Herr El-Mafaalani, am 1. September 2021 feierte das BAföG seinen 50. Geburtstag. Zu seiner Einführung wollte man mehr Durchlässigkeit im Bildungssystem erreichen: Mehr Arbeiterkinder sollten studieren. Ist das gelungen?
Ja, das ist ganz bestimmt gelungen. Die Bildungschancen für Benachteiligte haben sich verbessert und das Studium ist für Nichtakademikerkinder zugänglicher geworden. Das kann man in Teilen auch auf das BAföG zurückführen. Gäbe es diese finanzielle Hilfe nicht, würden sich viele Menschen aus…
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auch auf das BAföG zurückführen. Gäbe es diese finanzielle Hilfe nicht, würden sich viele Menschen aus Milieus mit strukturellen Benachteiligungen gegen ein Studium entscheiden – selbst diejenigen, die ein richtig gutes Abitur haben. Deshalb ist das BAföG wirklich eine sinnvolle Sache.
Aber zahlreiche Studien belegen auch: Bildungschancen sind in Deutschland immer noch so stark abhängig von der eigenen Herkunft wie in fast keiner anderen Industrienation. Sind Maßnahmen wie das BaföG also nur ein Tropfen auf den heißen Stein?
Man muss leider festhalten, dass wir generell eine Gesellschaft sind, die extrem viel Ungleichheit zulässt. Auch in Bezug auf die ungleiche Verteilung von Vermögen oder Einkommen liegen wir weit über dem OECD-Durchschnitt. Unser Staat wirkt kaum ausgleichend, sondern reproduziert meist sogar Ungleichheiten.
Man könnte sagen, er sieht seine Aufgabe darin, die Menschen genau in der Lebenslage und Klasse abzusichern, in der sie sich befinden. Es geht also nicht um soziale Mobilität, sondern um soziale Sicherheit. Das gibt es in dieser krassen Ausprägung in kaum einem anderen westlichen Land. Das zeigt sich auch in der Bildungspolitik.
Inwiefern?
Daran, dass unser Schulsystem bereits strukturell voraussetzt, dass die Eltern einen großen Teil der Verantwortung für die Lernzeit tragen. Insbesondere am Gymnasium ist implizit mitgedacht, dass da Eltern sind, die ihre Kinder bei den schulischen Anforderungen unterstützen. Wenn Eltern aber in einem Bildungssystem eine derart große Rolle spielen, dann spielt es eben auch eine Rolle, wer diese Eltern sind.
Ein Beispiel: Wenn ein Kind an einem deutschen Gymnasium nicht die nötigen Leistungen bringt, werden die Eltern zu einem Gespräch eingeladen und sollen es dann anschließend zu Hause richten. Ändert sich allerdings weiter nichts, gibt es vielleicht noch einmal ein Elterngespräch und dann war es das: Das Kind wird aussortiert und letztlich in eine niedrigere Schulform gesteckt.
Das Problem ist: Es wird überhaupt nicht geprüft, ob Mutter oder Vater im Einzelfall in der Lage sind, die an sie gehegten Erwartungen zu erfüllen – möglicherweise sind sie und die Situation zu Hause ja sogar der Grund für die schlechten Schulleistungen. All das interessiert an deutschen Schulen nicht.
Woran mangelt es also?
Es fehlt an Strukturen und multidisziplinären Teams. In anderen Ländern wie beispielsweise Finnland wird gemeinsam mit Lehrkräften, Schulpsychologen, Schulmedizinerinnen sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern nach einer Lösung gesucht, wenn klar wird, dass Eltern diesen Part nicht leisten können. Übrigens ändert auch die steigende Anzahl an Ganztagsschulen in Deutschland nichts an diesem Grundproblem. Denn was dort stattfindet, ist schlicht Nachmittagsbetreuung. Es geht dabei einfach darum, dass beide Elternteile arbeiten können, nicht um besseres Lernen der Kinder.
Was für eine Rolle spielen die Lehrkräfte? Können sie Aufstiegschancen erzeugen oder gar verringern?
Dazu gibt es mehrere Befunde. In den meisten reproduzieren sie Ungleichheit. Entstanden ist diese aber zuvor, in den Familien und Milieus. Die Verhältnisse dort sind absolut entscheidend für die Entwicklung eines Kinds. Gab es in der Kindheit anregende Entwicklungsimpulse, musische und sportliche Förderung – oder im Gegenteil problematisches Verhalten wie Gewalt oder Sucht?
Studien zeigen schon bei der Einschulung enorme Ungleichheiten in Bezug auf körperliche Merkmale, die Motorik, Sprache oder den Wortschatz zwischen Kindern aus unterschiedlichen Milieus. Das liegt an unserer Gesellschaft: Sie lässt extrem unterschiedliche Familienverhältnisse zu und extrem unterschiedliche Kindheiten.
