Sie malen Granaten, kaputte Häuser, tote Menschen

Wie Kinder von Krieg und Flucht erzählen und warum sie so dringend Sicherheit und Verlässlichkeit brauchen, berichtet die Psychiaterin Areej Zindler.

Ein Mädchen aus der Ukraine Anfang März in Berlin. © Nicholas Muller/SOPA Images/Getty Images

In welchem Zustand sind die Kinder, die zu Ihnen kommen?

Zu uns kommen natürlich vor allem die Kinder, denen es akut schlecht geht, die nicht schlafen können, sehr aggressiv oder vollkommen lethargisch sind oder nicht mehr aufhören zu weinen, weil sie einen Elternteil verloren haben oder jemand aus der Familie schwer verletzt wurde. Die meisten geflüchteten Kinder und Jugendlichen brauchen keine psychologische Unterstützung. Wir gehen davon aus, dass es zwei Dritteln der Kinder, die hierher geflüchtet sind, gut geht. Ein Drittel etwa braucht Stabilisierung, das muss nicht immer eine Psychotherapie sein. Wir erwarten jedoch, dass in den nächsten Wochen auch Kinder zu uns kommen, die nicht in akuter Not sind, aber nach und nach auffällig werden. Zum Beispiel, wenn sie in Deutschland in die Schule kommen und merken, dass sie es nicht schaffen, pünktlich zum Unterrichtsbeginn dort zu sein, sich nicht konzentrieren können, nachts Albträume haben. Manche ziehen sich völlig zurück oder werden aggressiv. Sie fangen auf dem Schulhof an, Szenen nachzuspielen, die sie im Krieg erlebt haben. Bombardierungen, Panzerangriffe, Schießereien. Erwachsene sprechen im besten Fall über das, was sie erlebt haben. Kinder, die noch keine Worte dafür finden, spielen es nach oder malen Granaten, kaputte Häuser und tote Menschen. Wir nennen das „traumatisches Spiel“.

Spielen sie diese Szenen von sich aus, oder werden sie in der Therapie dazu angeregt?

Beides. Manche Kinder spielen von sich aus Szenen nach, die sie erlebt haben. In einem therapeutischen Rahmen ist das sehr hilfreich und heilsam, wir ermuntern sie dazu. Sie können so etwas ausdrücken, was sich in ihnen angestaut hat. In einem ungeschützten Rahmen im Klassenzimmer, in einem Freizeitclub oder auf dem Schulhof ist das schwierig, weil es die anderen Kinder, die so etwas nicht erlebt haben, verstören und überfordern kann.

Wie sollten Lehrerinnen und Lehrer reagieren, wenn sie bemerken, dass Kinder Kriegsszenen nachspielen?

Gut wäre zum Beispiel, das Thema Krieg in der Ukraine im Unterricht zu thematisieren und altersgemäß zu besprechen. Und auch darüber aufzuklären, wie Kinder den Krieg erleben, was ein Verlust oder der Anblick von Granaten mit Kinderseelen macht. Dass viele sehr traurig werden, weinen, ganz viel schlafen oder nachts immer wieder aufwachen. Dann ist das ein Thema, das alle angeht. Die betroffenen Kinder können sich in der Klasse aufgehoben fühlen. Sie haben das Bedürfnis zu vermitteln, was sie erlebt haben, und wollen gesehen und verstanden werden. Wenn Erwachsene das aufgreifen, fühlen sich die Kinder entlastet. Und sie lernen auch, sich selbst zu verstehen. Das wiederum hilft ihnen, Kontrolle zu gewinnen über ihre Gedanken und Gefühle. Dann müssen sie ihre Erlebnisse nicht ständig reinszenieren.

Sollten Lehrer, Erzieherinnen, Sozialarbeiter oder Ehrenamtliche, die geflüchteten Kindern helfen, sie fragen, was ihnen vor und während der Flucht widerfahren ist,oder lieber abwarten, bis sie von sich aus darüber sprechen?

