Professorin Freund, wenn ein Kind Sie fragte: „Wer hat eigentlich die Sehnsucht erfunden?“, was würden Sie antworten?
Natürlich hängt die Antwort ab vom Alter des fragenden Kindes, dennoch ist diese Frage in vielerlei Hinsicht interessant: Zum einen ist Sehnsucht sowohl ein stark kulturell verankertes Phänomen als auch eine anthropologische Konstante, also etwas, das Menschen über Kulturen und historische Zeiten hinweg gemeinsam ist. Von daher ist sie im Sinne der kulturellen Verankerung gleichzeitig…
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Zeiten hinweg gemeinsam ist. Von daher ist sie im Sinne der kulturellen Verankerung gleichzeitig „erfunden“ und dem Menschen eigen. Zum anderen ist Sehnsucht etwas, was sich über die Lebenszeit erst entwickelt und in der frühen Kindheit noch nicht existiert, da hierzu die kognitiven und lebensgeschichtlichen Voraussetzungen fehlen. Insofern „erfindet“ jede und jeder von uns seine eigenen Sehnsüchte. Sie ergeben sich aus unserem spezifischen Lebenslauf, unserer Persönlichkeit, unseren Vorstellungen und Träumen von der Utopie des perfekten Lebens.
Was aber nun ist Sehnsucht?
Wir definieren Sehnsucht als ein intensives bittersüßes Gefühl, das sich symbolhaft auf Dinge bezieht, die das Leben vervollkommnen würden. Dem liegt die – oft nicht explizite – Einschätzung zugrunde, dass das eigene Leben so, wie es ist, nicht perfekt ist, dass einem etwas fehlt. Sehnsucht entspringt dem gefühlten Defizit zwischen dem idealen und dem tatsächlichen Leben. Das kann sich auf etwas Benennbares beziehen wie die große Liebe, Unbeschwertheit oder Freiheit. Manchmal kann eine Sehnsucht aber auch dem allgemeinen Gefühl eines Defizits entspringen, und man weiß nicht, wonach man sich sehnt, außer dass im eigenen Leben irgendwas anders sein sollte. Um noch einmal auf die Frage des Kindes zurückzukommen, wer die Sehnsucht erfunden hat: Da wir alle nicht perfekt sind, ist die Sehnsucht als eine menschliche Erfahrung nicht „erfunden“.
Spiegeln Sehnsüchte in einer bestimmten Kultur auch die vorherrschenden Vorstellungen starker Wünsche wider?
Ja, sie entwerfen Visionen, wie in einer bestimmten historischen Epoche das perfekte Leben sein sollte. Die kulturelle Seite von Sehnsucht wird insbesondere in der Zeit der deutschen Romantik in der Kunst deutlich: Caspar David Friedrich zeigt den Wanderer als Sinnbild des Sehnenden, über Nebelschwaden auf ferne Berggipfel schauend. Die Berggipfel sind das Symbol dafür, was einem zur Utopie des perfekten Lebens fehlt. Joseph von Eichendorff thematisiert in seinem Gedicht Die blaue Blume die Quintessenz der Sehnsucht: „Ich suche die blaue Blume, / Ich suche und finde sie nie. / Mir träumt, dass in der Blume / Mein gutes Glück mir blüh“. Auch in der romantischen Musik wird die Sehnsucht besungen, wie beispielsweise in Schuberts gleichnamigen Lied, aber auch in seinen Liederzyklen wie der Winterreise. In der Winterreise geht es um den Schmerz des Verlustes einer Liebe. Dies ist in zweierlei Hinsicht ein Schema.
Inwiefern?
Erstens steht die Sehnsucht nach der vollkommenen Liebe nicht nur in der Kunst, sondern auch im Populären wie Schlagern, Schnulzenfilmen und Groschenromanen häufig im Vordergrund. Und zweitens ist Sehnsucht eine Möglichkeit des Umgangs mit unwiederbringlichen Verlusten. Wenn ich mich nach der verlorenen Liebe sehne, dann behalte ich diese Liebe ja noch in meinem Leben – wenn auch nur in meinen Gedanken und Gefühlen. Dasselbe gilt für Verstorbene. Ein Vater berichtete mir von der starken Sehnsucht nach seinem vor vielen Jahren verstorbenen Sohn. Er konnte und wollte dieses Gefühl trotz allem Schmerz nicht aus seinem Leben verbannen, weil er auf diese Weise immer noch die Verbindung zu ihm spürte und sein Sohn dadurch weiterhin eine gewisse Präsenz behielt.
Sind die Sehnsüchte vom Gefühl her alle gleich stark ausgerichtet? Oder gibt es da eine Hierarchie?
