Der erste Tag als freiwillige Helferin ist der Psychologin Friederike Engst bis heute in Erinnerung geblieben. Im Sommer 2015 war das. Der Junge, der vor dem Sanitätszelt ihre Nähe suchte, 17 Jahre alt vielleicht, den sie nicht wegschickte wie die anderen, weil er so verloren aussah. Der begann, Musik auf seinem Handy abzuspielen, um eine Verbindung zu ihr aufzubauen. Und ihr schließlich am Nachmittag folgte, mit großen, sehnsüchtigen Augen, weil er hoffte, sie könne ihm irgendwie helfen. Dem sie mit…
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Augen, weil er hoffte, sie könne ihm irgendwie helfen. Dem sie mit Gesten, für ihn unverständlichen Worten und Blicken klarmachen musste, dass sie ihn nicht mitnehmen konnte. Daraufhin sei er wütend weggegangen, erinnert sich Friederike Engst. Das habe sie nicht vergessen können. Obwohl sie wusste: Es war richtig. Andernfalls hätte sie Kompetenzen und Grenzen überschritten. Als sie wieder zu Hause war, überkam sie an diesem Sommertag ein schlechtes Gewissen. Sie schämte sich für den Wohlstand und die bestens organisierte Sorglosigkeit ihresLebens: „Ich hatte das Gefühl, das steht dir gar nicht zu. Dort leben Menschen in unwürdigen Bedingungen, sie leiden, und du legst dich in ein warmes Bett, machst die Tür zu und hast es gemütlich. Das ist bis heute geblieben.“
Wir schaffen das, hat Angela Merkel gesagt. Friederike Engst ist eine von vielen, die es auch nach dem gesellschaftlichen Stimmungsumschwung weiterhin schaffen wollen und sich in ihrer Freizeit für Flüchtlinge engagieren, die sie lieber „Geflüchtete“ nennt, weil das nicht so stark auf die eine Eigenschaft reduziert.
Aufgewachsen ist die 38-jährige Psychologin, die in der Dresdner Klinik am Waldschlösschen eine Ausbildung zur Psychotherapeutin macht, in der DDR in einer evangelischen Familie, die sich offen zu ihrem Glauben bekannte. Mit allen Konsequenzen. Haltung zu zeigen und dafür einzustehen, auch wenn man dafür persönliche Nachteile in Kauf nehmen muss, gehört zu ihrer familiären Grundausstattung. Als Christen eckten sie in der sozialistischen DDR immer wieder an. So durfte ihre Schwester zum Beispiel kein Abitur machen. Der Großvater betrieb ein sogenanntes „Rüstzeitheim“, wo sich auch Regimekritiker trafen. „Das waren Menschen, die Ohnmachtserfahrungen gemacht haben und trotzdem aktiv geblieben sind“, erinnert sich Friederike Engst. „Ihnen hat vielleicht ihr Gottvertrauen geholfen, bei mir ist es eine Art Urvertrauen, gepaart mit Idealismus.“ Nach der Wende engagierte sie sich in sozialen Vereinen, wollte „nicht nur konsumieren, sondern mitgestalten. Das war eine schöne Erfahrung.“
Somebody cares. Darauf kommt es an
Als in Dresden vor bald zwei Jahren die Pegida-Demonstrationen gegen Ausländer, Flüchtlinge und den Islam begannen, stand sie von Anfang an bei den Gegendemonstranten. Während einer dieserDemos erlebte Friederike Engst, wie Hass in Gewalt umschlägt. Sah, wie sich eine Gruppe aus der Pegida-Demo löste, um Sympathisanten der Aktion„Refugee Struggle“ unter dem Beifall von Umstehenden anzugreifen. Die Polizei kam, aber sie kam spät. Das hat ihr Angst gemacht. Eine Angst, die sie aus ihrer Jugend in den 1990er Jahren kennt, als es für sie in Brandenburg alltäglich war, flüchten zu müssen.
Die erste große Party, die sie mit 14 besuchte, wurde von Neonazis überfallen. Damals gingen Scheiben zu Bruch, ein Junge mit Irokesenschnitt wurde im Hausflur verprügelt. Als sie ein andermal in derJungen Gemeinde eine Reise nach Israel vorbereiteten, marschierte ein stadtbekannter Neonazi auf und bedrohte sie mit einem Baseballschläger. Gefahrlauerte damals überall. Wenn Friederike Engst abends in der Stadt unterwegs war und die Rücklichter eines Autos aufleuchten sah, rannte sie weg. So stark hatte sich Angst bei ihr eingebrannt. Weil sie rechten Schlägern als „Zecke“ galt, die man jagen und schlagen darf.
