„Ich bin wie Frodo“

Therapiestunde: Der Klient fühlt sich seinen sexualisierten Gewaltfantasien ausgeliefert. Wie kann „Der Herr der Ringe“ ihm helfen?

Die Illustration zeigt den Klienten eines Therapeuten, der gebeugt einen großen, goldenen Ring trägt und sich seinen sexualisierten Gewaltfantasien hilflos ausgeliefert fühlt
„Als wäre da der Eine Ring, und ich muss ihm widerstehen und schaffe es nicht.“ ​ © Michel Streich

In unserem Projekt I can change an der Medizinischen Hochschule Hannover versorgen wir Patienten, die fürchten, ihre sexualisierten Gewaltfantasien nicht (mehr) kontrollieren zu können. Einige dieser Menschen haben bereits Übergriffe auf Erwachsene begangen, andere noch nicht. Jeden Tag begegne ich Menschen, die beschreiben, sich an einem Abgrund zu befinden. Sätze wie „Ich bin ein Monster“ fallen im Rahmen der Therapie häufig. Viele unserer Patienten berichten von der Überzeugung, eigentlich keine Hilfe…

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unserer Patienten berichten von der Überzeugung, eigentlich keine Hilfe und Unterstützung zu verdienen. Dabei unterscheiden sie sich in ihren Diagnosen selten von regulären psychotherapeutischen Patienten. Ihre Fantasien und zum Teil auch ihre Taten sind jedoch schwerwiegend und geben ihnen oft ein Gefühl, isoliert zu sein. Bei Herrn Müller (Name geändert) war dieses Gefühl besonders ausgeprägt.

„Wissen Sie, da ist so etwas Dunkles in mir. Etwas, das ich nicht benennen kann.“ Mein Patient mustert mich forschend. Ich bin nicht seine erste Therapeutin und auch nicht die erste, der er davon erzählt. Das „Dunkle“ in ihm hat ihn viel gekostet, es hat ihn vor Gericht gebracht, seine Beziehung gefährdet und ihn an den Rand des Bodenlosen geführt. Es verschlingt ihn dennoch. Herr Müller, ein paar Jahre älter als ich, Mitte dreißig und – das weiß ich nach unseren wenigen bisherigen Gesprächen – ein Nerd, der am liebsten sein Leben in einem Archiv verbringen würde und stattdessen im Chaos der sozialen Berufe gelandet ist. Tattoos auf dem Arm und dazu das Bemühen, angepasst zu bleiben.

Viele Bälle in der Therapiestunde

Eine Therapie hat er bereits abgebrochen. Es ging ihm nicht schnell genug. Er wollte Ergebnisse, bitte nach Stunde zwei und bitte auch nachhaltig. Sein Wunsch nach rascher Veränderung ist jede Stunde spürbar.Wir sind in Stunde vier. Er sitzt auf der vorderen Kante seines Stuhles, bereit aufzuspringen. Therapie kennt er schon. Seit Jahren ist er in der Paartherapie mit seiner Partnerin. Dort hat er lange verschwiegen, was ihn umtreibt. Jetzt ist es raus, zusammen mit dem Gerichtsverfahren an der Oberfläche erschienen. Eine weitere Therapie musste her, doch die vorangegangene hatte ja keine Veränderung gebracht – Abbruch nach sechs Stunden. Zu langsam.

Er, ich, das „Dunkle“ und die Erwartung einer schnellen Veränderung. Stunde vier. Das sind recht viele Bälle in dieser Therapiestunde. Und obwohl dieses „Dunkle“ schon eine ganze Weile in seinem Leben ist, habe ich das Gefühl, er hat es selbst noch nicht verstanden. Und ich auch nicht. Dabei möchte ich das wirklich gerne verstehen. „Könnten Sie mir noch mal beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn dieses Dunkle in Ihnen auftaucht?“ Und er berichtet. Von dem Gefühl, das unter der Oberfläche lauert, das jederzeit auftauchen kann. Bei langen Autofahrten, im Job, während er mit seiner Partnerin zu Hause ist. Dann ist es plötzlich da, dieses Verlangen, dieser Wunsch nach mehr, das Gefühl endlich wieder Sex mit anderen haben zu wollen, dieser Drang, in einen Chat zu gehen, Frauen anzuschreiben, Dinge zu tun, die ihn schon vor Gericht gebracht haben.

Unzählige Fantasien – einige in die Tat umgesetzt

Zum Schutz von Herrn Müller und den Betroffenen möchte ich nicht auf die Einzelheiten seiner Taten eingehen. Die Delikte in unseren Projekten reichen von unsittlichen Berührungen Fremder bis hin zu jahrelangen analen Vergewaltigungen der Lebenspartnerin. Herr Müller befindet sich zwischen diesen Patienten. Manches hat er in die Tat umgesetzt, davor und danach lagen unzählige Fantasien.