Die Intensität von Sehnsüchten ist bei jedem von uns anders, und auch die anvisierten Objekte sind von Mensch zu Mensch verschieden. Diese wandeln sich auch über die Zeit. Es gibt aber keine klare Hierarchie von Sehnsüchten der Art, dass beispielsweise die Sehnsucht nach Freiheit immer intensiver ist als die nach Liebe oder nach einer heilen Welt.
Warum ist das so?
Sehnsucht ist wahrscheinlich dann am stärksten, wenn sie etwas symbolisiert, was einem im gegenwärtigen Leben ganz besonders fehlt. Das Objekt der Sehnsucht hat symbolischen Charakter: Wenn ich mich zum Beispiel nach einem flotten Cabriosportwagen sehne, dann geht es nicht um das Auto an sich, sondern um das, wofür das Cabrio steht. Und das kann für jeden etwas ganz Unterschiedliches sein, wie beispielsweise Freiheit, Männlichkeit, Spontaneität oder Autonomie. Oft ist die Sehnsucht mit einem Bild verbunden: Wir sehen uns bei strahlendem Sonnenschein mit wehendem Haar in einem weißen Cabrio die Côte d’Azur entlangfahren.
Das kann intensive Gefühle hervorrufen, wenn wir eben gerade im Alltag bei grauem Dezemberwetter in die Routinemühle des Bürolebens eingebunden sind und das Gefühl haben, dass unser Leben so gar nicht spontan, spannend und unbeschwert ist. Sitze ich bereits in einem wunderschönen Café in Nizza in der Sonne und fühle mich pudelwohl, ist die Sehnsucht nach dem Cabrio wahrscheinlich weniger groß, denn die Diskrepanz zum ersehnten Zustand ist geringer.
Wer ist besonders anfällig für solche starken Gefühle?
Menschen, die mehr zum Tagträumen neigen und sich besser in Bilder und Szenen hineinversetzen können. Manch einer begibt sich auch ganz bewusst in diesen Zustand, fährt an einen ganz bestimmten Ort oder schaut sich immer wieder das eine Bild an, das mit der Sehnsucht verknüpft ist und sie schürt. Das ermöglicht, die schöne Seite dieses Sehnens zu erleben, nämlich die Vervollkommnung des gegenwärtigen Lebens auf der Fantasie-Ebene.
Ja, manchmal kann man geradezu auch darin schwelgen!
Wie lange, wie oft und wie intensiv man sich diesen Gefühlen hingibt, ist davon abhängig, wie gut man dann mit der Landung in der Realität zurechtkommt. Die kann durchaus schmerzhaft sein, weil sie eben nicht dem Ideal entspricht. Unsere Forschung hat gezeigt, dass Menschen, die ihre Sehnsucht nicht gut kontrollieren können, darunter leiden. Je mehr man die Sehnsuchtserfahrung jedoch steuern kann – das heißt, dass man selbst entscheidet, wie oft, wann und wie stark man sich nach etwas oder jemandem sehnt –, desto positiver wird sie erlebt.
Wie lässt sich das kontrollieren?
Alles, was mit dem Objekt unserer Sehnsucht zu tun hat, kann diese herbeiführen. Das kann beispielsweise eine bestimmte Musik sein, die ich mit einer verlorenen Liebe immer wieder gehört habe. Ich kann die Musik hören, um mich in den Zustand zu versetzen, in dem ich den Verlust der Liebe spüre und gleichzeitig wieder erlebe, wie wunderschön diese Zeit damals war. Wenn es zu schmerzhaft wird, kann ich die Musik abstellen und etwas unternehmen, was nichts mit dem Geliebten und den Erinnerungen zu tun hat.
Ich kann mich bewusst ablenken und meine Gedanken und Emotionen auf etwas anderes richten. Um bei meinem Cabriobeispiel zu bleiben: Wer sich nach einer Sommerfahrt an der Küste in solch einem Auto sehnt, kann sich im Internet Filme davon anschauen, solange wie der traumhafte Zustand aufrechterhalten bleiben soll, und wenn es genug ist, den Computer ausschalten. Die Kontrolle liegt also sowohl darin, sich in die Sehnsucht zu begeben, als auch darin, sie wieder zu verlassen.
Gibt es ein Streben, ein Verlangen, das jeder Mensch hat?