Nach der neuerlichen Gewalterfahrung bei der Demonstration in Dresden kamen die Erinnerungen von damals zurück. Sie ertappte sich bei Vorsichtsmaßnahmen, die sie noch von früher kannte: „Gehe ich da allein hin? Wer kann mich begleiten? Und um nicht für jeden als Helferin erkennbar zu sein: Ziehe ich das T-Shirt vom Roten Kreuz wirklich schon zu Hause oder erst in der Zeltstadt an?“ Sie hat überlegt, aus Dresden wegzugehen. Weil sie den Hass und die Anfeindungen in der Stadt nur schwer ertragen kann.
Sie ist dann doch geblieben. Denn es gibt auch die anderen. „Ich bin unglaublich dankbar für die großartigen Menschen, die ich kennenlernen durfte“, sagt sie. Etwa die zwei Frauen, die den Chor „Singasylum“ für Menschen jeglicher Herkunft gegründet haben. Die Bastler, die anboten, mit Flüchtlingen und Deutschen Fahrräder zu reparieren. „Die Menschen um mich herum helfen mir, nicht passiv zu werden. Da gibt es großartige Beispiele, die mich selbst auch wieder ermutigen, mich zivilgesellschaftlich zu engagieren. Frust lässt sich durchaus produktiv in Aktivität umwandeln.“ Etwa indem sie interessierten Flüchtlingen im „Montagscafé“ erklärt, dass es einen Zusammenhang zwischen körperlichen Symptomen wie Herzrasen und belastenden Kriegserlebnissen geben kann. „Mini-Psychoedukation“ nennt Friederike Engst diese Gespräche, in denen sie helfen will zu verstehen, wie sich traumatische Erlebnisse auf die Gesundheit auswirken.
Um ihr psychologisches Fachwissen weiterzugeben und mitzuhelfen, professionellere Helferstrukturen aufzubauen, arbeitet Friederike Engst nicht mehr in der Erstaufnahme, sondern kümmert sich seit einigen Monaten verstärkt um die Helfer. Am „Runden Tisch“, der Akteure zur Versorgung traumatisierter und psychisch kranker Flüchtlinge vernetzt, tragen Sprecher von Arbeitsgruppen vor, was sie bisher erreicht haben und wo es hakt. Es geht um Strukturen und konkrete Probleme.
Die Flüchtlinge sind im Überlebensmodus
Eine Ärztin aus der AG Ehrenamt erklärt, warum es vielen Geflüchteten so schwerfällt, regelmäßig einen Sprachkurs zu besuchen: „Die sind wie Treibholz, haben Tod und Verlust erlebt. In den Lagern gibt es keinen Intimbereich, wo sie mal in Ruhe lernen könnten. Es gibt eine große Gruppe, die ist zu abgelenkt und mit sich selbst beschäftigt, um regelmäßig dahin zu gehen.“ Viele seien es aus ihrenHeimatländern gewohnt, sich Infos per Hörensagen zu beschaffen. Im deutschen Behörden- und Fachsprachendschungel verirrten sie sich. „Die sind im Überlebensmodus“, bilanziert die Ärztin. „Es geht nur über Bindung: Somebody cares! Darauf kommt es an. Dann sind die so dankbar. Immer wieder höre ich den Satz: Ich habe meine Familie verloren, jetzt seid ihr meineFamilie.“ Viel Verantwortung fürehrenamtliche Helfer, oft zu viel.
Fast beiläufig erzählt eine Ärztin von ihrenErfahrungen im Asylheim, wo Schiiten neben Sunniten schlafen, Araber neben Nichtarabern, Raucher neben Nichtrauchern: „Es gibt viele Konflikte, auch gewalttätige. Neulich haben sich ältere Männer, die eigentlich ganz friedlich sind, Stühle auf den Kopf geschlagen. Lagerkoller.“ Der Fachberatungsdienst Zuwanderung im Land Brandenburg hat in einer Studie untersucht, wie es zu dieser Gewalt kommt. Fazit: Meistens entsteht die Gewalt aus banalen Alltagssituationen. Ein Streit um Ordnung oder Sauberkeit reicht schon als Auslöser. Gewalttätig werden fast ausschließlich Männer, vor allem junge.
Der Runde Tisch greift Erfahrungen auf, die etwa die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer seit Jahrzehnten gesammelt hat. Daraus leiten dieArbeitsgruppen praktische Hinweise für die vielen ehrenamtlichen Helfer ab, die täglich mit Traurigkeit, Verzweiflung, Apathie und Konflikten fertigwerden müssen.