Sie nehmen die Lehrerinnen und Lehrer damit aus der Verantwortung?
Nur zum Teil. Denn manchmal wird Ungleichheit sogar von Lehrkräften verstärkt. Es gibt eine leichte, aber messbare soziale Verzerrung bei der Art und Weise, wie manche von ihnen das Talent von Kindern einschätzen: Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Milieus bekommen für die gleiche Leistung dann eine schlechtere Note als Gleichaltrige aus einem bildungsbürgerlichen Haus. Aber selbst den vielen anderen Lehrkräften, die diese Verzerrung nicht aufweisen, werfe ich eine Sache vor: Dass sie gar nicht entdecken wollen, was Armut verdeckt, nämlich die tatsächlichen Talente und Begabungen der Kinder.
Manche würden sagen, das sei gar nicht der Auftrag von Schulen oder Lehrerinnen und Lehrern.
Ja, das ist tatsächlich oft das Argument, vor allem von sehr konservativen Menschen. Nach dieser Ansicht muss das alles von den Eltern kommen. Man kann das sicher auch unterschiedlich sehen – dennoch sind sich in Deutschland doch fast alle einig, dass die beiden Prinzipien Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft gelten sollten. Also sollten wir die Ursachen von Problemen auch ehrlich benennen.
Welche gibt es denn noch?
Ein Phänomen, über das wir in Deutschland definitiv mehr sprechen müssen, ist die Kraft des Habitus. Habitus beschreibt das milieuspezifische Denk- und Handlungsmuster eines Menschen. Also etwa den Stil, die Vorlieben, das Benehmen sowie Wünsche und die Selbstwahrnehmung. Die französische Soziologie hat mit diesem Begriff einen sehr starken Ansatz gefunden, kritisch über Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu sprechen, die sich reproduzieren, ohne dass das immer bewusst geschehen muss oder gewollt ist. Das alles trifft auch auf Bildung und die Chance zum sozialen Aufstieg zu.
Können Sie das an konkreten Situationen illustrieren?
Ein großes Thema von Bildungsaufsteigerinnen und -aufsteigern ist Scham in Bezug auf den eigenen Habitus. Diese wiederum kann sich ganz konkret negativ auf den eigenen Aufstieg auswirken. Wenn Sie als Arbeiterkind aus der Provinz an die Universität kommen und ein Großteil ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen hat schon zahlreiche Auslandsaufenthalte hinter sich, kennt Autorinnen und Künstler oder Bands, die Sie noch nie gehört haben, dann ist das irritierend. Aber noch entscheidender ist die permanente Unsicherheit, wie man sich in neuen Situationen verhält, etwa in Sprechstunden bei den Professorinnen oder im Sprachstil.
Betroffene haben immer wieder das Gefühl: „Du gehörst hier eigentlich nicht hin. Das ist nicht deine Welt.“ Nicht selten haben sie das schon von ihrer eigenen Familie gehört. Die Quote der Studienabbrüche ist bei Nichtakademikerkindern entsprechend höher – und das kann nicht einfach mit fehlendem Potenzial erklärt werden.
Woran liegt es dann?
Der beginnende Erfolg fühlt sich oft nicht richtig an. Der Aufstieg wird vielmehr als kontinuierlicher Zustand des Verlusts empfunden. Auf der einen Seite kommt man nicht wirklich im neuen Milieu an – oder wird von diesem auch nicht wirklich angenommen. Auf der anderen Seite verliert man das vertraute Milieu und bisweilen die Sicherheit der eigenen Familie. Dieser Begriff der Entfremdung ist tatsächlich zentral für Aufsteigerbiografien. Es ist ein sehr schmerzhafter Prozess, wenn man sich von seiner eigenen Herkunft ablöst – und nicht alle wollen oder können ihn bis zum Ende durchziehen.
Wie läuft dieser Ablösungsprozess ab?
Zum einen werden sich die Menschen im Lauf ihres Aufstiegs selbst fremd. Das wurde in den Interviews, die ich geführt habe, immer sehr deutlich. Da saßen sehr erfolgreiche Menschen mittleren Alters, die mir von ihrem Leben, ihrer Kindheit und Jugend erzählt haben. Regelmäßig fingen die Männer und Frauen an, peinlich berührt zu lachen und sich sogar bei mir zu entschuldigen. Und zwar nicht, weil sie damals wirklich verrückte oder peinliche Sachen gemacht hätten, sondern schlicht aus sozialer Scham.
