Mutter-Tochter-Beziehung: Die Nähe der Distanz

Therapiestunde: Eine 38-jährige Patientin kriecht in einer Lebenskrise zu ihrer Mutter ins Bett – und möchte ihre Beziehung zu Männern klären.

Die Illustration zeigt eine Frau, die vor einem Haus steht, das eingesperrt in einem Käfig ist
Hinter ihrer Zwanghaftigkeit verbarg eine Patientin ihre Traurigkeit über den Verlust eines emotionalen Zuhauses. © Michel Streich für Psychologie Heute

Alma wurde mir von ihrer Schwester therapeutisch „ans Herz gelegt“. Diese hatte ich im Laufe einer längeren Therapie wegen einer generalisierten Angststörung behandelt. Ich war also schon ein wenig in die spezielle Familiendynamik eingeweiht. Über mehrere Generationen ließ sich zum einen eine Neigung zu Depressionen konstatieren, zwei vollendete Suizide gab es in der Großeltern- und der Urgroßelterngeneration, zum anderen fanden sich zahlreiche Beispiele von Zwangsstörungen in der Familie. Die Schwester…

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zum anderen fanden sich zahlreiche Beispiele von Zwangsstörungen in der Familie. Die Schwester machte sich Sorgen, dass Alma überhaupt nicht mehr loslassen könne, sondern alles tausendfach durchdenke und kontrolliere.

Zum Erstgespräch trat eine gepflegte, hübsche 38-jährige Patientin in das Therapiezimmer. Wie sich im Verlauf der Therapie herausstellte, hatte in der kleinen körperlichen Gestalt nicht nur Zerbrechlichkeit, sondern auch ein eisenharter Wille sein Zuhause gefunden. So lehnte Alma eine medikamentöse Unterstützung ab. Ein „reines Leben“ ohne Chemie sei ihr Ideal.

In ihrer emotionalen Verlorenheit beistehen

Sie wolle ihre Beziehung zu verschiedenen Männern klären. Ich solle ihr helfen herauszufinden, was sie so auf das Nachdenken über diese mediokren Gestalten fixiere. Eine frühere Beziehung sei durch eine Affäre des Mannes zerbrochen. Der Jetzige sei ein Schwerst­alkoholiker, der sie aber durch seinen Charme immer wieder zum Lachen bringe. Dies sei Gold wert, hole er sie doch raus aus ihrer Welt und gebe ihr das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Alma konnte ausgiebig über Details ihrer Begegnung mit ihm berichten, allerdings nicht, welche Gefühle das in ihr auslöste. Zu tief vergraben war der unmittelbare Zugang zu allen Affekten.

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Während der ersten Phase der Therapie ging es mir wesentlich darum, einen Zugang zu Alma zu finden, sie in ihrer emotionalen Verlorenheit nicht allein zu lassen und zu signalisieren, dass sie sich nicht für verrückt erklären müsse, sondern dass Vieles von dem, was sie erzählte, nachvollziehbar sei. Ihr Denk- und Verarbeitungsstil war dabei konkretistisch – typisch für Menschen mit Zwangsstörungen –, so dass sie wenig die großen Themen hinter den einzelnen seelischen Erscheinungen zuordnen und dann abstrahieren konnte. Dabei war sie weit überdurchschnittlich intelligent und – gerade was ihre mathematischen Fähigkeiten anbetraf – hochbegabt.

Dies war wohl die Grundlage für ihren Erfolg als selbständige Geschäftsfrau. Alma begann zu begreifen, dass ihr Verehrer, besonders in betrunkenem Zustand, einfach etwas hatte, das sie selbst bitter entbehrte, nämlich Spontaneität und eine Unmittelbarkeit der Kontaktaufnahme. Außerdem brachte er ihr nahe, dass nichts auf dieser Welt wirklich rein und ambivalenzfrei zu haben sei. Der Schmutz gehört zum Leben einfach dazu, wenn man ein wenig Spaß haben will. Die „anale Trias“ – Sauberkeit, Geiz und Ordnungsliebe – lag bei ihr durchaus vor, wobei der Geiz sich nur auf ihre Gefühle bezog, finanziell war sie sehr freigiebig, die beiden anderen Kriterien waren augenfällig ausgeprägt vorhanden.

Verlust der inneren Abwehr

Alma war in heller Aufregung, als wir uns nach etwas zeitlichem Abstand online wieder trafen. Ein anderer Mann, K., mit dem sie seit 15 Jahren ein ungeklärtes Verhältnis hatte, war ins Gefängnis gesperrt worden. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe waren finanzieller Natur. K. war aus reichem Hause und die (Steuer?-)Summen, um die es ging, waren sieben- bis achtstellig. Nach einer Enttäuschung hatte sie ihn vor etwa acht Jahren wieder auf Abstand geschoben, ihn nicht mehr richtig an sich rangelassen. Wobei Abstand Almas Grundverfasstheit mit Menschen war.