Er berichtet, wie es lauert und jeden Moment in sein Leben treten kann. Er beschreibt, wie es sich anfühlt, jetzt wo er kein Handy mehr mit Internetzugriff hat, wie er manchmal Pläne macht, die Beschränkungen zu umgehen und dann vor sich selbst zurückschreckt, denn: „Eigentlich möchte ich das nicht mehr, Frau Gibbels, aber der Drang ist so stark. Ich fühle mich völlig machtlos.“ „Es gibt da also etwas in Ihnen, das sich wehrt, das gegen diesen Drang ankämpft, und gleichzeitig erleben Sie es als übermächtig.“

„Wie hinter einer dunklen Tür, wo es lauert und auf mich wartet“, sagt er. Dann korrigiert er sich: „Nein, eher wie ein Flüstern in der Dun­kelheit.“ Der Satz klingt bekannt, wie aus einem Film oder Buch entsprungen. Metaphern in der Therapie können helfen, Unaussprechliches greifbar zu machen und in den Raum zu holen, sie können, wenn sie gut passen, vieles erleichtern. „Ein bisschen wie beim Einen Ring aus Der Herr der Ringe?“, frage ich vorsichtig.

„Was macht Frodo denn aus?

Die Patienten in unserm I can change-Projekt zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie in der Vergangenheit keine Therapie erhalten haben oder sie schnell wieder abbrachen. Häufig bin ich die letzte in einer langen Reihe Therapeuten, die vor ihnen sitzt und der sie von düsteren Fantasien erzählen und der sie Taten berichten, die sie bis dahin niemandem anvertrauen wollten. Eine gemeinsame therapeutische Allianz zu erzielen ist dann manchmal herausfordernd. Und dann ist da dieser Moment, in dem es doch passt – nicht immer, aber häufiger, als ich am Anfang dachte.

„Genau so“ mein Patient nickt heftig. „Ganz genau so fühlt es sich an. Als wäre da der Eine Ring, und ich muss ihm widerstehen und schaffe es nicht.“ Er grinst. „Das ist ein richtig gutes Bild dafür. Ich bin wie Frodo.“ „Okay, Sie sind also Frodo.“ Er grinst wieder. Nun sind wir in seiner Welt angekommen. Und wir haben eine gemeinsame Mission, quasi (s)eine Reise vor uns. „Was macht Frodo denn aus?“ Und mit einem Mal sind sie greifbar, die Ressourcen, die mein Patient lange nicht an sich entdecken konnte: die Fähigkeit, zu widerstehen, die Kraft, den Weg in die Therapie zu gehen, die Lebensfreude, die er auch von sich kennt. All diese Dinge, die ihn auszeichnen und besonders machen, sind plötzlich ein Teil der Therapie.

Die Metapher des Rings

Seit Stunde vier ist viel geschehen. Die Scham, über das Verlangen zu sprechen, ist weniger geworden. Gemeinsam konnten wir uns anschauen, wann der Ring laut flüstert, wann er leise wird und welche Situationen ihn vielleicht sogar einmal zum Schweigen bringen. Seit Stunde vier ist klar: Die Therapie kann gar kein Sprint sein, dafür ist der Ring eine zu schwere Last. Und auch im Alltag, so sagt es mein Patient, ist die Metapher eine Unterstützung. Wenn er im Auto sitzt und sein Verlangen steigt, erinnert er sich an den Ring. In diesem Moment hat er die Fähigkeit, die Situation von außen zu betrachten, eine kleine Distanz zwischen sich und die Gedanken zu bringen – und diese Distanz reicht ihm. Es ist der Bruchteil einer Sekunde, der ihm hilft, sein Verhalten zu hinterfragen und anzupassen.

Mit der Metapher des Rings war es meinem Patienten möglich, sich zurück­zunehmen und bewusst zu schauen: Wann flüstert der Ring besonders laut? Durch die Metapher wurde die Situation in der Wahrnehmung meines Patienten kontrollierbarer, er konnte erkennen: Der Ring mag flüstern, aber ich kann entscheiden, wie ich damit umgehen möchte. Während unserer gemeinsamen Arbeit konnten wir ergründen: Welche Situationen erscheinen unkontrollierbar? Was sagt der Ring eigentlich?

Es wurde klar: Es geht nicht nur um sexuelle Bedürfnisse, sondern um das Gefühl, etwas zu schaffen, besonders zu sein, die eigenen Wünsche einmal auszuleben und nicht im Kopf nur bei anderen zu sein. Gleichzeitig konnten wir aber auch betrachten: Was macht stark? Wo sind die Barrieren gegen den Ring? Herr Müller hat angefangen, sich selbst wahrzunehmen, zu erkennen, was er braucht, wann er über seine eigenen Grenzen geht und sich stark für andere aufopfert. Das Flüstern ist leiser geworden, es kommt wie Herr Müller regelmäßig zur Therapie.

Charlotte Gibbels ist promovierte Psychologin und in der Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin, Fachkunde Verhaltenstherapie. Sie arbeitet und forscht in dem Projekt I can change, das kostenlose und anonyme Behandlung für Menschen bietet, die unter sexuellen Impulsen leiden und Unterstützung suchen, weil sie fürchten, diese nicht (mehr) kontrollieren zu können

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2021: Wege aus der Depression