Wir alle sehnen uns nach unserer Vorstellung vom idealen, vollkommenen, perfekten Leben, also danach, was wir denken, was uns im Leben fehlt und was aus unserer Sicht das Leben perfekt machen würde. Was das jeweils ist, richtet sich danach, wie unser Leben gerade aufgestellt ist. Wer viel Freiheit hat, sehnt sich vielleicht nach klaren Strukturen, die einem den Druck nehmen, ständig selbstverantwortlich entscheiden zu müssen. Wer in einer engen Liebesbeziehung ist, sehnt sich vielleicht nach unverbindlichen Begegnungen, die spannend und aufregend sein könnten, doch wenig mit Liebe zu tun haben. Von daher lässt sich nicht sagen, dass wir uns alle gleichermaßen zum Beispiel nach Liebe oder Freiheit sehnen.
Manch einer empfindet auch so ein Drängen nach etwas anderem: Irgendwie müsste es noch mehr, etwas anderes in meinem Leben geben…
Ja, diese Art der Sehnsucht ist in dem schon erwähnten Bild von Caspar David Friedrich ausgedrückt: der Wanderer, dessen Ziel uns nicht gezeigt wird und das daher im Unbestimmten bleibt, der Mann, der in die nebelhafte Ferne schaut. Dieses Bild vermittelt das Gefühl, dass es etwas geben mag, was unbedingt erstrebenswert wäre. Was das aber ist, bleibt eben im Nebel. Oder das erwähnte Eichendorff-Gedicht Die blaue Blume. Was diese blaue Blume ist, wofür sie steht, erschließt sich uns nicht. Nur dass sie für den Suchenden das Glück bedeuten würde. Für Novalis, der die blaue Blume als Symbol in die Romantik einführte, symbolisierte sie die utopische Einheit der verschiedenen Ebenen unseres Seins, also die absolute Vollkommenheit. Mit anderen Worten: Auch in der unspezifischen Sehnsucht steckt das Verlangen nach der Utopie der Perfektion.
Ist Perfektion ein Thema, das sich durch all unser Verlangen zieht?
Die Funktion von Sehnsucht besteht einerseits darin, Verluste und unsere Unvollkommenheit zu bewältigen, und andererseits darin, eine Richtung vorzugeben, die unser Leben besser machen könnte. Eine starke Sehnsucht kann uns anzeigen, was in unserem Leben fehlt, und das Setzen von konkreten Zielen anregen, mit deren Verfolgung wir unserer Vorstellung von einem guten – wenn vielleicht auch nicht perfekten – Leben näherkommen können.
Ist es besser, wenn die Sehnsucht konkret wird und sich benennen lässt?
Das Wesen der Sehnsucht ist, dass sie sich symbolisch auf etwas bezieht: Die konkrete Person, das konkrete Objekt, die vergangene Zeit oder das zukünftige Ereignis stellen immer ein Symbol dar für unsere Vorstellung vom vollkommenen Leben. Will man genauer wissen, was einem im Leben fehlt, kann es durchaus sinnvoll sein, sich zu überlegen, wofür das steht, wonach man sich sehnt. Dies kann ein wichtiger Hinweis dafür sein, was einem gegenwärtig im Leben fehlt und was man vielleicht versuchen sollte zu ändern. Dafür wäre es wichtig, sich konkrete Ziele zu setzen. Zum Beispiel: In meiner gegenwärtigen Beziehung fehlt mir die Geborgenheit, nach der ich mich sehne. Wie kann ich mit meinem Partner oder meiner Partnerin diese Geborgenheit herstellen? Die Sehnsucht ist dann nicht konkreter, aber sie kann das Setzen konkreter Ziele leiten.
Was ist mit Menschen, die sich beschränken müssen, sich in Quarantäne oder gar im Gefängnis befinden. Wie damit umgehen, wenn die Erfüllung des Wunsches, in diesem Fall Freiheit und Autonomie, nicht möglich ist?
Diesen Menschen geht es prinzipiell nicht anders als allen anderen Menschen auch: Niemand von uns erlebt unbegrenzte Freiheit und Autonomie. Gefängnisinsassen oder Menschen in Quarantäne haben natürlich deutlich weniger von ihrem Alltag als diejenigen, die sich frei bewegen können. Doch alle Menschen erleben Beschränkungen. Die Sehnsucht nach Freiheit und Autonomie ist in dem Maße stärker, wie sie gerade als Defizit erlebt wird.
Gleichen wir Menschen uns im Entwickeln von Sehnsüchten? Oder gibt es auch Menschen, die von Natur aus kaum zur Sehnsucht neigen?
Die Entstehung von Sehnsucht entspringt ja der Unvollkommenheit des menschlichen Daseins, also sind wir von der Veranlagung her alle gleich. Wir unterscheiden uns darin, wie sehr wir es uns erlauben, uns diesen Gefühlen hinzugeben. Wer immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität stehen will, wird kaum Situationen herbeiführen oder diese sogar meiden, die ein sehnsüchtiges Verlangen erzeugen und nähren. Wer eher zum Tagträumen tendiert und offen für Fantasien ist, entwirft eher seine inneren Bilder und die damit verbundenen Gefühle, in denen es schön ist zu schwelgen.
