Wenn Louis de Funès nach allen Regeln der Schauspielkunst ausrastet und dabei im Zeitraffer das gesamte Ausdrucksrepertoire des Gewohnheitscholerikers abarbeitet, können wir darüber herzlich lachen. Und auch noch elf Jahre danach schauen wir uns schmunzelnd Rudi Völlers berühmte „Scheißdreck“-Tirade im Fernduell mit Netzer und Delling auf YouTube an. Wir finden diese Ausbrüche komisch, weil allzu menschlich. Denn wer von uns verliert nicht manchmal die Contenance? Die eine seltener, der andere ziemlich oft.…
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Denn wer von uns verliert nicht manchmal die Contenance? Die eine seltener, der andere ziemlich oft. Jeder hat sein „emotionales Äquilibrium“, seine persönliche Sollbruchstelle, bis zu der er stressige Situationen auf eine kontrollierte und vernünftige Weise handhaben kann.
Wehe, wenn diese Grenze überschritten wird! „Wut kann, das ist auffällig, lange gezügelt werden, dann aber plötzlich wild und heftig losbrechen“, schreibt der Neurowissenschaftler Giovanni Frazzetto in seinem Buch Der Gefühlscode. Ist der Damm gebrochen, rasten wir aus. Und das ist dann im realen Leben meist gar nicht komisch, mitunter sogar tragisch. In diesem Zustand sagen oder tun wir Dinge, die wir später bitter bereuen. Mancher und manchem kosten sie den Job, die Ehe, die Zuneigung der Kinder. „In allen ihren Formen hat Wut moralische Konsequenzen“, schreibt Frazzetto. „Wer seiner Wut nachgibt, muss damit rechnen, dass dies Folgen hat für seine Stellung im gesellschaftlichen Leben, dass seine Beziehungen zu anderen Menschen Schaden nehmen.“
Was passiert in diesen folgenreichen Momenten? „Die emotionalen Eruptionen scheinen aus dem Nichts zu kommen und von einem Moment zum nächsten das Regiment zu übernehmen“, so schildert es die Familientherapeutin Judith Siegel, Dozentin an der New York University. „Manchmal sind unsere Emotionen so heftig, dass es schwerfällt, überhaupt zu denken.“
Zu viel Gefühl also? Nicht wirklich, meint Siegel. In Anlehnung an Hirnforscher wie Joseph LeDoux unterscheidet sie zwischen Gefühlen und Emotionen. Emotionen sind das Rohmaterial, die – auch körperliche – Erregung, die uns in ängstigenden, provozierenden oder sonst wie emotionalen Situationen erfasst. Gefühle hingegen sind das Produkt, der Feinschliff einer Emotion: das, was uns zu Bewusstsein dringt, wenn eine emotionale Erregung die Analyse- und Bewertungsinstanzen des Gehirns passiert hat. „Emotionen entwickeln sich als biologische Prozesse“, schreibt Giovanni Frazzetto, „kulminieren aber in persönlich gefärbten mentalen oder seelisch-geistigen Erfahrungen.“ Letzteres sind die Gefühle. Gefühle können intensiv und sehr unangenehm sein, man denke etwa an die Trauer um einen Verstorbenen. Doch starke Gefühle dieser Sorte sind meist normale und sinnvolle Reaktionen, ein Mitschwingen unseres Seelenlebens mit der Lebenssituation, in der wir uns befinden.
Bei emotionalen Kurzschlussreaktionen hingegen sind nicht wirklich Gefühle im Spiel, meint Judith Siegel. Vielmehr beherrscht das emotionale Rohmaterial das Feld – unter Umgehung von Verstand und Herz. Und ohne Abwägung der Konsequenzen! Der Mensch ist seinen Emotionen dann ausgeliefert. Aus manchen bricht es impulsiv heraus, als Wut und Trotz, wie bei Rudi Völler. Die „Explodierer“, nennt Siegel diesen Typ. Andere wiederum reagieren wie gelähmt, ziehen sich zurück, verlieren sich in Grübeleien. Das, so Siegel, seien die „Implodierer“. Doch genau besehen sind Wutausbrüche und Anfälle von lähmender Mutlosigkeit nur zwei Seiten derselben Medaille, Reaktionsmuster auf eine emotionale Überforderung. Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, wies jüngst darauf hin, dass sich Depressionen bei Männern oft nicht in Niedergeschlagenheit, sondern in Ärger, Gereiztheit und Aggressivität äußern: Vorsicht, dieser emotionale Vulkan ist aktiv und ein Ausbruch jederzeit möglich!
