Es ist mir immer noch unendlich unangenehm“, sagt Karin Werner über einen Vorfall, der mehr als zehn Jahre zurückliegt. Ihr damaliger Partner fing sie auf der Treppe ab. Er sei der Meinung, dass sie ihn seit längerer Zeit betrüge, erklärte er und fragte sie, ob das stimme. „Ich sagte nein“, erinnert sich Werner. Doch ihr Freund beschrieb daraufhin, wie er es herausgefunden hatte. Erst dann konnte Werner zugeben, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Sie merkte in diesem Moment, dass sie den Ansprüchen…
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in diesem Moment, dass sie den Ansprüchen nicht genügt hatte, die sie nicht nur an andere, sondern auch an sich selbst stellt: „Ich wünsche mir Offenheit, Ehrlichkeit und Respekt mir gegenüber. Das war schwer damit zu vereinbaren, dass ich nicht zugeben konnte, dass ich fremdging.“
Thomas Hellmann ist Mitte fünfzig und schon lange in ein und derselben Firma tätig. Zweimal erhielt er von seinem Arbeitgeber in den vergangenen Jahren eine Auszeichnung für seine Leistungen. Als er vor einiger Zeit allein in dem Büro saß, das er sonst mit anderen teilt, kam sein Vorgesetzter herein. Er schloss die Tür hinter sich und legte Hellmann ein paar DIN-A4-Seiten auf den Tisch. Eher beiläufig teilte er mit, die Firma wolle „die Personalstärke verringern“. Es war ein Angebot zur Aufhebung von Hellmanns Arbeitsvertrag. Es sei freiwillig, erklärte der Vorgesetzte, aber wenn Hellmann es nicht annehme, könne die Firma versuchen, ihn in eine weitentfernte Stadt zu versetzen. Hellmann war schockiert. Er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen, und setzte ein Pokerface auf.
Zwei sehr unterschiedliche Situationen, die etwas gemeinsam haben: Beide Menschen verloren für einen Moment ihre Achtung und den Respekt vor sich selbst. Karin Werner wurde blitzschnell klar, dass sie gegen ihre eigenen Maßstäbe verstoßen hatte, indem sie nicht fähig war, auf die Frage ihres Partners wahrheitsgemäß zu antworten. Thomas Hellmann empfand das Aufhebungsangebot seiner Firma weniger als Angebot denn als Tiefschlag – und die Art, wie es ihm mitgeteilt wurde, als demütigend. Aus Selbsterhaltungstrieb vermied er eine direkte Reaktion und versuchte, sein Pokerface aufzusetzen. Beide, Karin Werner und Thomas Hellmann, waren unvermittelt damit konfrontiert, dass sie ihr Gesicht verloren: Karin Werner, die ihre eigenen Maßstäbe verfehlte, Thomas Hellmann, den sein Chef in eine demütigende Situation brachte.
Ein gleichberechtigter Platz in der Welt
Der Selbstrespekt, den Werner und Hellmann verloren, habe etwas mit unserer persönlichen und inneren Autonomie zu tun, erläutert die Kieler Sozialpsychologin Daniela Renger: Wir sind grundsätzlich dazu fähig und willens, uns nicht fremdbestimmen und entwürdigen zu lassen und gleichzeitig die Würde und Rechte unserer Mitmenschen anzuerkennen. Respekt vor sich selbst hat, wer sich selbst für gleichwertig und genauso würdig hält wie andere. „Wir wissen, dass wir neben anderen einen gleichberechtigten Platz in der Welt haben, und sind bereit, diesen zu verteidigen“, sagt die Sozialpsychologin. Das mag für uns selbstverständlich klingen, historisch gesehen ist es das nicht: Erst 1948 verkündeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
In der Psychologie stand das Thema Selbstrespekt bislang nicht im Fokus. Selbstrespekt galt lange als Teil des allgemeinen Selbstwertgefühls. Daniela Renger fragte sich, ob es wirklich dasselbe ist, sich selbst zu mögen oder sich als gleichwertig wahrzunehmen, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren und sich in schwierigen Situationen selbst zu behaupten. Deshalb beschloss sie, dem Thema empirisch auf den Grund zu gehen. In ihren ersten Studien zum Thema versuchte sie zu klären, welches Selbstbild eigentlich zugrunde liegt, wenn jemand gegen Ungerechtigkeit protestiert. Die gängigen Konzepte – Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Selbstkompetenz oder Selbstakzeptanz – schienen ihr nicht wirklich zu beantworten, warum wir das tun: Warum sollte man sich für Gerechtigkeit, sei es für andere oder sich selbst, nur aufgrund der Tatsache einsetzen, dass man sich selbst vertraut oder sich selbst mag?
