Schweig, Quälgeist!

Sie kritisiert uns, sie hält uns unsere Ideale vor, sie beschämt uns: Die innere Stimme kann uns das Leben schwer machen. Woher kommt sie? Was will sie? Und vor allem: Wie bringen wir sie zum Schweigen?

Claudia Weiß hat ein wichtiges Meeting vor sich. Erst einmal aber sitzt sie im Chaos all der aus ihrem Schrank herausgeholten Kleider. „Was soll ich denn bloß anziehen? In dem Kleid sehe ich dick aus, und es steht mir ja gar nicht.“ Sie betrachtet sich im Spiegel, dreht sich nach links, dreht sich nach rechts und findet sich hässlich. Eine Stimme in ihr sagt: „Ich sehe beschissen aus.“

In Momenten wie diesem fühlt es sich so an, als ob wir einen Feind im Kopf trügen, der uns schlecht behandelt. Dieser…

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an, als ob wir einen Feind im Kopf trügen, der uns schlecht behandelt. Dieser Widersacher tritt vor allem dann auf die Bildfläche, wenn wir gestresst sind oder wenn gerade etwas schiefläuft. Er kommentiert die kleinen alltäglichen Versäumnisse und Fehlleistungen ebenso wie unsere großen Lebenspläne und wichtigen Entscheidungen. Das „Feind-im-Kopf-Programm“ sieht individuell sehr unterschiedlich aus: Es kann aus Katastrophengedanken, starker Selbstkritik oder aus Grübeleien bestehen. Unser innerer Gegner treibt uns in die Überforderung oder bremst uns aus, sodass wir uns wie gelähmt fühlen und uns nur noch in unserer Höhle verkriechen wollen. Nach außen gelingt es uns vielleicht noch, die Fassade zu wahren, innen aber fühlt es sich ganz anders an. Wir sind unzufrieden, beschämt, gekränkt, müde und erschöpft.

In der Psychologie gibt es viele Vorstellungen und Theorien darüber, dass unser Seelenleben von unterschiedlichen Anteilen bestimmt wird. Bereits Sigmund Freud zergliederte die menschliche Seele in Es, Ich und Über-Ich. Der Gesprächspsychotherapeut Friedemann Schulz von Thun beschreibt ein „inneres Team“, das unser Seelenleben bestimmt. Und die Schematherapie, ein aktueller Ansatz der Verhaltenstherapie, spricht von einem „Modus“. Damit ist ein bestimmtes Programm gemeint, das unser Denken, Fühlen und Handeln in einer Situation bestimmt.

Wie man die verschiedenen Elemente unserer Innenwelt auch nennt – in jedem Fall nehmen sie eine wichtige Funktion in unserem Leben ein. Mitunter schon seit Jahrzehnten: Teilweise handelt es sich um früh gelernte Bewältigungsstrategien, mit deren Hilfe wir schon in der Kindheit schwierige Situationen bewältigt haben. Es lohnt sich, diese Kräfte kennen- und verwandeln zu lernen. Denn andernfalls kosten sie uns unter Umständen viel Energie und beeinträchtigen leicht unser Wohlbefinden.

Der Feind in unserem Kopf kann unser Freund werden: Dann gibt er uns Impulse, motiviert uns oder schützt uns vor Gefahren. Um zu verstehen, wie das geht, müssen wir uns zuerst den verschiedenen Anteilen unserer Psyche widmen.

Wer sind unsere Feinde im Kopf?

Unseren persönlichen inneren Kritiker erkennen wir vor allem daran, dass er uns stets bewertet. Er führt Statistik über jeden vermeintlichen Fehler und reibt ihn uns unter die Nase. Er wiederholt unermüdlich dieselben Themen, zum Beispiel dass wir nicht attraktiv oder nicht klug genug seien.