Auf jeden Fall abwarten und erstmal eine sichere und offene Atmosphäre schaffen, auf keinen Fall insistieren und sagen: „Du musst schlimme Dinge erlebt haben, erzähl doch mal.“ Wenn Kinder von sich aus berichten, dass sie etwas Schlimmes gesehen haben, ist es gut zu sagen: „Das ist furchtbar, so etwas zu erleben.“ Jede Person, die hilft, muss sich selbst fragen: Was kann ich leisten? Wo ist meine Grenze? Schlimm wäre es, wenn ich immer weiter nachbohre und dann, wenn ein Kind wirklich erzählt, merke, dass mir das zu viel wird und ich es doch nicht so genau wissen möchte. Dann bleibt das Kind allein zurück und fühlt sich leer und schutzlos Kinder entwickeln schnell Schuldgefühle, dass sie der netten ehrenamtlichen Helferin so etwas Schreckliches erzählt haben und die jetzt überfordert ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns fragen: Kann ich das? Traue ich mir das zu? Ist es tatsächlich hilfreich, was ich anbiete? Was ist meine Rolle, und was passt zu meiner Rolle? Privatpersonen, die ehrenamtlich helfen, sollten eine Atmosphäre von Schutz und Sicherheit schaffen und den Geflüchteten auch zu vermitteln: Ihr habt etwas Großartiges geschafft, ihr habt Euch in Sicherheit gebracht. Es ist auch wichtig, die Mütter zu bestärken, dass sie das Richtige getan haben. Ich sage Ihnen: „Sie haben getan, was jede Mutter auf der ganzen Welt tun würde. Sie haben versucht, Ihre Kinder zu schützen. Sie waren nicht egoistisch, Sie haben Ihren Job gemacht.“

Es hilft also auch den Kindern, wenn ihre Mütter nicht mehr innerlich zerrissen sind, weil sie sich Vorwürfe machen, dass der Mann in der Ukraine geblieben ist.

Das ist das Zentrale. Nur wenn die Eltern stark sind, geht es den Kindern gut. Deshalb ist es so wichtig, die Eltern zu beraten, zu entlasten und aufzuklären. Die Mütter müssen bestärkt werden, dass es eine gute, wenn auch schwierige Entscheidung war, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Viele Kinder haben Schuldgefühle und denken, wenn ich noch mehr geschrien und mich beim Abschied noch fester an Papa geklammert hätte, wäre er vielleicht doch mitgekommen. Oder: Wenn ich ein braves Kind gewesen wäre, wäre ich jetzt nicht allein mit Mama in Deutschland. Kinder beziehen alles auf sich, suchen die Schuld bei sich selbst und verbergen ihre eigene Trauer. Aus Angst, dass die Mutter dann noch trauriger wird oder sie ihr das Gefühl vermitteln, dass sie mit ihr allein nicht glücklich sind. Vielleicht gab es vorher einen Konflikt zwischen den Eltern, dann traut sich die Tochter nicht, ihrer Mutter zu sagen, dass sie ihren Papa vermisst.

Können Sie ein Beispiel nennen, wie Sie in so einem Fall helfen können?

Manchmal erzähle ich von anderen Kindern, die sich gefragt haben, ob sie vielleicht zu wenig getan haben, um den Papa zum Mitkommen zu bewegen. Ich rolle gewissermaßen den Teppich aus, mache Angebote, was alles in einem vorgehen könnte, welche Fantasien im Kopf sein könnten. Manche Kinder kommentieren das gar nicht. Aber die Information kommt bei ihnen an. Andere fühlen sich dadurch ermutigt zu sprechen. Ich denke an einen Jungen, der tief vergrabene Schuldgefühle hatte, weil der Vater in der Ukraine geblieben war. Die Mutter hatte ihrerseits auch heftige Schuldgefühle. Beide waren einsam in ihrem Leiden, weil sie nicht darüber sprechen konnten. Das gelang erst in der Therapie. Deshalb beziehen wir immer Angehörige mit ein. Als beide sich endlich öffnen konnten, waren sie plötzlich verbunden in der gemeinsamen Sorge um den Vater. Das hat sie einander wieder nahegebracht.

Wovon hängt es ab, ob es geflüchteten Kindern gelingt, das Erlebte gut zu verarbeiten?