Auch in der Therapie war sie eine Spezialistin darin, sich emotional nicht erreichen zu lassen. Was immer ich probierte, sie wand sich intellektualisierend – ganz über das Denken und Gefühle vermeidend – heraus. Jetzt war er im Gefängnis und ihre lebenslang geübte Abwehr brach zusammen. Wie ein depressives Kind hörte sie auf zu essen, war durchgeschüttelt von Furcht und sann nur darüber nach, wie sie K. aus dem Gefängnis bekommen könne. In ihrer Verzweiflung tat sie etwas, das ihr seit ihrer Kindheit fremd gewesen war: Mit 38 Jahren kroch sie zum Schlafen wieder in das Bett zu ihrer Mutter.

Die lebensfrohe Tante als zweite Mutter

Dieses seltsame Verhalten erregte meine Neugier. Ich fragte sie, wie es zu so einem Verhältnis zu ihrer Mutter gekommen sei. Sie hielt inne. Schon lange sei zwischen ihr und der Mutter ein Abgrund, eine tote Nicht-Nähe. Ich forderte sie auf, am biografischen Zeitstrahl langsam rückwärtszuschreiten, um zum Quellpunkt dieser Distanz zu gelangen. Die Abständigkeit war durch den Verlust von K. an das Gefängnis umgeschlagen in Sehnsucht, ein bei ihr abgrundtief verschüttetes Gefühl, bekanntermaßen „die Nähe der Ferne der Nähe“.

In dieser Sehnsucht wachte etwas Altes, Verdrängtes in ihr auf. Deshalb die inneren Stürme und das Zurückfallen in ihr Kind-Ich, was ihr aber auch die Chance gab, dieses Verlorene doch noch abzuholen. Ihre Zeitreise endete im Schock. Sie erinnerte sich, dass es in ihrem Leben ein Davor und Danach gegeben hatte:

In der Straße lebte gegenüber dem elterlichen Wohnhaus die Tante. Diese war wie eine zweite Mutter für sie, mit der sie viel mehr Zeit verbrachte als mit der überbeschäftigten kinderreichen Mutter. Ihre Tante war „fun“, ausgelassen, chaotisch und spontan. Man ging zusammen reiten, lachte viel über jeden noch so harmlosen Schabernack. In den Augen der Eltern führte die Tante ein lästerliches Leben. Die Mutter war tugendhaft, und als die Tante, kein Kind von Traurigkeit, anfing, Alkohol und vielleicht auch anderes Psychoaktives zu konsumieren, sah man Alma in Gefahr.

So kam es zu dem Verdikt, das Almas Leben verändern sollte. Ohne Erklärung, ohne Abschied wurde ihr der weitere Umgang komplett verboten. Sie durfte nicht mehr über die Straße zu ihr gehen – die Tante war zur Unperson deklariert worden.

So zog sich Alma im Alter von acht Jahren immer tiefer in ihr Schneckenhaus zurück. Mit niemandem konnte sie über ihren Kummer, ihren Verlust und ihren Zorn reden. Sie fing an, exzessiv zu denken, wurde in der Schule zu einer Perfektionistin und vergrub sich in Grübeleien über eine vermeintliche Schuld. Sie lernte, ihr Gemüt abzukühlen, so dass es ihr keinen Kummer mehr bereitete. Auf dieser Schicht von Kälte funktionierte sie erstaunlich gut, wurde eine hervorragende Schülerin und Studentin, später eine Geschäftsfrau, die ihr Vermögen mehrte.

Bedürftigkeit zulassen, Beziehungen heilen

Jetzt war sie eingebrochen. Die Kälteschicht hatte nachgegeben und sie wieder in die alte Verlassenheit fallen lassen. Eigentlich gefiel sie mir so viel besser, lebendiger, spontaner und vor allem ohne die Abspaltung aller Bedürftigkeit. Am Ende sind es die Bedürfnisse, die uns zueinander bringen. Die Sitzungen gewannen an Impact und verflogen wie im Sturm. Je mehr wir uns dem Thema des Verlustes der Tante widmeten, desto mehr rückte der Gefängnisaufenthalt von K. in den Hin­tergrund. Ich schlug vor, dass sie sowohl mit der Mutter als auch der Tante ein Gespräch über diesen dunklen Teil ihrer Kindheit suchen solle.

In einer hochemotionalen Auseinandersetzung konfrontierte sie die Mutter, die klug genug war, die Wut ihres erwachsenen Kindes ernst zu nehmen. Es kam dadurch zu einer erstaunlichen Wiederannäherung und einer Heilung der Beziehung. Damit einher ging eine wohltuende Aufweichung von Almas Verpanzerung, der Zwanghaftigkeit.

Und die Tante? Alma nahm nach nun mehr als zwei Dekaden Kontakt auf. Und fand sie auf der „Zielgeraden“ einer schweren Krebserkrankung. Ein letzter Chemotherapieversuch stand noch bevor. Selbst das digitale Kontaktmedium konnte die Tränenflut auf beiden Seiten nicht stoppen. Ich ermutigte Alma, zu einem letzten „Hello and goodbye“, das so lange in beider Leben gefehlt hatte, zu ihr zu reisen. Alma versprach, sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen.

Burkhard Hofmann arbeitet seit 1991 als Facharzt für psychotherapeutische Medizin in eigener Praxis in Hamburg. 2018 erschien sein Buch Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele bei Droemer Knaur

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein