Da singt er wieder!

Psychologie nach Zahlen: Fünf Gründe, warum es uns guttut, Vögeln zu lauschen und sie zu beobachten.

Ein Mann liegt entspannt in den Flügeln eines sehr großen Singvogels, der gerade zwitschert
Geborgen in den Schwingen der Vögel © Till Hafenbrak

Im 19. Jahrhundert fanden die Deutschen eine neue Freizeitbeschäftigung: Vogelbeobachtung. Das Vergnügen an den gefiederten Flugkünstlern schwapp­te aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten herüber. Doch es dauerte rund hundert Jahre, bis Fachleute der Psychologie und Medizin der Vogelwelt ihre Beachtung schenkten. In den 1970ern stellten sie die Vermutung auf, dass Vogelbeobachtung das Wohlbefinden fördern könnte. Mittlerweile haben Forschende gezeigt: Vögel zu beobachten und ihnen zu lauschen tut uns auf mindestens fünf Arten gut.

1 Entspannende Ablenkung

Die Teilnehmenden einer britischen Studie nannten insgesamt 186 verschiedene Naturgeräusche, die ihnen dabei helfen, ihren Alltagsstress abzubauen. „Vogelgesang und Vogelrufe waren die beiden Naturgeräusche, die am häufigsten mit der Erholung von Stress in Verbindung gebracht wurden“, berichten Eleanor Ratcliffe, Birgitta Gatersleben und Paul Sowden. Die Vogelstimmen wurden grundsätzlich als willkommene Ablenkung wahrgenommen. Sie lösten die Probandinnen und Probanden mühelos aus deren jeweiliger Alltagssituation und hielten deren Aufmerksamkeit fest, ohne sie zu überfordern. Insbesondere in städtischen oder bebauten Umgebungen schätzten die Freiwilligen den Effekt. Bestimmte Vogelarten und ihre Gesänge weckten außerdem positive Erinnerungen: Die Vögel erinnerten die Teilnehmenden unter anderem an das Zelten im Wald im Kindes- und Jugendalter. Allerdings waren die Vogelgeräusche nicht gleichermaßen populär. Das Krächzen der Elstern war bei den Befragten gar nicht beliebt.

2 Vielfalt fürs Wohlbefinden

Der Artenreichtum tut nicht nur der Natur gut: „Je mehr verschiedene Arten von Vögeln in einem Wohn­gebiet beheimatet sind, desto höher die Lebenszufriedenheit seiner Bewohner und Bewohnerinnen“, berichtet Joel Methorst mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Das ist der Tenor ihrer Untersuchung zur Lebensqualität, an der mehr als 26000 Erwachsene aus 26 europäischen Ländern teilnahmen. Die Fachleute schlussfolgern, dass der Naturschutz und der Erhalt der Artenvielfalt eine wertvolle Investition in das menschliche Wohlbefinden seien. Eine frühere Studie war bereits zu einem ähnlichen Schluss gekommen: Die Forschenden um Richard Fuller hatten gezeigt, dass das psychische Wohlbefinden mit dem Artenreichtum städtischer Grünflächen zunimmt, auch und besonders jenem der Vögel. „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Schwerpunkt eines erfolgreichen Managements von städtischen Grünflächen auf biologischer Diversität beruhen sollte“, so Fuller und sein Team.

3 Gegen Ängste und Depressionen

Vogelgesang kann Gefühle der Ängstlichkeit lindern und depressive Gedanken ein Stück weit unterbinden, so das Fazit einer Studie von Daniel Cox und seinem Team. Das sei sowohl der Fall, wenn Freiwillige bewusst die Natur aufsuchten und Vögel beobachteten, als auch bei zufälligen Begegnungen – etwa bei einem Spaziergang oder im Garten. An der Untersuchung von Cox’ Team nahmen rund 260 Personen unterschiedlichen Alters, Einkommens und ethnischer Zugehörigkeit teil. Jene Probanden und Probandinnen, die in den Tagen vor ihrer Teilnahme an der Studie weniger Zeit als üblich im Freien verbracht und somit weniger Gelegenheit gehabt hatten, sich an den Gesängen und Flugkünsten der Vögel zu erfreuen, gaben mit größerer Wahrscheinlichkeit an, sich nervös und niedergeschlagen zu fühlen. Wieder mahnen die Forschenden mehr Grünflächen im urbanen Raum an. Als ein nahezu universeller Teil der menschlichen Erfahrung seien der Gesang und die Flugkünste von Vögeln ein schlichtes und doch wirksames Mittel, die psychische Gesundheit zu fördern.

