Kein Leben ohne Enttäuschungen

Ein Gespräch mit dem Philosophen und Jesuiten Michael Bordt über die Fähigkeit, gestärkt aus Enttäuschungen hervorzugehen

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Herr Bordt, in Ihrem Buch Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen erkunden Sie das Thema Enttäuschung aus unterschiedlichen Blickwinkeln und beginnen mit dem unangenehmen Gefühl, selbst enttäuscht zu werden. Von anderen, vom Leben, von sich selbst. Was interessiert Sie daran?

Enttäuschungen sind eine gute Gelegenheit, sich selbst besser kennenzulernen. Natürlich ist es angenehmer, nicht enttäuscht zu werden. Aber es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Denn bei jeder Enttäuschung stoßen wir auf den Kern der…

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werden. Aber es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Denn bei jeder Enttäuschung stoßen wir auf den Kern der Realität. Eine Enttäuschung ist wie eine plötzliche Tiefenbohrung in Schichten unserer Seele, die uns im Alltagsbewusstsein oft nicht zugänglich sind. Wir erfahren dadurch etwas Wesentliches über uns. Immer wenn wir enttäuscht werden, können wir sicher sein, dass unsere Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte auf den harten Fels der Realität geprallt sind. In diesem Augenblick sehen wir klar, wie andere Menschen, Situationen oder wir selbst wirklich sind. Eine Ent-Täuschung ist auch eine Befreiung von einer Täuschung, einer Illusion, in der wir gefangen waren.

Was können wir dadurch über uns lernen?

Wenn wir von uns selbst enttäuscht sind, erkennen wir, dass wir nicht so souverän, klug, leistungsstark oder großzügig sind, wie wir gedacht haben. Im besten Fall kann das dazu führen, dass wir das Ideal, mit dem wir herumlaufen, der Realität anpassen. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen unter einem enormen Druck stehen, überzogenen Vorstellungen von sich selbst entsprechen zu müssen, und furchtbar enttäuscht sind, wenn sie diesen Idealbildern nicht genügen. Ich halte es für wichtig, aus Enttäuschungen heilsame Schlüsse zu ziehen, also nicht sich selbst abzuwerten und zu bestrafen. Konstruktiver ist es, die Enttäuschung zum Anlass zu nehmen, das eigene Ideal kritisch zu hinterfragen.

Aber sind Ideale nicht auch Leuchttürme, die uns helfen, uns zu entwickeln?

Natürlich. Als Menschen leben wir immer in der Spannung zwischen dem, wie wir sind mit all unseren Macken, und dem, wie wir gerne wären. Diese Spannung ist durchaus fruchtbar und wichtig. Wir sollten nicht zu früh resignieren und sagen: So bin ich halt, und ich will mich auch nicht mehr ändern. Ideale können uns positiv herausfordern, aber sie sollten zu uns und unseren tatsächlichen Möglichkeiten passen. Nur dann sind sie ein Ansporn. Oft übernehmen Menschen jedoch Ideale, die durch gesellschaftlichen Druck entstehen, oder Wünsche, die andere in sie hineinprojizieren. Es gibt klare Idealbilder, was für eine Figur man haben und wie erfolgreich man sein soll. Und natürlich muss man ein toller Vater, eine tolle Mutter sein, außerdem leistungsstark, intelligent, empathisch, gelassen.

Glücklich, nicht zu vergessen …

Durch die Ratgeberliteratur entsteht der Eindruck, wenn ich es nur richtig mache, dann müsste es mir die ganze Zeit gutgehen. Wenn ich nicht ständig in Hochform durch den Tag schwebe, mache ich offensichtlich etwas falsch. Das ist eine enorme Belastung und natürlich völlig unrealistisch. Enttäuschung ist programmiert.

Auch Eltern haben oft sehr konkrete Vorstellungen, wie ihre Kinder sein und was für ein Leben sie führen müssten.

