Der übliche Größenwahn

Ein Interview mit dem Therapeuten Theodor Itten über Politiker und Manager, die sich für die Größten halten

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Herr Itten, Sie haben 2016 ein Buch über Größenwahn veröffentlicht. Kurz danach kam Donald Trump an die Macht. Haben Sie etwas von diesem Politiker geahnt, als Sie Ihr Buch schrieben?

Nein, aber plötzlich war er da, der größenwahnsinnige Trump. Als er eingezogen ist ins Weiße Haus, gab es einen Cartoon, auf dem sieht man, wie Arbeiter versuchen, ein Porträt von ihm durch die Tür zu bringen. Es ist zu groß, es passt nicht durch.

Alles an seiner Person und seinem Handeln hält Herr Trump für das…

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Es ist zu groß, es passt nicht durch.

Alles an seiner Person und seinem Handeln hält Herr Trump für das Größte ...

Ja, groß, größer, größenwahnsinnig. Aber er ist nicht der einzige. Kim Jong-un, Erdoğan, Putin – sie alle plustern sich auf. Das sind Leute an den Schalthebeln der Macht, die den von ihnen Regierten eine auf ihre Deutungshoheit reduzierte Sicht der globalen Realität aufzwingen. Ein leider hochaktuelles Thema.

Aber ist der Größenwahn nicht ein Thema vermutlich aller Zeiten?

Doch, da haben Sie recht. Schauen Sie auf die Studien der Anthropologin Ruth Benedict mit den Kwakiutl-Indianern am nordwestlichen Pazifik. Schon diese Ureinwohner hatten die Eigenart, sich gegenseitig zu übertrumpfen, indem sie sich selbst überhöhten. Das Phänomen scheint also ewig, auf der individuellen wie der kollektiven Ebene. Und wir als Spezies Mensch leiden am ultimativen kollektiven Größenwahn, der die anderen Lebewesen von der Erde verdrängt.

Das klingt arg pessimistisch.

Mag sein. Sehen Sie: Wenn wir in unserem Größenwahn glauben, wir könnten die seit dem industriellen Zeitalter begonnene Zerstörung unserer Lebensgrundlage noch stoppen, reicht es zu bedenken, dass seit 1970 allein in Großbritannien über die Hälfte der dort noch verbliebenen Wildtiere durch menschliches Handeln umgebracht wurde. Seit Jahrzehnten können wir beobachten, in welcher selbstzerstörerischen Gefahr wir als Spezies schweben. Das Endspiel ist frei nach Beckett längst angepfiffen. Unser Verschwinden von dieser Erde ist nicht aufzuhalten. Der berühmte Physiker Stephen Hawking sieht das nicht anders. Trotzdem glauben die meisten Leute: Es wird schon irgendwie weitergehen. Das ist für mich der verheerendste Größenwahn.

Kann Größenwahn nicht auch richtig cool sein?

Ja sicher. Zum Beispiel die Besetzung der Berliner Volksbühne in Berlin vor ein paar Monaten – das war doch cool, oder? Die jungen Leute haben einfach gedacht, sie könnten sich durchsetzen und zwei Jahre lang provisorische Intendanz machen. Jugendunruhen sind sehr wagemutig. So etwas braucht eine Prise Größenwahn.

Größenwahn hat also nicht nur eine böse Seite?

Aber nein. Bis zu einem bestimmten Alter müssen wir Großes wähnen, sonst kämen wir nicht weiter. Um realistisch zu sein, müssen wir das Unmögliche probieren. Da steckt gesunder Größenwahn dahinter. Unbedingt. Jede Jugendbewegung, die ich erlebt, betrachtet oder über die ich gelesen habe, kämpft für ihre begeisterungsbefähigenden Freiräume. Darin entsteht das gesuchte, Wohlbehagen schenkende Gefühl, kollektiv singulär zu sein. Das kollektive Interesse einer jeweiligen Jugendbewegung deckt sich oft mit dem genussreichen Eigeninteresse der Aktivisten und Aktivistinnen.

