Psychologie des Klopapierkaufs

Ordentlich, sparsam, eigensinnig: Was ist dran am Mythos vom „analen Charakter“ der Deutschen?

Eine geordnete Menge an Klopapier
Sind die Klopapier-Hamsterkäufe ein Symptom der deutschen Analfixiertheit? © Science Photo Library RF / Getty Images

Angesichts der Pandemie durch das Corona-Virus Covid 19 hatte man wenig Grund zum Scherzen. So wurden die Hamsterkäufe von Klopapier in Deutschland zu einem Running Gag. Auf Facebook konnte man auf geposteten Bildern die Ergebnisse der Arbeit von Scherzkeksen bestaunen, die ihre Toilette bis zur Decke mit Klopapierrollen tapeziert hatten. Und aus den Tiefen der Erinnerung tauchte das Klischee wieder auf: Die Deutschen sind eine anal fixierte Nation.

In diesem Zusammenhang wird oft Sigmund Freuds Text über „Charakter und Analerotik“ erwähnt, den er 1908 in einer psychiatrischen Wochenschrift in Lublinitz (Schlesien) veröffentlich hatte. Wir finden ihn heute in Band VII der gesammelten Werke. Freuds Essay ist ein interessantes Dokument für seine Sicht auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit. Er verbindet Beobachtungen an Kindern, die während der Sauberkeitserziehung als „schwierig“ gelten, weil sie nicht – wie es die Erwachsenen wünschen – zur rechten Zeit ins Töpfchen machen, mit dem Charakter Erwachsener, die „drei Eigenschaften zeigen: Sie sind besonders ordentlich, sparsam und eigensinnig“.

Hinauszögern bis zur Lust: Ergebnis Sparsamkeit

Ordentlich umfasst die körperliche Sauberkeit wie die Gewissenhaftigkeit in der Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit auch in Kleinigkeiten. Die Sparsamkeit kann bis zum Geiz gesteigert werden; der Eigensinn kann in Trotz übergehen, ja sich bis zur Wut und Rachsucht steigern.

Diese in der Kultur positiv gesehenen Eigenschaften – zumindest so lange sie nicht „übertrieben“ werden – entpuppen sich als Reaktionen auf die ursprüngliche Freude:

- an der Unsauberkeit bis hin zum Kotschmieren – Ergebnis: zwanghafte Sauberkeit

- am Lustgewinn durch die Defäkation (den Stuhl möglichst lange zurückzuhalten steigert diesen Lustgewinn) –Ergebnis: Sparsamkeit und Geiz

- an dem Widerstreben gegen den Kulturzwang, zu tun, was andere wollen – Ergebnis: Trotz und Eigensinn.

Die anale Trias der Charaktereigenschaften entsteht in der späteren Kindheit. Als Folge der „Kulturerziehung“, lernt das Kind, dass die analen Freuden nicht erlaubt sind. Sie sind als Vergnügen verpönt, werden – wie Freud es formuliert – „für sexuelle Zwecke unverwendbar“. Nun müssen sie sich anderweitig ausdrücken: Sie prägen die allgemeine Persönlichkeit.

In Freuds Arbeit zum Analcharakter findet sich eine einzige Anspielung auf die deutsche Geschichte: Der „schwäbische Gruß“ des Götz von Berlichingen in Goethes Stück. Freud versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass der nackte Arsch ein geläufiges Zeichen „der trotzenden Verhöhnung“ sei und „im Arsche lecken“ eine „von der Verdrängung betroffene Zärtlichkeit“ betreffe.

Der Kleinbürger: ein analer Charakter

In der Sauberkeitserziehung prallen Kultur und Natur aufeinander; nach einem spöttischen Bonmot ist Klopapier die dünne Schicht, welche den Menschen vom Tier trennt. Freuds Gedanken zur Analerotik reizten seine Schüler dazu, sie auf kulturelle Phänomene anzuwenden; am wichtigsten wurde Erich Fromms Konzept eines kleinbürgerlichen „analen Charakters“ mit eben den Qualitäten, die schon Freud beschrieben hatte. Auch Theodor W. Adornos Forschungen zum autoritären Charakter mit seiner Nähe zu rechtspopulistischen Haltungen stehen damit in Verbindung.