Gefühle sind notwendig. Emotionalen Ausbrüchen hingegen sollte man tunlichst vorbeugen, ehe das Magma steigt. Dazu muss man ihre Auslöser kennen. Judith Siegel beschreibt vier typische „Trigger“: Neid, Zurückweisung, Kritik und Kontrollverlust.
Neid
Neid, so Siegel, „ist eine mächtige Emotion, die allen Menschen ungeachtet ihres Alters, ihrer Religion oder ihres kulturellen Hintergrunds wohlbekannt ist“. Wir fühlen uns neidisch, wenn jemand etwas erhält oder ihm etwas gelingt, was uns selbst verweigert wird, obwohl wir so sehr danach gestrebt haben und überzeugt sind, dass wir es verdient haben.
Das peinigende Gefühl von Neid stellt sich ein, wenn wir meinen, zu kurz gekommen zu sein. Sobald Menschen den Eindruck haben, ungerecht behandelt worden zu sein, tritt umgehend ihre Amygdala auf den Plan, die Hirnzentrale emotionaler Mobilmachung.
Neid bewirkt entweder einen aggressiven Wunsch nach Rache und Wiedergutmachung oder Selbstzweifel und Rückzug – oder beides. Gleichzeitig schämt man sich für dieses Gefühl, denn der Neid hat eine üble soziale Reputation. Wer will schon ein „Neider“ sein, gar eine „Neiddebatte“ anzetteln? Man versucht, den Neid unter dem Deckel zu halten. Doch im Zweifel bricht er dann umso heftiger hervor.
Das geschieht meist dann, wenn ein wunder Punkt getroffen wurde. Oft hat er mit dem Gefühl zu tun, im Leben zu kurz gekommen zu sein – vielleicht schon damals im Konkurrenzkampf mit den Geschwistern um die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Eltern. Noch als Erwachsener wird dann in ähnlichen Situationen das alte emotionale Schema abgespult. Man reagiert unangemessen heftig. Wie lässt sich die Neidattacke einfangen?
– Schämen Sie sich Ihres Neides nicht. Neid ist eine normale Gefühlsreaktion. Aber lassen Sie nicht zu, dass sie Ihre Entscheidungen und Handlungen diktiert.
– Dazu sollten Sie den aufsteigenden Neid frühzeitig registrieren. Achten Sie auf Ihren Körper: Ist da eine plötzliche Spannung im Brustkorb oder Bauch, ein Verkrampfen der Muskeln an Nacken, Rücken, Händen? Fühlen Sie sich wütend, übergangen, gekränkt, herabgesetzt? Was genau hat diese Empfindungen ausgelöst? Wurde ein wunder Punkt getroffen, erinnert Sie die Situation an eine prägende Begebenheit in Ihrer Vergangenheit, in der Sie sich auf schlimme Weise benachteiligt fühlten?
– Treten Sie innerlich einen Schritt zurück. Rekapitulieren Sie, welche Dinge Ihnen heute im Leben wirklich wichtig sind, etwa dass es Ihrer Familie gutgeht, dass Sie alle glücklich und gesund sind. Ist die Demütigung, die Sie momentan empfinden, vor diesem Hintergrund wirklich so bedeutsam?
– Sprechen Sie mit Freunden über das, was Sie gekränkt hat, tanken Sie Sympathie und Unterstützung. Und, noch wichtiger: Investieren Sie Zeit, um anderen zu helfen, die sich wirklich schwertun: „Neid wird schnell relativiert, sobald wir registrieren, wie gut wir es eigentlich haben“, schreibt Judith Siegel.
Zurückweisung
Das Bedürfnis nach sozialem Anschluss ist ein Überlebensinstinkt des Homo sapiens, fest verankert in unseren Genen. Die Erfahrung, von Mitmenschen zurückgewiesen zu werden, löst daher zwangsläufig einen emotionalen Großalarm aus. Selbst der verweigerte Blickkontakt eines Wildfremden versetzt uns einen Stich, wie Eric Wesselmann und sein Team an der Purdue-Universität in einem Experiment demonstrierten.
Ausgeschlossen zu sein tut weh. Mehrere Studien haben bestätigt, dass soziale Zurückweisung im Gehirn ähnlich bearbeitet wird wie körperlicher Schmerz. Dieser Schmerz ist unvermeidlich. Doch mit der Zeit versiegt er – es sei denn, er trifft auf einen fruchtbaren Humus, nämlich die aus früheren Erfahrungen des Abgewiesenwerdens resultierende Überzeugung, langweilig und nicht liebenswert zu sein. Die Langzeitfolge sind Verunsicherung und Verschüchterung – oder das (scheinbare) Gegenteil: ein übersteigertes Geltungsbedürfnis. Wie also umgehen mit der Qual, verschmäht zu werden?