Was bewirkt der Größenwahn in dieser Lebensspanne?

Unheimliche Energie. Visionen zu haben, Vorstellungen zu haben, wie wir die Welt verändern können. Der Größenwahn wird im Kunstwerk des eigenen Lebens als stärkende seelische Kraft der Entdeckungs- und Eroberungslust mobilisiert und ermöglicht, den eigenen Traum zu leben. Im jugendlichen Größenwahn steckt eine Lebenskraft, die sich über den allgegenwärtigen Konformitätsdruck hinwegimaginiert. Die grüne Bewegung ist sicher mit der Hoffnung entstanden, dass wir das Endspiel noch ändern können. Dann die Kreativität in der Kultur, in der Musik, im Film. Der Größenwahn befördert neue Möglichkeiten: innovative technische Entwicklungen, Synthesizer, Computer, ganz wunderbare Sachen. Aber irgendwann hört es ja auf. Dann sehen wir realistisch, was wir sind und was wir können, etwa zwischen 28 und 32 Jahren. Dann müssen wir erkennen und akzeptieren, in welcher Liga wir mit unserer psychosozialen Identität spielen. Gleichzeitig ist es wichtig und erwachsen, die eigenen Grenzen zu akzeptieren.

Der Größenwahnsinnige als Revolutionär oder Revoluzzer? Wie Steve Jobs, der Erfinder des Smartphones?

Genau. Der wurde bezeichnenderweise auch iGod genannt. Jobs ging immer auf Distanz zum Gegebenen, wurde so kontaktlos und hat sich im Schutzpanzer von Gefühllosigkeit, Despotie und Gewissenlosigkeit erfolgreich versteckt und gezeigt, wie großartig ein Erfolgswahn sein kann. Der Häuptling braucht einen Stamm, der mitmacht und mitschafft. Im sozialen Leben war er hohl und leer. Jobs erschütterte mit seiner absoluten, größenwahnsinnigen Selbstsicherheit eine ganze Branche.

Das klingt ja fast bewundernd.

Nicht wirklich, die jugendlich daherkommenden und scheinbar wirtschaftlich innovativen Technorebellen wie Jeff Bezos von Amazon oder Elon Musk von Tesla gehen gar nicht achtsam mit sich und anderen um. Die geben sich größenwahnsinnig als Weltverbesserer aus, setzen aber gezielt Aggressionen ein, um aus den Mitarbeitenden die absolute Gewinnmaximierung herauszupressen.

Manager scheinen Sie generell zu reizen. An den Topleuten der deutschen Autoindustrie lassen Sie kein gutes Haar, und Banker scheinen auch nicht Ihre besten Freunde zu sein.

Schon 2001 haben die Soziologen Erwin und Ute Scheuch gewarnt, dass Manager im Größenwahn sehr viel gefährlicher für Volkswirtschaften sind als landläufig angenommen. Oft werden nichtinstitutionelle Investoren und Nationalstaaten dadurch systematisch geplündert. Die Superbluffs haben seit den 1990er Jahren massiv zugenommen. Manager bewegen sich in Gruppen, in denen sich der Größenwahn gegenseitig hochschaukelt. Das individuelle Phänomen des Größenwahns wird durch die Ingroup, die eigene Gruppe befeuert.

Warum erliegen Manager dem Größenwahn?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Wenn jemand eine Stufe zu hoch befördert wurde und sich unsicher fühlt, muss er riesige Anstrengungen und Täuschungsmanöver unternehmen, damit diese Überforderung nicht erkannt wird. Das sind meist jene Manager, die in Unternehmen alles umstellen und neu aufstellen. Aber auch Überheblichkeit und die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten treibt Manager in den Größenwahn. Sie wissen nicht, in welcher Liga das Leben für sie stimmiger wäre. Und sie haben oft das Gefühl, sie müssten weiterkommen, als sie gekommen sind.