Plakativer argumentierte Alan Dundes (1934–2005), ein amerikanischer Volkskundler, der an der University of California in Berkeley lehrte und sich nie scheute, sein Orchideenfach durch Kontroversen bekannt zu machen. Seine vorwitzige These, dass die Rituale im American Football homosexuelle Wurzeln haben („Into the Endzone for a Touchdown“), trug ihm sogar Morddrohungen ein. 1980 hielt Dundes einen ersten Vortrag über den speziell deutschen Analcharakter, aus dem 1984 ein Buch wurde. Unter dem Titel Sie mich auch ist es 1985 im Beltz-Verlag erschienen.

Dundes war ein rhapsodischer Redner, der seine Studenten so begeisterte, dass ihm einer davon eine Million Dollar schenkte; Dundes richtete damit eine Professur für sein Fach in Berkeley ein. Sein Modell trivialisiert Freuds vielschichtige Aussagen über den Untergang der analen Lust zu dem Topos einer „besonders strengen“ Sauberkeitserziehung der Deutschen, die sich aber über Anekdoten hinaus kaum beweisen lässt.

Es ist angesichts solcher Behauptungen schwierig, das Henne-Ei-Dilemma zu umgehen. Natürlich wird die auf strikte Ordnung und keimfreie Sauberkeit pochende „deutsche Mutter“, die Johanna Haarer (Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind) in ihrem Bestseller der NS-Zeit konzipiert hat, ihre Kinder entsprechend erziehen. Aber weshalb soll deutschen Eltern Sauberkeit wichtiger sein als französischen oder italienischen? Wären nicht die Briten, die das WC in alle Welt exportiert haben, ebenso gute Kandidaten?

Hitlers mörderischer Reinlichkeitswahn

Die riskantesten Beispiele in Dundes Materialsammlung zum deutschen Analcharakter sind Martin Luther und Adolf Hitler. Sie zeigen auch die ganze Vagheit einer kulturgeschichtlichen Ausweitung analytischer Begriffe. Luther hat Kernsprüche gepredigt – „aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“. Soviel Witz findet man bei Hitler nie, nur zwanghafte Sauberkeit, Angst vor Blähungen und die mörderische Pedanterie, „sein“ Volk von stinkenden, schmutzigen Rassen zu befreien. Mit anekdotischen Details lassen sich aber soziale Bewegungen wie die Reformation oder die Vernichtungslager des Nationalsozialismus nicht fassen.

In dem Jahrhundert, in dem andere Nationen neue Kontinente erschlossen, verheerte ein blutiger, nicht enden wollender Religionskrieg die Mitte Europas. Als er ausgestanden war, mehr durch Erschöpfung als aus Einsicht, erwachte Deutschland wie aus einem blutigen Traum. Frankreich, Großbritannien, Spanien, selbst das kleine Portugal und die Niederlande hatten sich der Neuen Welten bemächtigt.

Sauberkeit statt Dekadenz

Die Historiker sprechen von Deutschland als einer zu spät gekommen Nation. Es dauerte lange, bis sich ein gemeinsames Selbstgefühl in Deutschland bildete; ein wichtiger Anlass war der Kampf gegen Napoleon. Die nationale Bewegung griff auf den Protestantismus zurück, zu dessen Substanz ja ebenfalls ein gutes Stück Eigensinn im Kampf gegen die römische Übermacht gehört. Charakteristisch für die Frühzeit des Ringens um eine deutsche Nation war nicht nur der Kampf gegen die Hochschätzung der französischen Kultur, sondern auch das Pochen auf die eigene „Reinheit“ und Sittlichkeit gegenüber fremder Dekadenz. Pflichterfüllung, Redlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit und Selbstbehauptung bis zum Trotz wurden die preußischen Tugenden, die sich in den Freiheitskämpfen bewährten.

Werden sie auch helfen, die Coronakrise zu verarbeiten? Sie ist historisch beispiellos; noch nie ist die zivilisierte Welt so plötzlich und nachdrücklich unter die Macht der Spezialisten für Hygiene geraten. Die Empfehlungen der Virologen haben in den ersten Wochen der Pandemie fast alle anderen Stimmen übertönt. Kein Wunder, dass Toilettenpapier und Desinfektionsmittel zum Fetisch wurden, zum Schutzwall gegen eine ungreifbare Bedrohung. Die Pandemie fand in den Vorratskäufern bald ihre eigenen Sündenböcke. Die zeitgemäße Variante des analen Charakters scheint nicht so sehr der Bürger zu sein, der Toilettenpapier hamstert. Es sind die ganz besonders Ordentlichen. Die moralisch Entrüsteten, die sich pharisäisch über den Schiss anderer erheben.

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