– Suhlen Sie sich nicht in Ihrem Schmerz und Selbstmitleid. Versuchen Sie, die Situation in einem neutraleren Licht zu betrachten. Haben Sie sich da in etwas hineingesteigert? Haben Sie die Person, die Gruppe, die Firma, bei der Sie abgeblitzt sind, idealisiert und sich die gemeinsame Zukunft in allzu rosigen Farben ausgemalt? Schreiben Sie drei Punkte auf, die diesen Menschen oder dieses Projekt für Sie so attraktiv gemacht haben. Und dann notieren Sie drei Punkte, die Ihnen nicht so gut gefallen haben; was wäre wohl passiert, wenn diese Unstimmigkeiten sich mit der Zeit verstärkt hätten?
– Schreiben Sie ein neues Skript: Wie werde ich beim nächsten Annäherungsversuch vorgehen? Was werde ich anders machen? Wie würde ich mit einer Zurückweisung umgehen?
– Verkriechen Sie sich nicht in Ihr Schneckenhaus. Suchen Sie Tuchfühlung zu Menschen, von denen Sie wissen, dass sie Sie mögen. Christopher Cardoso und seine Mitforscher von der Concordia University im kanadischen Montreal haben jüngst entdeckt, dass das Bindungshormon Oxytocin den Stress des Zurückgewiesenwerdens lindert. Die Versuchsteilnehmer mussten erleben, wie ein vermeintlicher Mitstudent ihnen in einer Unterhaltung ständig widersprach, sie unterbrach oder schlicht ignorierte, was sie sagten. Teilnehmer, denen man zuvor Oxytocin in die Nase gesprüht hatte, verkrafteten die Demütigung leichter. Die Erklärung Cardosos: Das Hormon stärkt die Bereitschaft, nach der Kränkung Unterstützung bei anderen zu suchen.
Kritik
Niemand wird gerne von anderen hinterfragt und unvorteilhaft bewertet. Kritik bedroht unser Selbstwertgefühl, das bestgehütete unser inneren Güter. Dieser „Angriff“ löst eine Kampf- oder Fluchtreaktion aus und kann extreme Emotionen entfesseln: Wut und Gegenattacke oder Schuldgefühle und Depressionen.
„Oft wurzeln solch heftige Reaktionen auf Kritik in einer narzisstischen Verwundbarkeit“, behauptet Psychotherapeutin Siegel. Das mag verwundern, denn als einen „Narzissten“ stellen sich viele einen hochnäsigen, von sich selbst eingenommenen Menschen vor. Therapeuten, so Siegel, hätten jedoch einen etwas anderen Blick auf diesen Persönlichkeitszug. Nicht ein Übermaß, sondern ein Mangel an Selbstsicherheit zeichne den Narzissten aus: „Unter der Oberfläche von Anspruchsdenken und Überlegenheit liegt eine Höhle voller Selbstzweifel und Versagensangst.“ Statt sich als eine Person mit Stärken und Schwächen zu akzeptieren, blenden die Betreffenden die Schwächen aus, weil sie Scheitern als Katastrophe empfinden. Überall suchen sie nur den Applaus und die Selbstbestätigung, die sie so dringend brauchen.
Die Crux an dieser Haltung: Wer sich gegen Kritik, die ja oft konstruktiv gemeint ist, von vornherein abschottet, schneidet sich auch von jedem Feedback ab – und damit von der Möglichkeit, sich zu entwickeln und zu verbessern. Haben auch Sie ein Übermaß an Aversion gegen Kritik?
– Erstellen Sie eine Liste der Eigenschaften an Ihnen, auf die Sie am meisten stolz sind. Und dann schreiben Sie die Merkmale auf, die Sie an Ihnen am wenigsten mögen. Ist die Anzahl der Einträge in beiden Kategorien halbwegs ausgewogen, spricht das dafür, dass Sie sich mit Ihren Stärken und Schwächen akzeptieren und somit auch Kritik annehmen können. Dominieren die Schwächen auffällig, so neigen Sie vielleicht dazu, Kritik sofort an Ihrer Person festzumachen statt an der Sache. Glauben Sie sich hingegen mit lauter Stärken und so gut wie keinen Schwächen ausgestattet, so liegt der Verdacht nahe, dass Sie sich mit einem narzisstischen Schutzwall umgeben.