Verandert sich das Empfinden von Sehnsucht uber die Lebensspanne?
Kinder erleben noch keine Sehnsucht, da ihnen dafür die kognitiven Voraussetzungen fehlen. Sie kennen Tagträume, Fantasien und intensives Wünschen. Aber das komplexe kognitiv-emotionale Phänomen der Sehnsucht erleben die meisten von uns erst in der Jugend. Die Inhalte der Sehnsüchte verändern sich, auch im Verlauf des Erwachsenseins, in Abhängigkeit davon, was für einen besonders wichtig ist. In unseren Studien haben wir jedoch erstaunlich wenig altersbezogene Unterschiede bemerkt. Erwähnenswert ist, dass Sehnsucht mit zunehmendem Alter als positiver empfunden wird, sie ist nach wie vor bittersüß, jedoch der süße Anteil wird stärker.
Wie kommt das?
Mit zunehmendem Alter spielt die Vergangenheit in der Sehnsucht eine größere Rolle, es geht also mehr um den Lebensrückblick. Das ist eine wichtige andere Funktion der Sehnsucht: sich dessen gewahr zu werden, was in der Vergangenheit schön war, was das eigene Leben reich gemacht hat und was man als Erfahrungsschatz immer noch in sich trägt. Dabei überwiegen häufig die positiven Aspekte, sonst würde man sich ja nicht danach sehnen.
Worin besteht der Unterschied zwischen Wünschen und Sehnen?
Ganz einfach ausgedrückt: Wünsche sind rein positiv, richten sich auf die Zukunft und sind oft nicht symbolhaft, während das Sehnen eben bittersüß ist, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst und immer symbolisch ist. Ich kann mir zum Geburtstag ein Buch, eine Kette, eine Torte wünschen – daran ist nichts bitter oder traurig. Die Vergangenheit spielt dabei nicht unbedingt eine Rolle, der Wunsch ist konkret und auf die Zukunft gerichtet.
Das ist bei der Sehnsucht ja nicht der Fall. Sie ergibt sich aus dem bisherigen Leben, ich sehne mich jetzt in der Gegenwart nach etwas und beziehe das auf mein zukünftiges Leben, indem ich mir die Erfüllung der Sehnsucht genau vorstelle. Wenn ich mir ein Buch oder eine Kette wünsche, dann weiß ich meistens, dass ich mich zwar darüber freuen werde, aber dass dies mein Leben nicht perfekt machen wird.
Was ist, wenn sich eine Sehnsucht erfüllt hat? Was kommt danach? Eine anhaltende Zufriedenheit oder die nächste Wunschspirale?
Man kann seine Sehnsucht nie erfüllen, weil in der Realität der ersehnte Mensch, das ersehnte Objekt oder Erlebnis niemals perfekt ist und dem Idealbild entsprechen kann. Wenn ich mit dem Cabrio an der Cote d’Azur entlangfahre, dann ist mir vielleicht der Fahrtwind unangenehm, weil er meine Haare verknotet, ich möglicherweise Durst habe und mir Sorgen mache, ob es meiner kranken Mutter wieder besser geht. Mit anderen Worten: Das Erlebnis vermittelt mir nicht die Spontaneität und Freiheit, für die es in meiner Sehnsucht stand. Thomas Mann hat dies in seiner Erzählung Enttäuschung thematisiert.
Darin geht es darum, dass keine Erfahrung – wie schön oder dramatisch sie auch immer sein mag – ihrem Ideal entspricht. Bei Thomas Mann führt diese Enttäuschung zu Hoffnungslosigkeit. Die Hoffnungslosigkeit ist aber nicht die einzige Umgangsform mit der Enttäuschung: In der Sehnsucht kann die Realität, die ja zwangsläufig immer dem Ideal hinterherhinkt, positiv gewendet werden. Ich bin nicht enttäuscht über das, was ich real habe, sondern ich sehne mich nach dem Ideal. In dieser Hinsicht ist die Sehnsucht eine produktive Form der Auseinandersetzung mit der Unvollkommenheit unseres Lebens.
Alexandra M. Freund ist seit 2005 Professorin für Entwicklungspsychologie im Erwachsenenalter am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Ihre zentralen Forschungsthemen sind die Entwicklung der Motivation über die Lebensspanne und wie motivationale Prozesse zu einer gelingenden Entwicklung beitragen