Wir können nicht mehr offen und neugierig sein, sondern betrachten uns durch die kritischen, abwertenden Augen des inneren Kritikers. Dieses negative Denken führt zu häufigen Wiederholungen. Die negativen Gedanken kreisen immer wieder um dieselben Themen. Der innere Kritiker kennt nur Richtig oder Falsch und keine Zwischentöne. Sobald wir seine Standards nicht erfüllen, meldet er sich lautstark.

Wenn der innere Antreiber aktiv ist, dann fühlen wir uns innerlich getrieben, stehen unter Strom, müssen schnell, effektiv oder schlichtweg perfekt sein. Er fordert im Beruf, aber auch bei der Hausarbeit und Kindererziehung beste Leistungen. Unter ihm fühlen wir uns oft unter Zeitdruck und gehetzt. Wir haben Angst davor, die Anerkennung, das Geld oder aber die Liebe nicht zu bekommen, die wir brauchen. Durch Disziplin und Perfektion wollen wir von anderen wertgeschätzt werden. Spiel, Spaß und Freude sind für den Antreiber nicht wichtig.

Durch wachsende gesellschaftliche und berufliche Anforderungen wird unser innerer Antreiber bestätigt und gefördert, geradezu gefüttert. Es ist wie verhext: Je mehr wir uns beeilen und technische Hilfsmittel zur Beschleunigung verwenden, desto mehr leiden wir unter Zeitknappheit und Zeitdruck. Für ein einzelnes Schaf ist es schwer, gemütlich zu laufen, wenn die ganze Herde rennt.

Der Katastrophisierer macht sich viele Sorgen um alltägliche Dinge und malt sich die furchtbarsten Konsequenzen aus. Er entwickelt aus einem kleinen Ereignis eine Geschichte, an deren Ende der fantasierte Albtraum steht: Der jüngste Streit mit dem Partner führt natürlich zur Trennung, und der Sohn wird garantiert keinen Ausbildungsplatz finden, weil er eine schlechte Mathearbeit geschrieben hat. Mark Twain kannte diese Katastrophenfantasien und schrieb: „Mein Leben besteht aus lauter Missgeschicken, von denen die meisten nie eintraten.“

Der harmoniesüchtige Anteil hat eine tiefe Sehnsucht nach Anerkennung und große Angst vor Ablehnung. Er strebt nach Harmonie und kann deshalb nur schwer nein sagen. Harmoniesüchtige sind freundliche Menschen, die unter einem inneren Zwang zur Zustimmung stehen. Sie sind einfach immer „nett“. Dabei gehen Sie Konflikten und Konfrontationen aus dem Weg, aus Angst, verlassen zu werden. Sie fühlen sich schnell verantwortlich für die Stimmung und das Wohlergehen anderer. Sie tun oft zu viel des Guten und überfordern sich selbst. Sie lassen sich ausnutzen, übernehmen zu viel Verantwortung und bleiben zu lange in Jobs oder Beziehungen, die für sie schädlich sind. Bei alldem bleiben sie immer beliebt, erhalten aber doch nie die ersehnte Anerkennung.

Und dann gibt es natürlich noch den inneren Vermeider. Der will uns vor allem schützen, und zwar vor Kränkungen und unangenehmen Erlebnissen. Er will uns verschonen vor zu viel Anstrengung, Unsicherheit und Unglück. Dies kann dazu führen, dass wir sogar Situationen meiden, in denen gar keine wirkliche Gefahr besteht: auf Partys mit anderen in Kontakt zu treten, Briefe zu öffnen, allein zu sein. Unser Vermeider redet uns ein, dass in diesen oder anderen Situationen unangenehme Überraschungen und bedrückende Erlebnisse lauern, und rät uns: Bloß weg hier! Dies kann durch Rückzug geschehen, durch Betäubung mittels Alkohol, durch ständige Ablenkung im Internet oder auch durch Unterforderung. Wir gehen keine Risiken mehr ein und halten uns im sicheren Hafen der Routine auf.