– Beobachten Sie sich selbst, während Sie kritisiert werden. Gehen Sie nicht gleich in einen Attacke- oder Selbstverteidigungsmodus. Statt zu rechtfertigen, warum Sie genau so und nicht anders handeln mussten, prüfen Sie lieber, was Sie an der Kritik verwerten könnten.
– Üben Sie sich darin, anderen ihre Schwächen nachzusehen. Dann fällt es Ihnen irgendwann auch leichter, gegenüber sich selbst nachsichtig zu sein – und Sie müssen Kritik nicht gleich abblocken.
– Wenn jemand Ihnen Hilfe anbietet: Nehmen Sie sie doch einfach mal an!
Kontrollverlust
Völlig zu Recht streben wir danach, unseren Alltag im Griff zu haben. Wir möchten selbst bestimmen, wie wir unsere Kraft und Zeit einteilen. Und es widerstrebt uns, etwas zu tun, bei dem wir die Ergebnisse und Konsequenzen nicht abschätzen können. „Selbstwirksamkeit“ ist eines der wichtigsten menschlichen Bedürfnisse. Ohne jede Kontrolle darüber, was wir tun und was uns widerfährt, wären wir der Natur und den Mitmenschen – wohlwollenden und übelmeinenden – hilflos ausgeliefert. Drohen die Dinge aus dem Ruder zu laufen, werden wir panisch oder wütend.
Hält das Gefühl, dass einem die Kontrolle entglitten sei, über Tage und Wochen an, dann fallen wir in einen Zustand von Lethargie und Selbstzweifeln; wir fühlen uns hilflos und ausgeliefert. Es droht die Depression.
Man kann es mit der Selbstwirksamkeit aber auch übertreiben. Wer immer alles im Griff haben will, fesselt sich selbst und brüskiert andere. Im Zusammenleben ist die Frage, wer in welchen Situationen das Sagen hat, wer führt und wer sich führen lässt, ein Gegenstand permanenten Aushandelns – Eheleute können ein Lied davon singen. Idealerweise sollte man Kontrolle ergreifen, aber auch auf- und abgeben können.
– Wenn Sie den Eindruck haben, dass es Ihnen an Durchsetzung mangelt, beachten Sie Folgendes: Wer erhält Oberwasser, wer profitiert davon, wenn Sie in einer passiven Haltung verharren? Kann Ihnen das recht sein? Was könnte im schlimmsten Fall passieren, wenn Sie sich entschlössen, deutlicher Stellung zu beziehen?
– Wenn Sie hingegen mit Ihrem übertriebenen Kontrollbedürfnis ein übers andere Mal bei anderen anecken, weil immer alles exakt nach Ihrem Willen und Ihren Vorstellungen zu laufen hat, dann fragen Sie sich einmal Folgendes: Werden Sie Respekt verlieren oder gewinnen, wenn Sie anderen zugestehen, einen aktiveren Part zu spielen? Halten Sie sich vor Augen, was Ihnen verlorengeht, indem Sie niemanden so nahe an sich heranlassen, dass Sie sich auf sie oder ihn stützen können!
Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Keinem ist damit gedient, seine Gefühle zu unterdrücken. Ärger über eine ungerechte Behandlung, eine nicht gerechtfertigte Kritik, ein Übergangenwerden ist eine natürliche und gesunde Reaktion. Auch darf und sollte man – sofern das in der jeweiligen Situation klug erscheint – seinem Unmut, seiner Empörung Ausdruck verleihen. Wut ist ein guter Motivator. Ausrasten jedoch ist nie hilfreich. Denn dann liefern wir uns der biologischen Emotion aus, statt unsere Gefühle zu befragen.
Um unkontrollierte Eruptionen des Zorns zu vermeiden, kommt es darauf an, den sich allmählich aufstauenden Ärger im Vorfeld zu erkennen, die körperlichen Zeichen wahrzunehmen, mit denen er sich ankündigt (siehe Kasten Seite 29). Dann gilt es, Zeit zu gewinnen, innerlich einen Schritt zurückzutreten und zu sondieren, welche „Trigger“ den Ärger ausgelöst haben. Irgendwann verrauscht er meist von selbst.
