschoben

Der Perspektivwechsel half ihr, die Schuldfrage eindeutig zu beantworten: Sie als Erwachsene hatte keinen Zweifel daran, dass die kleine Schülerin keine Schuld traf. Dabei wurde deutlich, dass sie bis heute eine sehr defensive Haltung zu Sexualität hat und manche Berührungen und Annäherungen ihres Mannes sehr schwer ertragen kann. Einen Zusammenhang mit ihrer Biografie hatte sie bis dahin noch nie gesehen. Im Verlauf der Gespräche gab es noch eine andere Komplikation: Sie hatte sich als Kind als eher nicht beachtet erlebt. Da beide Elternteile berufstätig wa­ren, ging sie nach der Schule meist zu den Großeltern.

Doch niemand kümmerte sich richtig um sie, sie lief „so nebenher“. In dem Zusammenhang mit dem Täter erinnerte sie sich aber auch an ein Gefühl der Wichtigkeit – endlich sei sie als schüchternes Mädchen wahrgenommen worden und sei für jemanden von Bedeutung gewesen. Die Eltern hatten sie immer zu den Großeltern abgeschoben, sie habe nichts getaugt, ihre Schulnoten seien schlecht gewesen, sie habe sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, Freundinnen habe es kaum gegeben. Strafen, ausgeschimpft werden, das machen zu müssen, was ihr gesagt wurde – das waren ihre Erinnerungen an diese Zeit.

Und plötzlich hatte sie Bedeutung für jemanden – sie wurde mit ihrer Scham konfrontiert: Wie darf es sein, dass so ein Gefühl bei diesen Taten auch auftaucht – sie hasste sich aktuell dafür. Auch hier war wichtig, die Erwachsene anzusprechen und sie klar benennen zu lassen, dass es Aufgabe der Eltern gewesen wäre, sie zu validieren, ihr ein Selbstbewusstsein zu vermitteln und ihr eine Wichtigkeit als Kind zu geben, und dass sie sich für die damaligen Gefühle als Kind überhaupt nicht zu schämen brauche.

Abschließende Konfrontation

Dieser ständige Perspektivwechsel half ihr, immer besser zu differenzieren, welches die Gefühle des kleinen verletzten Mädchens waren und wie eine Einordnung in ihrer Sicht als Erwachsene aussah. Sie machte gute Fortschritte und erkannte, dass die Auslösesituation am Arbeitsplatz in ihr das gleiche Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins wie in der Scheune wachrief. Sie recherchierte weiter und sprach damalige Mitschülerinnen und vermutete Zeitzeuginnen und -zeugen an.

Dabei stieß sie auf ein Dorfgeheimnis, das von allen vertuscht und verschwiegen wurde: dass nämlich viele der gleichaltrigen Schülerinnen von dieser Tätergruppe vergewaltigt wurden, Erwachsene nicht hinsehen wollten oder die Meinung hatten, dass dies normal sei. Dies schockierte sie einerseits, gab ihr andererseits aber die Sicherheit, dass sie damit nicht allein war, aber als Einzige den Mut aufbrachte, dies aufzudecken. Wir waren in der letz­ten Phase der Therapie (circa 20. Sitzung), als sie ganz dringlich einen vorgezogenen Termin erbat – es sei etwas passiert.

Sie habe den Täter am Samstag im Baumarkt gesehen – er habe sie zunächst nicht bemerken wollen. Auf dem Parkplatz habe sie ihn dann sehr aufgewühlt angesprochen, ob er sich nicht entschuldigen wolle. Er meinte, dass er sich für nichts entschuldigen werde, er sei schließlich auch von der Gruppe vergewaltigt worden. Dies war für meine Patientin ein unglaublicher Schlag: Der Täter war plötzlich auch Opfer – also wie sie.

Wo sollte sie mit der Wut nun hin? Kann er doch eigentlich nichts dafür? Als sie dann noch mitbekam, dass einer der anderen Täter sich vor zwei Jahren suizidiert hatte, konnte sie ihre Gefühle kaum mehr sortieren. Durfte sie, die sie ein eigentlich ganz normales Leben, verheiratet und mit wunderbaren Kindern, führt, eine Wut auf die Täter entwickeln, die offensichtlich mit dem Leben nicht klarkamen?

In der Sitzung bewunderte ich zunächst ihren Mut, dass sie den Täter angesprochen und konfrontiert hatte; dass sie all ihre gespürte Ohnmacht überwinden konnte und selbst die Ini­tiative unternahm. Wir arbeiteten auch heraus, dass die Frage, was dieser selbst erlebt hatte, keinerlei Rechtfertigung für die Taten sein könne und sie zu Recht ihre Wut und Ohnmacht spüren dürfe. Diese Ohnmacht hatte jedoch durch die Konfrontation mit dem Täter deutlich abgenommen und das ließ Platz für das Aufkeimen von Stärke und Mut. Sie hatte erfahren, dass sie zum einen nicht alleiniges Opfer im Dorf war und dass sie zum anderen – auch wenn die Taten nicht rückgängig gemacht werden können – auf ihr Leben, ihre Familie und ihren Mut nachzuforschen stolz sein kann.

Michael Broda arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Dahn. Er ist Mitherausgeber und Schriftleiter der Fachzeitschrift Psychotherapie im Dialog und Mitherausgeber der Lehrbücher Praxis der Psychotherapie und Techniken der Psychotherapie

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2022: Das Tempo der Liebe