Ich halte es für wichtig, sich darüber klarzuwerden, welche Botschaften von den Eltern kommen, und sich zu fragen: Passt die Erwartung, zu heiraten und Kinder zu bekommen, zu mir? Passt es zu mir, Medizin zu studieren, Arzt zu werden und die Praxis meines Vaters zu übernehmen? Wenn ja, mache ich die elterliche Botschaft zu einem Teil von mir und identifiziere mich damit. Es muss nicht zu Spannungen führen, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen, solange sie zu den eigenen Bedürfnissen und Wertvorstellungen passen. Kritisch wird es, wenn man anders leben möchte, weil es einen unglücklich machen würde, den elterlichen Auftrag zu erfüllen. Dann braucht es Mut, den eigenen Weg zu gehen und die Eltern zu enttäuschen. Ich selbst bin auf die Frage, welches Leben zu mir passt, gestoßen, als ich mich mit 28 Jahren entschieden habe, in den Jesuitenorden einzutreten. In meinem zweijährigen Noviziat habe ich viel meditiert und mich mit der Frage auseinandergesetzt, warum ich so etwas Exotisches machen will. Zu reflektieren, welche Botschaften man aus dem Elternhaus mitbekommen hat und wie sie die Berufswahl und den Lebensstil beeinflussen, halte ich für einen wichtigen Prozess. Nicht nur für Menschen, die in einen Orden eintreten.

In Ihrem Institut für Philosophie und Leadership beraten Sie Söhne und Töchter, die die Firma ihrer Eltern übernehmen sollen oder wollen. Welche Fragen, die Sie selbst als hilfreich erlebt haben, stellen Sie ihnen?

Es klingt vielleicht banal, aber ich halte die Frage „Was will ich eigentlich mit meinem Leben?“ für essenziell. In einem Workshop für Unternehmerkinder, die alle schon um die 40 waren und den elterlichen Betrieb übernommen hatten, habe ich die Frage aufgeworfen und festgestellt, dass sie für manche ein Tabu war. Es war ihnen nicht möglich, diese Frage an sich herankommen zu lassen. Zu groß war die Angst, dass die Antwort möglicherweise lauten könnte: Ich will etwas ganz anderes mit meinem Leben, ich will den Betrieb nicht leiten.

Sie arbeiten auch mit jungen Start-up-Gründern und ermuntern sie, ihre Motive kritisch zu hinterfragen. Warum?

Die Intensität, mit der einige Start-upler Tag und Nacht mit ihren besten Freunden an ihrem Unternehmen arbeiten, ist einerseits faszinierend, andererseits liegt darin auch eine Gefahr. Manche benutzen das Unternehmen als eine Art Familienersatz und suchen in der Unternehmensgründung etwas, das auf Dauer nicht bestehen wird. Für die Anfangsphase ist das wunderbar, aber wenn das Unternehmen wächst, die Begeisterung schwächer wird, einige heiraten und sich die Beziehungen verändern, schwindet die Motivation, das Unternehmen voranzutreiben. Das ist desaströs in einer Phase, in der Fremdkapital im Unternehmen ist und viele Arbeitsplätze geschaffen wurden. Deshalb achten wir sehr auf die Motivation hinter der Motivation. Verletzungen und Enttäuschungen in der eigenen Familiengeschichte sollten nicht der Motor sein, ein Unternehmen zu gründen und dort die Geborgenheit und Intensität zu suchen, die man zu Hause vermisst hat. Wenn der Gründungswunsch nur eine trotzige Gegenreaktion ist auf die Enttäuschung über die Eltern, ist Scheitern programmiert.

Aber müssen wir uns nicht in Abgrenzung zu den Eltern positionieren, um das Eigene zu finden?

Die Kunst besteht darin, weder in einer Überanpassung zu landen, um die Eltern nur ja nicht zu enttäuschen, noch die gesamte Lebensenergie darauf zu verwenden, das Gegenteil zu machen. In beiden Fällen, in der Resignation und im Widerstand, ist man tief in die Elternbeziehung verstrickt. Was zu einem selbst passt, liegt dann immer noch im Dunkeln. Alles im Leben anders machen zu wollen kann eine Vermeidungsstrategie sein, um vor unangenehmen Gefühlen zu fliehen. Ich gründe ein cooles Unternehmen, arbeite im T-Shirt im Wohnzimmer mit meinen besten Freunden und nicht in einem spießigen Büro mit Schlipsträgern und knallharten Hierarchien. Das klingt attraktiv und toll, aber taugt es auch als Modell für viele Jahre? Warum will ich so leben, wie ich lebe? Warum will ich das tun, was ich tue? Diese Fragen wären für jeden wichtig. Auch und gerade, wenn man einen sogenannten normalen Weg geht. Was steckt dahinter, dass ich bestimmte Lebensziele habe? Hier kommen wieder Enttäuschungen ins Spiel. Sie sind ein sehr guter Weg, sich auf die Schliche zu kommen, weil sie uns wegführen von den intellektuellen Konstrukten, mit denen wir durchs Leben laufen. Sie überfallen uns und treffen uns mitten ins Herz. Wir können nichts dagegen tun, aber wir können sie nutzen für eine Auseinandersetzung mit uns selbst. Was sagt es über mich, dass ich über diesen Menschen oder diese Situation so enttäuscht bin? Dann kommt man weg von idealisierten Vorstellungen und ist zurückgeworfen auf sich selbst, so wie man ist. Das ist ein gutes Fundament, auf dem man ein Leben ohne Luftschlösser bauen kann.

Sie schreiben, um wirklich frei zu werden, müssen wir unseren Frieden mit den Eltern machen. Das ist auch ein wesentliches Ziel von Psychotherapie. Was ist Ihre spezielle philosophische Perspektive?

Psychologie und Psychotherapie sind ja aus der Philosophie herausgewachsen. Die Frage „Wie lebe ich ein gutes Leben?“ ist eine urphilosophische Frage. Ich versuche, das Thema Versöhnung mit den Eltern in diesen größeren, ganzheitlichen Rahmen einzubetten, in dem es um das gelungene Leben geht. Von Freud stammt die Aussage, ein gesunder Mensch zeichne sich dadurch aus, dass er lieben und arbeiten kann. Die Menschen, mit denen ich am Institut zu tun habe, können beides. Und dennoch kommen sie an einen Punkt, an dem sie sich fragen: Lebe ich wirklich das Leben, das zu mir passt? Oder erfülle ich nur pflichtbewusst einen Auftrag, der nicht mein eigener ist? An der Auseinandersetzung mit den elterlichen Botschaften kommt niemand vorbei.

Was ist hilfreich, um mit der Enttäuschung, dass man von den Eltern vielleicht nicht bekommen hat, was man gebraucht hätte, fertigzuwerden?

Sich Gedanken darüber zu machen, wie die Eltern groß geworden sind, und auch auf die Großeltern zu schauen, die die Kriegs- und Nachkriegszeit durchgemacht haben. Das hilft zu verstehen, warum sie ihren Kindern vielleicht nicht das Gewünschte geben konnten. Und ich halte es für wichtig, sich bewusstzumachen, dass die verständliche Sehnsucht, vollständig angenommen und geliebt zu sein und sich vollkommen sicher zu fühlen, die in jedem brennt, auch von den besten Eltern der Welt nicht ganz erfüllt werden kann. Auch Eltern sind verletzte Menschen, die Ängste und Schwächen haben. Sich damit auszusöhnen ist ein wichtiger Schritt, das Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen. Das bedeutet nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Ich unterscheide ganz bewusst zwischen inneren und äußeren Dynamiken. Es kann sein, dass man keinen wirklich befriedigenden Kontakt zu den Eltern hat und dennoch innerlich mit ihnen versöhnt ist.

Warum ist Ihnen diese Unterscheidung zwischen innen und außen so wichtig?

Weil die Frage, ob ich mein Leben bejahen kann, vor allem davon abhängt, wie ich zu meinem inneren Leben stehe, und weniger davon, wie ich im äußeren Leben agiere. Ich will kein Ratgeber sein, wie man sich konkret den Eltern gegenüber verhalten soll. Ich möchte mit meinen Impulsen Menschen dazu befähigen, selbst eine Entscheidung zu treffen und ein Gespür dafür zu entwickeln, was für sie selbst stimmig ist und passt angesichts ihres eigenen Lebens, der Situation mit den Eltern und der Beziehung, die sie in der Vergangenheit mit den Eltern hatten. Deshalb kann es da keinen Ratschlag geben. Für den einen mag es stimmig sein, die alten Eltern zu sich nach Hause zu nehmen, für einen anderen wäre das furchtbar. Deshalb ist der Blick nach innen so wichtig.

Aber irgendwann müssen wir auch zu einer ­Entscheidung kommen, wie wir uns verhalten.

Sicher, wir sind jedoch zu sehr mit dem Außen beschäftigt und fragen zu früh: Was soll ich tun? Eine Entscheidung, die wirklich trägt, sollte das innere Gewebe meiner Seele berücksichtigen und die Frage, was dazu passt. Ich habe lange damit gerungen, wie ich diesen Ansatz auf den Punkt bringen kann, und habe für mich den Begriff der Stimmigkeit gefunden. Ein stimmiges Leben heißt, dass ich mein inneres Leben zum Ausdruck bringe. Zum inneren Leben gehören für mich auch Wertvorstellungen, Überzeugungen und Weltanschauungen, es geht nicht nur darum, wie ich mich gerade fühle. Wie kann all das, was in mir eine Rolle spielt, einen stimmigen Ausdruck finden in meinem äußeren Leben? Das ist die Frage.