Wie entstehen Kritiker & Co.?

Alles hat seine Geschichte – so auch unsere inneren Anteile. Wissen wir um ihre Herkunft und ihren Antrieb, dann verstehen wir auch, warum sie so wirken, wie sie wirken. Und schon haben sie uns nicht mehr in der Hand. Die Frage ist ja: Wie ist es möglich, dass wir Anteile entwickeln, die uns selbst schädigen? Das wäre doch sinnlos – oder steckt vielleicht doch ein verborgener Sinn dahinter?

Claudia Weiß kennt die kritische Stimme, seit sie fünf oder sechs Jahre alt ist. Sie sagt: „Es ist, als ob ich mich durch die Augen meiner Mutter im Spiegel betrachte und ihre wertende Stimme höre. Für sie war ich nie hübsch und schlank genug. Diese Abwertungen sind in diesem Moment die Wahrheit – von keinem Außenstehenden korrigierbar.“

„Introjektion“ ist der Fachbegriff für das, was hier passiert. So wie uns eine wichtige äußere Bezugsperson behandelt, behandeln wir uns selbst oft später auch. Wir verinnerlichen deren kritische Stimme. Das ist zunächst ein Schutzmechanismus, denn wenn Kinder darauf achten, es ihren kritischen Eltern rechtzumachen, werden sie – so hoffen sie – nicht mehr abgelehnt und sogar geliebt. Kinder tun alles, um die Bindung zu den Eltern sicherzustellen. Sie wollen von ihnen geliebt und geschätzt werden. Deshalb übernehmen sie unkritisch und ungeprüft ihre Ansichten und Bewertungen. Claudia hat von ihrer Mutter übernommen, dass es wichtig ist, auf ihr Äußeres zu achten. Es ist wichtig, wie man wirkt. Sie möchte für ihre Mutter hübsch aussehen, um weiterhin von ihr geliebt zu werden.

Für Kinder ist es existenziell bedrohlich, von den Eltern nicht geliebt oder gar verlassen zu werden. Denn ohne ihre Liebe und Zuwendung können Kinder nicht leben. Für sie ist es geradezu überlebensnotwendig, die Beziehung zu den Eltern sicherzustellen. Claudia hat als Kind einen inneren Beschützer entwickelt, der darauf Wert legt, dass sie gut aussieht und sich schön zurechtmacht. Dieser innere Beschützer hat die Wertvorstellungen der Mutter übernommen und sorgt dafür, die Beziehung zu den Eltern zu sichern.

Machen Sie ein Update!

Viele der früh gelernten Bewältigungsstrategien und Konzepte über uns und die Welt müssen immer wieder neu an die Gegenwart angepasst werden. Wenn wir dies nicht tun, reagieren wir auf komplexe Anforderungen mit sehr einfachen, früh gelernten Bewältigungsstrategien. Wir schädigen damit uns selbst und sabotieren so manches unserer Lebensziele.

Um Kritiker & Co. zu aktualisieren und in die Gegenwart zu holen, ist ein anderer seelischer Anteil von uns gefordert: der Erwachsene in uns. Die erwachsene Seite im Menschen ist in vielen Therapieansätzen sehr wichtig. Friedemann Schulz von Thun spricht vom „Oberhaupt“, in der Schematherapie wird vom „gesunden Erwachsenen“ gesprochen, und der Familientherapeut Richard Schwartz bezeichnet diesen Anteil als „das Selbst“. Schwartz stellte in seiner therapeutischen Arbeit oft fest, dass die Klienten, die einen guten Zugang zu ihrem Selbst bekamen, viel besser mit sich und ihren Problemen umgehen konnten als andere. Der Erwachsene in uns ist:

– mitfühlend, akzeptierend und neugierig,

– achtsam, ein innerer Beobachter und zu innerer Distanzierung fähig,

– kommunikativ und verbunden mit allen Persönlichkeitsanteilen.