Wann kippt das Ganze?

Wenn die Grenze des Kontrollierbaren überschritten wird. Aber auch wenn ich nicht die Fähigkeit habe, auf andere Menschen zu hören, oder wenn man nicht einsieht, dass es an einem bestimmten Punkt nicht weitergeht.

Was ist das eigentlich genau, Größenwahn?

In der leichten Form ist es einfach ein Schutz gegen meine Minderwertigkeitskomplexe. Ich habe das Gefühl, ich bin nicht gut genug. Dann versuche ich, mich größer zu wähnen, als ich bin, um mir etwas vorzuspielen. So entsteht ein falsches Selbstbild. Die mittleren und schweren Formen gehen über alle Stufen des Wahns, vom leicht Möglichen zum gerade noch Denkbaren – bis hin zur Idee, unmögliche Ideen zu realisieren oder göttliche Eigenschaften entwickeln zu können. Das krankhafte Lügen gehört dazu. Die Basis ist das eigene Streben, die Mitmenschen durch die eigenen ins Maßlose übersteigerten Leistungen zu übertreffen. Der oder die Größenwahnsinnige ist in der Phase seines oder ihres Wahns der Mittelpunkt der Welt.

Wir haben es also mit einem Realitätsverlust zu tun. Wie unterscheidet sich der Größenwahn vom Narzissmus?

Jeder Größenwahnsinnige ist auch ein Narzisst, aber nicht jeder Narzisst ein Größenwahnsinniger. Narzissmus ist ein wichtiger Teil des Größenwahns. Sprich: Diese Leute sind egomanisch, fühlen keine Empathie, sind selbst aber hochempfindlich und sofort beleidigt, wenn man sie kritisiert, und suchen immer woanders die Schuld. Für mich jedoch braucht es für den Größenwahn zusätzlich, dass man glaubt, wirklich der oder die Größte zu sein, und dass man sich wirklich durchsetzen und falls nötig bis zum Äußersten gehen will.

Wie entsteht Größenwahn, kommt man damit schon auf die Welt?

Nein, Größenwahn entwickelt sich aufgrund der Lebenserfahrungen, vor allem in der Kindheit. Es gibt bestimmte begünstigende Umstände. Ein Risikofaktor ist, wenn ich zu Hause nicht in der richtigen Weise von den Eltern gespiegelt werde. Wenn entweder alles, was ich als Kind auf Papier kritzele, schon ein halber Picasso ist: „Ach Kind, du bist ein kleiner Gott, eine kleine Göttin, ganz sicher ein Genie!“ Oder das Gegenteil, wenn alles, was ein Kind tut, nicht gut genug ist. Um mit dieser seelischen Verunsicherung zurechtzukommen und Anerkennung und Zuneigung zu erhalten, verfallen Kinder dann in größenwahnsinnige Verhaltensweisen. Dagegen entwickeln Kinder später keinen Größenwahn, die realistisch gesehen und gut gespiegelt werden in der Realität. Mit einer klaren Spiegelung geben Eltern ihren Kindern eine wärmende Zuneigung, die auf wirklichkeitsbezogener Wertschätzung basiert. Kinder werden geliebt für das, was sie sind, und nicht für das, was sie tun.

Gibt es weitere Risikofaktoren?

Ja, zum Beispiel Standesdünkel in Familien höherer sozialer Schichten, genau wie das Geschlecht – männlich – und die Körpergröße dieser Herren, gerade bei Politikern.

Ist das Ihr Ernst? Das alte Klischee des kleinen Mannes, der sich groß machen muss? Der Napoleonkomplex aus der Küchenpsychologie? Herr Trump ist fast 1,90 Meter groß.