Das ist nicht leicht. Viele merken erst in der Lebensmitte, dass sie beispielsweise in ein berufliches Umfeld geraten sind, das vielleicht zu ihren Talenten, aber doch nicht zu ihrem inneren Leben passt, oder in einer Partnerschaft feststecken, die ihnen nicht entspricht.

Das stimmige Leben zu finden ist ein lebenslanger Prozess, und Schwerpunkte können sich in jeder Lebensphase verschieben. Hier sind Enttäuschungen auch wieder sehr hilfreich, um zu merken, dass etwas nicht stimmt. Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der begeisterter Jesuit war. Dann starben beide Eltern, und er merkte plötzlich, dass er vom Orden enttäuscht war und sich entfremdet fühlte. Erst nach dem Tod der Eltern wurde ihm deutlich, dass seine Entscheidung für den Orden daher kam, dass er seine Eltern nicht enttäuschen wollte. Dieses Beispiel zeigt auch, dass man bestimmte Entwicklungen nicht vorwegnehmen kann durch Selbstreflexion oder Meditation, so hilfreich beides ist. Wir brauchen die Konfrontation mit dem Leben, und manchmal ist sie schmerzhaft. Zum einen müssen wir lernen, selbst mit Enttäuschungen umzugehen, zum anderen erkennen, dass wir selbst auch andere enttäuschen. Das ist unvermeidlich, wenn wir selbstbestimmt leben wollen.

Andere zu enttäuschen ist unangenehm, vor ­allem wenn sie uns nahestehen und wir sie nicht enttäuschen möchten. Warum sollten wir dennoch den Mut dazu haben?

Wenn ich spüre, dass andere ein Bild von mir haben, was gar nicht oder nicht mehr zu mir passt, und ich dieses Bild enttäusche, gebe ich der Beziehung auch eine neue Chance. Ich zeige mich, wie ich wirklich bin. Das ist auch ein Beziehungsangebot. Natürlich hängt es von der Bereitschaft des Gegenübers ab, mich neu sehen zu wollen. Wenn das gelingt, kann das eine Beziehung vertiefen und erneuern. Ich bin überzeugt von der Kraft der Authentizität, die entsteht, wenn Menschen sich ihren inneren Dynamiken stellen. Menschen, denen es gelingt, ein stimmiges Leben zu leben, schaffen in sich eine große innere Weite, die inspirierend wirkt und auch anderen einen Raum öffnet, in dem sie Platz nehmen können.

Oft sagen Menschen: Ich will nie mehr enttäuscht werden. Was antworten Sie?

Ein Leben ohne Enttäuschungen ist ein totes Leben. Wenn ich nicht enttäuscht werden will, muss ich alles aufgeben, was mir wertvoll ist. Es darf mir im Grunde nichts am Herzen liegen, denn in dem Moment, wo mir etwas lieb und teuer ist, bin ich verletzlich, weil ich es nicht in der Hand habe, wie die Dinge laufen. Wenn mir das Risiko zu groß ist, bleibt mir nur, innerlich hart zu werden. Allerdings verliere ich dann auch den Kontakt mit mir selbst und damit zu anderen. Deshalb lade ich ein zu einer 180-Grad-Wende im Umgang mit Enttäuschungen. Sie bringen uns mit etwas in Verbindung, was kolossal wertvoll und kostbar ist. Mein Ideal ist die robuste Verletzbarkeit, diesen schönen Ausdruck habe ich beim britischen Poeten David Whyte gefunden. Indem ich übe, mit meinen inneren Verletzungen und Spannungen zu leben, und sie langsam ausheilen lasse, wird das Herz weit, und ich muss vor nichts Angst haben. Kein Mensch kann mich schrecken, weil ich weiß, dass ich mit dem, was durch den anderen in mir ausgelöst wird, klarkomme. Das ist für mich eine großartige Vision.

Michael Bordt, Jesuit und Philosoph, ist Vorstand des Instituts für Philosophie und Leadership an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Sein jüngstes Buch Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen ist im Verlag Elisabeth Sandmann erschienen (2017)

Porträtfoto des Philosophen Michael Bordt
Michael Bordt: „Mein Ideal ist die bewusste Verletzbarkeit“.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2018: Die Stärke der Stillen