Doch manchmal bleibt etwas zurück. Dann hat der Trigger uns empfindlich getroffen, hat uns eine unangenehme Wahrheit über uns selbst enthüllt. Dann tut sich eine „Realitätskluft“ auf, wie der australische Psychotherapeut Russ Harris es nennt. Man stellt erschüttert fest: Die Wirklichkeit ist nicht so, wie man sie sich die ganze Zeit über ausgemalt hat. Vielleicht reagierte Rudi Völler seinerzeit auch deshalb so dünnhäutig, weil ihm dämmerte, dass er nicht annähernd das Trainergenie war, zu dem ihn das Fußballvolk anfangs erhoben hatte. Wahrscheinlich hat er selbst für eine Weile dran geglaubt.
Wir stehen vor der Realitätskluft, wenn eine Illusion zerplatzt, eine Lebenslüge enttarnt wird. Eine Kränkung, eine Zurückweisung, eine harsche Kritik macht uns schlagartig bewusst, dass wir, so Harris, „nicht so intelligent, begabt oder gutaussehend sind, wie wir es gerne wären“. Das lange gehegte Selbstbild: eine Täuschung. Etwas im Inneren gerät ins Wanken. „Wenn die Realitätskluft klein ist oder wenn es den Anschein hat, sie könnte rasch geschlossen werden, gehen die meisten Menschen recht gut damit um. Aber je größer sie ist und je länger sie geöffnet bleibt, desto mehr quälen wir uns damit“, schreibt Russ Harris.
Vollständig werden sich die vielen Klüfte zwischen Wunsch und Wirklichkeit im Leben nie schließen lassen. Wünsche bleiben unerfüllt, Erwartungen werden frustriert. Diese Erkenntnis „bedeutet allerdings nicht, alle Sehnsüchte, Wünsche, Bedürfnisse und Ziele aufzugeben“, meint Harris. In seinem Buch Wer vor dem Schmerz flieht, wird von ihm eingeholt gibt der Achtsamkeitstherapeut aus Melbourne ein anderes Ziel aus: „dass unser Gefühl von Wohlbefinden und Lebendigkeit nicht mehr von Dingen abhängt, die außerhalb von uns selbst sind“. Wer in sich selbst Ruhe findet, kann den täglichen Frust hinnehmen, ohne dass gleich die Sicherungen durchbrennen. Wohl denen, denen das gelingt!
Achtung, da braut sich was zusammen!
Kennen Sie noch die uralte Fernsehwerbung mit dem HB-Männchen? Lustig, wie der sich aufschaukelnde Ärger ihm im Gesicht, in den Gesten, der Quäkstimme abzulesen ist, bis der unvermeidliche Zornesausbruch es am Ende buchstäblich in die Luft gehen lässt. Im Alltag sind die Signale eines sich anbahnenden Wutausbruchs zwar subtiler, aber doch gut wahrnehmbar (wenn man bloß nicht emotional so involviert wäre!). Einige Zeichen:
Wut hat einen unverkennbaren Gesichtsausdruck: Die Augenbrauen werden zusammengezogen, und ihre inneren Enden wandern v-förmig in Richtung Nasenwurzel. Lippen und Zähne sind entweder eng zusammengepresst, bis die Kieferknochen hervortreten, oder die Lippen sind zurückgezogen, die Zähne entblößt. Eine archaische Drohgebärde: Nimm dich in Acht, sonst beiße ich zu wie Luis Suárez!
Der ganze Körper ist nach vorn geneigt, in Angriffshaltung dem Widersacher entgegengestreckt. Der Brustkorb ist angeschwollen, der Oberleib wirkt wie aufgepumpt.
Die Stimme ist laut und schrill. Die Worte und Laute kommen stoßweise, überhastet. Das Gesagte ist oft eher verworren als klar.
Das Gesicht wird rot. Manchmal scheint es auf groteske Art purpurn zu leuchten. Tatsächlich fühlen sich Kopf und Körper heiß an. Die Adern an Stirn und Hals schwellen an.
Der Grund dafür ist eine physiologische Mobilmachung: Die Atmung geht schneller, Puls und Blutdruck steigen, das Blut strömt Richtung Muskulatur und Kopf: Der Kampf kann beginnen!
Literatur
Judith P. Siegel: Stop overreacting. Effective strategies for calming your emotions. New Harbinger Publications, Oakland 2010
Giovanni Frazzetto: Der Gefühlscode. Die Entschlüsselung unserer Emotionen. Hanser, München 2014
Russ Harris: Wer vor dem Schmerz flieht, wird von ihm eingeholt. Unterstützung in schwierigen Zeiten. Kösel, München 2013