Es gibt ja, wie eben beschrieben, auch andere Gründe, in den Größenwahn zu verfallen. Aber auffallend ist jedenfalls, wie viele prominent gewordene ruchlose männliche Politiker eher kleinwüchsig sind oder waren, von 1,50 bis 1,74 Meter: Lenin, Chruschtschow, Deng Xiaoping, Kim Jong-il, Putin. Viele – natürlich nicht alle – Politiker, die klein sind, rutschen in den Größenwahn. Es gibt dazu eine ernst zu nehmende Studie. Danach ist der Größenwahn ein kompensatorisches Muster, das starke politische Auswirkungen hat. Das hat etwas mit Benachteiligungen zu tun, die in der Kindheit erlebt werden.

Gibt es Politiker ohne Größenwahn?

In meinen Augen nicht. Politiker ohne Größenwahn sind selten. Es ist abnormal, in der Politik keinen zu haben. Die Frage ist nur, wie weit er ausgeprägt ist. Zu viele Politiker sind in ihrem Größenwahn verfangen und machen lediglich noch Symbolpolitik und Selbstabsicherung. Lange dachte ich, wenn eine Politikerin keinen Größenwahn hat, dann Bundeskanzlerin Merkel, doch ich bin mir da nicht mehr sicher, seit sie qua ihres Amtes indirekt dazu aufgefordert hat, ihre Flüchtlingspolitik nicht kritisch infrage zu stellen, und behauptet hat, nichts falsch gemacht zu haben.

Ist gegen die Neigung zum Größenwahn ein Kraut gewachsen? Kann man ihn wieder verlernen?

Bei den harten Fällen ist es leider so, wie der berühmte Psychoanalytiker Otto Kernberg es ausdrückte: „Wirklich antisoziale Persönlichkeiten können wir nicht behandeln. Das ist ein Unheil.“ Das gestörte soziale Verhalten der Personen, das oft mit einer inneren Wahnvorstellung einhergeht, wird häufig von den Menschen bestätigt, die mit ihrem angepassten, einvernehmlichen Verhalten das soziale Umfeld jener Personen ausmachen. Viele Manager und größenwahnsinnige Politiker sammeln nur noch Abnicker um sich herum. Da ist überhaupt kein Korrektiv mehr da. Das verlockt die Person im Größenwahn, unbedingt weiterhin Glaubensgehorsam zu fordern. Persönlichkeitsgestörte größenwahnsinnige Personen strahlen eine zerstörerische Tatkraft und Handlungsbereitschaft aus, die die Personen in ihrem Umfeld meist mit zerstört. Es ist aus der Geschichte bekannt, dass größenwahnsinnige Psycho- und Soziopathen in ihrem Verfolgungswahn im Falle eines Scheiterns am liebsten alle um sie herum mit in den tödlichen Abgrund ziehen.

Und bei den leichten bis mittelschweren Fällen?

Psychotherapie kann zumindest ein Stück weit helfen, wenn Größenwahnsinnige erkennen, wie tief ihre Lebenslüge ist und wie tief sie im Sumpf stecken. Ich erinnere gerne daran, dass Könige früher einen Hofnarr hatten. So sehe ich mich als Psychotherapeut bei meinen größenwahnsinnigen Patienten auch manchmal: als Hofnarr, der ihnen als einziger wirklich sagen kann und darf, wie es steht. Ein Geschenk ist auch eine mutige Familie oder ein mutiger Freund, der sagt: „Junge, du bist aufgeblasen, und du hast doch mehr drauf als das.“ Das kann Größenwahn in manchen Fällen zumindest einigermaßen im Zaum halten.

Theodor Itten, geboren 1952, arbeitet als Psychotherapeut in St. Gallen und Hamburg. Er war von 2008 bis 2011 Präsident der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. 2016 erschien sein Buch Größenwahn. Ursachen und Folgen der Selbstüberschätzung (Orell Füssli, Zürich).

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2018: Die Stärke der Stillen