4 Fokussierung und Faszination

Wer regelmäßig Zeit in der Natur verbringt, kann seine Aufmerksamkeit regenerieren und seine Konzentrationsfähigkeit fördern. Diese Beobachtung hat sich in den Vereinigten Staaten als die „Theorie von der Wiederherstellung der Aufmerksamkeit“ (attention restoration theory) etabliert und geht auf das amerikanische Umweltpsychologenpaar Rachel und Stephen Kaplan zurück. Die Vogelwelt trage zu dieser Regeneration und Erholung bei – nicht zuletzt indem die Beobachtung der kleinen Flugakrobaten sogenannte sanfte Faszination auf den Menschen ausübe: Die Vögel ziehen Aufmerk­samkeit auf sich, ohne uns Anstrengung abzuverlangen, und bringen gleichzeitig Freude durch ihre Ästhetik und Eleganz. Damit geben sie uns einerseits die Möglichkeit der Reflexion: Der Mensch wird in die Stimmung versetzt, in sich selbst hineinzuhorchen und seine Gefühle zu sondieren. Andererseits ermöglicht die Vogelbeobachtung einen sachten Leerlauf: Man kann gedankenverloren den schönen Bewegungen und Gesängen der Tiere folgen, ohne in tiefere Sinnsuche einzutauchen. Beide Vorgänge lindern geistige Erschöpfung und spenden neue Energie.

5 Geteilte Freude

Der Vogelbeobachtung allein für sich nachzugehen vergleicht der international renommierte Ornithologe Christopher Leahy mit Meditation. Gleichzeitig betont er aber auch die Vorteile des Vogelguckens mit Gleichgesinnten: „Die eigene Leidenschaft mit anderen Vogelkundlern und Vogekundlerinnen zu teilen kann zusätzlich eine positive Wirkung entfalten“, so Leahy. Psychologische wie medizinische Untersuchungen geben ihm recht. So hat eine vielzitierte amerikanisch-chinesische Studie gezeigt: Eine starke Einbindung in eine Gemeinschaft und sozialer Zusammenhalt senken den Blutdruck und die Anzahl von Entzündungsherden im Körper. Damit fördern sie die Langlebigkeit und das psychische Wohl. So arbeiten mittlerweile einige Krankenhäuser in den USA und Großbritannien mit Naturschutzorganisationen zusammen, um das therapeutische Potenzial der Vogelbeobachtung zu nutzen. Hierzulande stellen unter anderem Pflegeeinrichtungen in Bayern mithilfe kleiner Vogelfutterstationen eine strategische Nähe zwischen Mensch und Singkehlchen her.

In Deutschland leben über 300 Vogelarten, wobei aktuell mehr als 30 vom Aussterben bedroht sind. Auch wenn die Sichtbarkeit der Vogelwelt gerade in großen Städten begrenzt sein mag, machen ihre Gesänge und Rufe es uns einfacher, ihnen zu folgen – und laden uns ein, eine kleine Pause vom Alltag zu nehmen.

Zum Weiterlesen

Psychologie Heute compact, Nr. 54: Natur & Psyche

Literatur

Daniel Cox u.a.: Doses of Neighborhood Nature: The Benefits for Mental Health of Living with Nature. BioScience, 67/2, 2017, 147–155, https://doi.org/10.1093/biosci/biw173

Richard Fuller u.a.: Psychological benefits of greenspace increase with biodiversity. Biology Letters, 3, 2007, 390–394, doi:10.1098/rsbl.2007.0149

Joel Methorst u.a.: The importance of species diversity for human well-being in Europe. Ecological Economics, 181, 2021, https://doi.org/10.1016/j.ecolecon.2020.106917

Eleanor Ratcliffe, Birgitta Gatersleben, Paul Sowden: Bird sounds and their contributions to perceived attention restoration and stress recovery, Journal of Environmental Psychology, 36, 2013, 221e228, http://dx.doi.org/10.1016/j.jenvp.2013.08.004

Rebecca Daniel: The Effects of the Natural Environment on Attention Restoration, 2014, https://libres.uncg.edu/ir/asu/f/Daniel,%20Rebecca_2014_Thesis.pdf

Rachel Kaplan, Stephen Kaplan: Experience of Nature. Cambridge University Press, 1989

Christopher Leahy: Birdpedia: A Brief Compendium of Avian Lore. Princeton University Press, 2021.

Yang Claire Yang et al.: Social relationships and physiological determinants of longevity across the human life span, https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.1511085112

Psychologie Heute compact, Nr. 54: Natur & Psyche

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