Viel schlimmer und belastender für Aufsteigerinnen und Aufsteiger ist aber oft, dass ihnen ihr Milieu und damit die eigene Familie fremd wird. Gemeinsame Vorlieben und Interessen schwinden, selbst die gemeinsame Sprache verschwindet zunehmend. Wenn es um dieses Thema ging, flossen in den Interviews häufig Tränen bei meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern.
Muss es denn immer zum Bruch kommen?
Nein. Es gibt beispielsweise den inklusiven Typus, den man sehr häufig bei Migrantinnen und Migranten findet. Diese Aufsteigerinnen brauchen sehr lange für ihre Karriere, weil sie ihre Familie unbedingt mitziehen wollen und diese dann quasi wie einen Ballast mit sich herumschleppen. Ebenfalls häufig bei dieser Personengruppe ist aber auch der gegenteilige Fall, nämlich dass das Band komplett reißt.
Gibt es tatsächlich einen Unterschied zu Aufsteigerinnen und Aufsteigern ohne Migrationshintergrund?
Ja, denn die Erwartung, dass Familien zusammenbleiben und eine Solidargemeinschaft formen, ist bei Migranten größer. Wenn der Aufstieg dann einen Entfremdungsprozess in Gang setzt, wird das Problem oft als größer wahrgenommen – auch wenn es faktisch genauso groß ist wie bei Familien ohne Migrationshintergrund. Dort finden wir häufiger den pragmatischen sowie den exklusiven Typus.
Ersterer fußt oft auf einer gewissen Kontinuität, weil der Bruch mit dem alten Milieu nicht so extrem ist oder man es fast gar nicht verlässt. Wenn der Vater Bergmann war, dann wird der Sohn eben ein Bergbauingenieur. Dann tragen beide einen Bauhelm und können sich beim Feierabendbier noch relativ problemlos über den Beruf unterhalten.
Und der exklusive Typus?
Er oder sie wiederum erfährt die krasseste Entfremdung, wertet das eigene Herkunftsmilieu und die Eltern sogar offensiv ab. Und während alle anderen Typen meist noch Jahre daran knabbern und sich auch die Entfremdung selbst vorwerfen, braucht der Exklusive seine Herkunft eigentlich nur noch als Kontrastmittel, um den eigenen Erfolg sichtbar zu machen.
Welche Rolle spielen denn die Eltern dabei?
Fakt ist: Der Aufstieg verändert so viel in einer Familie, dass die Beziehungen kaum noch aufrechterhalten werden können, wenn nicht alle Beteiligten bereit sind, sich in ihrem Rollenverständnis zu bewegen.
Es ist entscheidend, ob Mütter oder Väter tolerant auftreten oder dem Ausstieg der Kinder aus dem eigenen Milieu eher misstrauisch begegnen. Wenn sie bereit sind zu akzeptieren, dass ihre Kinder in die führende Rolle schlüpfen, dann kann das funktionieren.
Ein Professor, mit dem ich gesprochen habe, hatte beispielsweise jahrelang ertragen, dass seine Eltern überhaupt nicht verstanden, was er da eigentlich machte und was er mit seinem Aufstieg erreicht hatte. Dieses Unverständnis äußerte sich oft auch in latenter Abwertung seines Tuns: Wenn er beispielsweise Hausarbeiten korrigierte, hieß es bloß: „Wir dachten, du wärst endlich fertig mit dem Studium.“
Das änderte sich erst, als er seine Eltern zu einer Antrittsvorlesung mitnahm. Auch da flossen letztlich Tränen, weil es so etwas wie ein Augenöffner für die Eltern war. Er hatte dafür aber im Gegenzug in Kauf genommen, dass sein neues Umfeld von seiner Herkunft erfahren würde. Menschen, die schon in ein bildungsbürgerliches Milieu hineingeboren wurden, können sich oft nur schwer vorstellen, welche starken Schamgefühle für die Aufsteiger damit verbunden sind.
Sind sich die Männer und Frauen ihrer Prägung bewusst?
Spannend ist, dass die meisten gar nicht auf die Idee kommen, dass ihre biografischen Probleme an der Universität oder mit der Familie etwas mit ihrem Aufstieg zu tun haben könnten. In der Regel wird das einfach zu einem individuellen Versagen stilisiert: Man hat es eben nicht besser hingekriegt oder die Eltern sind einfach bescheuert. Das fand ich immer wieder schockierend.
Das hat damit zu tun, dass wir über solche Dynamiken und Begriffe wie Klasse, Milieu und Habitus in Deutschland viel zu wenig reden – das gilt übrigens auch für die Psychologie. Für die Betroffenen könnte es sehr entlastend sein, wenn sie wüssten, was da auf sie zukommt und womit dies zusammenhängt.
Aladin El-Mafaalani ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Zuletzt erschienen von ihm zu diesem Thema Mythos Bildung und Wozu Rassismus?.