Der Selbstwert darf nicht davon abhängen, dass man anderen hilft
„Am Anfang war ganz viel Aktionismus“, sagt Friederike Engst. „Aber je länger man das macht, umso notwendiger ist es, über sich und seine Arbeit zu reflektieren und sich ehrlich zu hinterfragen.“ Der ganz alltägliche Umgang mit fremdem Leid ist belastend. „Natürlich begleiten mich die Geschichten, die ich tagsüber von Geflüchteten erfahre“, berichtet die Psychologin. Da ist zum Beispiel der minderjährige unbegleitete Junge, der unbedingt zu seiner Familie ins Kriegsgebiet zurück möchte, den die Behörden aber nicht allein zurückreisen lassen. Den Heimweh plagt und lähmende Traurigkeit. Der ausweglos gestrandet ist. Diese Geschichten zu hören und nicht helfen zu können, kann Friederike Engst nur schwer ertragen. Helfen heißt immer wieder auch, Ohnmacht auszuhalten.
Wie geht sie damit um? „Ich lasse diese Gefühle erst mal zu und versuche mit Vertrauten darüber zu sprechen.“ Und sie passte auf, dass sich ihr Blickwinkel nicht verengte, sagt die Psychologin. „Der Selbstwert darf nicht einzig davon abhängen, dass man anderen hilft. Wenn das meine einzige Identität wird, bin ich für andere auch nicht mehr hilfreich.“ Sie nimmt sich Auszeiten, fährt zu ihrer Familie und schaut bei allem Frust und Leid um sie herum immer wieder auf das, was gelingt.
Dabei helfen ihr Methoden und Begriffe der Traumatherapie, die sie in der Ausbildung gelernt hat: Reorientierung, Distanzierung und Selbstfürsorge. Sie macht sich klar, wo sie gerade steht, wie gut sie in ihrem Umfeld eingebunden ist. Um Abstand zu gewinnen, geht sie mit Freunden ins Kino und kümmert sich mit guten Gesprächen und Ausflügendarum, dass sie sich im Privatleben wohlfühlt. Gleichwohl muss sie ihr individuelles Maß an Engagement immer wieder neu austarieren. Sensibel dafür bleiben, dass die Lebensbereiche Arbeit, Ehrenamt, Freunde und Familie in einer Balance bleiben. „Definitiv fällt mir Distanzierung am schwersten“, sagt Friederike Engst. „Ich möchte ja ganz für Berührendes empfänglich bleiben und es auch an mich ranlassen. Mitfühlen, aber nicht mitleiden – das ist die Aufgabe.“
Ein Abend in der Dresdner Neustadt. Ein Projektor wirft ein blaues Quadrat an die Wand. Die Frauen und wenigen Männer des Projekts „Cinelokal“ stellen Stühle auf und testen den Beamer für die Filmvorführung. Seit einigen Wochen organisieren Dresdner zusammen mit Flüchtlingen Filmvorführungen. Die Idee ist, dass Filme verbinden und zu Diskussionen anregen: über Werte, Kultur, Heimat. Nach und nach betreten junge Männer mit dunklen Haaren die Sprachschule. Man hört Namen wie Kamal, Mohammad oder Yazar. Höflich sind sie, fast schüchtern. Friederike Engst begrüßt sie auf Englisch. Ein junger Syrer testet feixend seine neu erworbenen Deutschkenntnisse: „Wie geht’s? Gut?“ Das Licht geht aus, der Film fängt an. „Alles unter Kontrolle“, ruft einer. Dann sehen sich viele junge Männer mit den wenigen Frauen Das Mädchen Wadjda an. Den ersten Film aus Saudi-Arabien, den eine Frau gedreht hat – unter schwierigen Bedingungen. Die Geschichte eines elfjährigen Mädchens, das sich in einer restriktiven Männerwelt, die Frauen vieles verbietet, ihren großen Traum vom Radfahren erfüllen will.
Ab und zu kichern die männlichen Zuschauer, wenn das Mädchen mutig und trickreich versucht, Verbote zu umgehen. Die meisten von ihnen kommen aus Ländern, in denen sich Mädchen unterordnen und gehorchen müssen. Heute lassen sich die Männer auf Mädchenträume ein. Nur ganz wenige gehen vor Ende des Films. Friederike Engst liebt diese Abende. Die unvorhersehbaren Reaktionen. Die Gespräche. „Wir haben hier ja ziemlich genaue Vorstellungen davon, was für ein Bild von der Frau der arabische Mann hat. Aber stimmt das überhaupt?“, fragt sie. Bestenfalls geraten durch eine Filmvorführung Gewissheiten ins Wanken. Auf beiden Seiten.