Durch diesen erwachsenen Anteil können wir wahrnehmen und beobachten, aber auch steuernd eingreifen und Prozesse in konstruktive Bahnen lenken. Er ist wie eine fürsorgliche Mutter, die ein aufgewühltes Kind tröstet und wieder zum Spielen anregt. Schauen wir uns also detailliert und praktisch an, wie wir diese in uns schlummernden Fähigkeiten nutzen können.

Die inneren Anteile kennenlernen und verwandeln

Der Erwachsene in uns sollte gelassen und schrittweise auf seine inneren Anteile zugehen. Dabei müssen wir meistens zuerst einmal durch eine sehr negative Phase.

Abwehr und Vermeidung. Instinktiv reagieren wir auf unangenehme oder schmerzliche Gefühle und Anteile mit Widerstand. Sobald wir darüber nachgrübeln, wie wir das Unangenehme loswerden können, verstricken wir uns häufig sogar immer mehr darin. Alles wird nur noch schlimmer. Gelingt uns die Abwehr und Vermeidung des Negativen nicht, sollten wir uns bemühen, in eine zweite Phase zu gelangen.

Kontaktaufnahme, Kennenlernen, Zulassen. Wir wenden uns – freiwillig oder gezwungenermaßen – dem unangenehmen Gefühl oder Anteil zu und setzen uns mit ihm auseinander. Wir fragen uns: Was bedeutet es? Wann tritt es auf und verschwindet wieder? Was ist das für ein Gefühl? Was für ein Anteil von mir wirkt da? Wir geben diesem Bereich einen Namen und lernen, ihn bewusst von anderen Gefühlen und Stimmungen zu unterscheiden. Mit der Zeit nimmt der Widerstand ab, und wir können diesen Anteil langsam zulassen. Nach und nach erreichen wir eine dritte Phase.

Anfreunden, Mitgefühl und Trost. Wir erkennen den verborgenen Wert und die positiven Absichten unserer Anteile und lernen, sie zu würdigen. Wir können allmählich gezielt mit unseren inneren Stimmen kommunizieren und beginnen, sie mitfühlend zu behandeln und zu trösten. Wir lassen die schwierigen Gefühle und Gedanken kommen und gehen. Wir haben gelernt, mit uns selbst und mit unseren inneren Anteilen mitfühlend und freundlich umzugehen. Wir können sie vielleicht sogar akzeptieren, denn auch sie sind ein Teil von uns. Warum auch nicht?

Ich hoffe, die gute Nachricht ist angekommen: Auch der härteste innere Kritiker und der stärkste Vermeider verfolgen letztlich gute Absichten. Es gibt keine Feinde in unserem Kopf, auch wenn sich das manchmal ganz anders anfühlt. Unser Gehirn produziert nichts Sinnloses.

Oft sind Sinn und positive Absichten der einzelnen Anteile auf den ersten Blick jedoch schwer erkennbar. Der innere Kritiker will uns zum richtigen Verhalten drängen, der Vermeider will schützen vor weiteren Kränkungen und so weiter. Wie bei manchen Märchengestalten, beispielsweise bei dem Bären im Märchen Schneeweißchen und Rosenrot, der erst verwöhnt und gepflegt werden muss, bis er sich in einen Prinzen verwandelt, gilt auch für uns: Wenden wir uns unseren verschiedenen inneren Anteilen aufmerksam zu und versuchen sie zu verstehen, dann ist der innere Erwachsene auch wieder in der Lage, die Führung zu übernehmen. Durch Freundlichkeit, Achtsamkeit und eine positive innere Kommunikation können wir die inneren Kräfte verwandeln und für uns gewinnen.

Dr. Matthias Hammer arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut, Coach und Supervisor in Stuttgart (www.matthias-hammer.de). Sein aktuelles Buch Der Feind in meinem Kopf ist 2015 bei Gräfe und Unzer erschienen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2016: Sprich mit Dir!