Von ganz vielen Faktoren. Was hat ein Kind erlebt? Hat es „nur“ gehört, dass jemand verletzt wurde oder mit eigenen Augen einen Verletzten oder Toten gesehen? Und wenn ja, war es eine nahe Bezugsperson? Wie haben die Eltern in der Schocksituation reagiert? Sind sie zusammengebrochen, oder haben sie das Kind geschützt und getröstet? Und natürlich hängt es auch davon ab, ob ein Kind in einer behüteten Familie aufgewachsen ist oder in einer Familie, in der die Eltern ständig gestritten haben oder es beschimpft wurde, wenn es sich verletzt hat. Ich habe einen syrischen Jungen behandelt, der es nach einem Jahr Krieg zu Hause nicht mehr ausgehalten hat und trotz elterlichen Verbots auf die Straße gegangen ist zum Spielen. Er wurde verletzt, der Vater hat ihn beschimpft: „Hättest du auf mich gehört, wäre das nicht passiert.“ Solche Erfahrungen schwächen und machen es Kindern schwer, Verstörendes zu verarbeiten. Und dann kommt es darauf an, ob Kinder eine Traumafolgestörung entwickelt haben und wie schwer sie ist. Mich motiviert bei meiner Arbeit, dass wir auch in Situationen, die aussichtslos erscheinen, mit einer Traumatherapie helfen können. Wir stabilisieren die Kinder und zeigen ihnen, wie sie sich selbst beruhigen können. Wenn Kinder beispielsweise durch ein Flugzeuggeräusch traumatisiert sind, lernen sie, mit diesem Trigger umzugehen und nicht mehr panisch zu reagieren, wenn sie ein Flugzeug hören. Sie lernen, ihren Körper und ihr Gehirn ins Hier und Jetzt zu bringen, an den Ort, an dem sie gerade in Sicherheit sind. Dinge zu verarbeiten bedeutet nicht, sie zu vergessen, sondern zu integrieren.

Ist vergessen nicht auch manchmal hilfreich?

Kinder brauchen unbedingt Zeiten und Räume, in denen sie vergessen können, was sie erlebt haben, wo sie Quatsch machen, spielen und Kind sein dürfen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Und sie brauchen Sicherheit, Struktur und Verlässlichkeit. Es ist für sie ganz wichtig, dass sie in die Schule oder in den Kindergarten gehen können und andere Bezugspersonen haben und nicht nur die Mutter, die traurig ist. Mit einer fremden Person können sie auch mal das Schlimme vergessen und lachen. Das entlastet auch die Mütter. Deshalb sind Freizeitangebote für Kinder enorm wichtig.

Worauf sollten Ehrenamtliche achten, wenn sie Kinder mit einem Angebot unterstützen möchten?

Weniger ist mehr. Wenn jemand sich vorstellen kann, einmal in der Woche von 13 bis 14 Uhr mit fünf Kindern zu malen, ist das schon sehr viel. Es müssen keine ganzen Tage sein, die investiert werden. Aber Verlässlichkeit ist das A und O. Die Kinder müssen wissen, dass sie in den nächsten sechs Wochen jeden Dienstagnachmittag zum Malen kommen können. Viele Kinder haben erlebt, dass von heute auf morgen alles zusammenbrechen kann. Sie brauchen Sicherheit. Wer helfen möchte, sollte auch versuchen, sich in die Situation der Geflüchteten hineinzuversetzen und sich fragen: Was bräuchte ich? Was würde mir in so einer Situation guttun? Der gesunde Menschenverstand allein reicht nicht immer aus. Wir machen nicht automatisch alles richtig, nur weil wir nette und gebildete Menschen sind. Sich Wissen anzueignen ist auch notwendig. Es kann sehr hilfreich sein, sich zu informieren über typische Symptome bei Kindern, die auf eine Traumafolgestörung hinweisen und Tipps zu bekommen, wie man sensibel reagiert und wo die Familie Hilfe bekommen kann. Dazu gibt es gerade viele Schulungsangebote für Ehrenamtliche. Es ist auch gut, Geflüchteten zu sagen: „Das habe ich in einer Schulung gelernt.“ Dann merken sie, die Person, die mir helfen möchte, hat sich damit beschäftigt, sie nimmt mich ernst. Und ein paar Worte Ukrainisch zu lernen wäre natürlich auch sehr hilfreich.

Areej Zindler ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und leitet die Flüchtlingsambulanz im Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf. Seit 1998 bietet dort ein interdisziplinäres Team aus Ärzten, Psychotherapeutinnen, Sozialpädagogen, Familientherapeutinnen und Dolmetscherinnen ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung für geflüchtete Kinder und Jugendliche in Hamburg an. Ein Schwerpunkt liegt in der Behandlung von Traumafolgestörungen.

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