Dennoch: Es sind schwierige Zeiten für Helferinnen und Helfer. Friederike Engst erzählt, wie es ist, sich ausgerechnet in Dresden zu engagieren. Erzählt von den Kolleginnen, die sich vor der eigenen Familie dafür rechtfertigen müssen, weil sie Zeit für „Asylanten“ opfern. Bisweilen wird man als Helfer auch als naiver „Gutmensch“ bezeichnet. Oder schlimmer. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz hat sich für die weitverbreitete Hilfsbereitschaft im Land den Begriff „narzisstische Normopathie“ ausgedacht. In einem Essay prangert er „Vertreter und Akteure einer Willkommenskultur“ an, verantwortungslos zu handeln und empathielos gegenüber den Ängsten der „besorgten Bürger“ zu sein. Angst vor Fremden nennt er normal. Engagierte Mitmenschlichkeit für Flüchtlinge hingegen erscheint bei Maaz geradezu pathologisch. Als eine Art kollektive Persönlichkeitsstörung.
Friederike Engst drängt es zu widersprechen.Natürlich gebe es auch ein egoistisches Grundmotiv, räumt sie ein. Ja, es tue gut, selbstwirksam zu sein und anderen zu helfen. Aber mangelndes Mitgefühl lasse sie sich nicht vorwerfen. „Für viele engagierte Helfer spielt Empathie eine große Rolle – und eben nicht Narzissmus.“ Heute trinkt sie Tee und ruht sich aus. Morgen wird sie weitermachen.
Freiwillig helfen, aber richtig!
Damit ehrenamtliches Engagement gelingt, braucht es feste Strukturen, Tätigkeitsbereiche und gute Organisation. Die wichtigsten Rahmenbedingungen sollten vorab geklärt und geregelt werden. Wer weiß, was er will, hat bessere Chancen, seine Motivation dauerhaft aufrechtzuerhalten. Diese Hinweise können dabei helfen, eine passende Tätigkeit zu finden:
Was genau will ich in meinem Ehrenamt, und was will ich nicht? Wie viel Zeit kann ich investieren? Lässt es der Beruf überhaupt zu, verbindliche Termine einzuhalten?
Art und Umfang der Tätigkeit müssen geregelt sein. Hilfe für andere darf den Helfer nicht überfordern oder seine Kompetenzen übersteigen. Wer gern selbständig arbeitet, wird sich dauerhaft nur engagieren, wenn er mit einem gewissen Grad an Autonomie arbeiten kann. Wer feste Strukturen, genaue Anweisungen und wiederkehrende Abläufe bevorzugt, ist schlecht aufgehoben, wo Kreativität und eigene Entscheidungen gefragt sind.
Feste Ansprechpartner für Fragen und Sorgen. Anspruchsvolle Tätigkeiten wie die Betreuung von Flüchtlingsfamilien benötigen Anleitung und kontinuierliche Begleitung.
Zwischen haupt- und ehrenamtlichen Helfern kann es leicht zu Konflikten kommen. Feste Absprachen und Vereinbarungen beugen unrealistischen Erwartungen auf beiden Seiten vor.
Versicherungsschutz während der Arbeitszeit klären. Grundsätzlich gilt: Offene Fragen möglichst frühzeitig ansprechen.
Anfallende Kosten sollten transparent sein und idealerweise übernommen werden. Wer mit wenig Geld auskommen muss, kann mitunter anfallende Fahrtkosten nicht allein tragen. Daran sollte ein Ehrenamt nicht scheitern.
Austausch mit anderen Helfern und Möglichkeiten zur Fortbildung geben.
Bereich wählen, der den eigenen Neigungen und Ansprüchen entspricht. Viele Freiwillige wollen mitgestalten und eigene Ideen einbringen. Aber nicht jede Institution bietet den Rahmen zur Selbstverwirklichung.
Prävention in eigener Sache betreiben. Dazu gehört, regelmäßig Bilanz zu ziehen: Macht die Arbeit immer noch Spaß oder ist sie nur noch Pflichterfüllung? Weicht die Tätigkeit dauerhaft von den eigenen Vorstellungen oder getroffenen Vereinbarungen ab, sollte das Gespräch mit dem Betreuer gesucht werden. Ist keine Veränderung möglich, kann es besser sein, das Engagement zu beenden.