Um das genauer zu beleuchten, entwickelte Renger eine Selbstrespektskala und testete sie in drei Studien. Sie besteht aus Items wie etwa „Mir ist zu jedem Zeitpunkt bewusst, dass ich die gleiche Würde besitze wie andere“ oder „Ich sehe mich jederzeit als gleichwertig zu anderen“. Daniela Renger interessierte nicht nur die Frage, ob sich hier Unterschiede zwischen den Probanden finden ließen, sondern sie bezog auch die Abgrenzung zu vier anderen wichtigen psychologischen Selbstkonzepten in ihre Forschung mit ein: zum allgemeinen Selbstwertgefühl (sich selbst mögen und wertschätzen), zu der Selbstkompetenz (dem Wissen darüber, dass man etwas kann), zum Selbstvertrauen (also dem Gefühl von Sicherheit, dass man den Anforderungen genügt) und zu dem Konzept des „psychologischen Anspruchsdenkens“ (der Erwartung, dass man mehr und Besseres verdient habe als andere). Zu all diesen vier Konzepten wurden deutsche und US-amerikanische Probanden in den drei Studien befragt.
Selbstrespekt und Würde
Die Auswertung zeigte, dass die untersuchten Konzepte empirisch zusammenhängen, sich aber statistisch trennen lassen. Damit ist gemeint, dass ein Teilnehmer mit eher geringem allgemeinem Selbstwertgefühl auf der Selbstrespektskala hohe Werte erzielen konnte. Oder jemand, der seine eigenen Fähigkeiten geringer einschätzte, sich dennoch als jemand einstufte, der die gleiche Würde und den gleichen Wert hat wie andere. Anders ausgedrückt: Selbstrespekt kann unabhängig vom allgemeinen Selbstwertgefühl existieren. Das ist eine gute Nachricht. Denn auch bei schlechtem Selbstwertgefühl verhilft uns unser Respekt vor uns selbst zu einer Einschätzung, ob etwa Rechte nicht beachtet wurden oder wir selbst unsere Ideale nicht eingehalten haben.
Selbstrespekt hat folglich mit unserem Gerechtigkeits- und Moralempfinden zu tun, also mit unseren persönlichen Standards oder Maßstäben. Es geht dabei weniger um die Frage, ob wir uns mögen, sondern mehr darum, ob wir unsere eigenen Standards einhalten oder nicht. Die britische Psychologin Claudine Clucas legte vier Studien vor, die das Verständnis der Beziehung zwischen Selbstrespekt und dem Selbstwertgefühl vertiefen. Sie bat Probanden, sich an die Verfehlung oder Einhaltung ihrer persönlichen Moralstandards zu erinnern, oder ließ sie kurze Szenarios lesen, in denen es um solche Standards ging.
Zum Vergleich lasen die Teilnehmer dann weitere Geschichten, die von beruflichen Erfolgen oder Misserfolgen handelten, oder sie sollten persönliche Erinnerungen dazu abrufen. Bei allen Probanden wurden der Selbstrespekt und das Selbstwertgefühl gemessen. Das Ergebnis: Die Einhaltung oder Verfehlung von moralischen Standards wirkte sich ganz signifikant auf den Selbstrespekt der Befragten aus. Die Autorin zieht daraus den Schluss, dass Selbstrespekt mit dem Gefühl einhergeht, eine moralisch integre Person zu sein und Würde zu besitzen. Offenbar existiere Selbstrespekt unabhängig von der Wertschätzung oder Akzeptanz durch andere. Dagegen beeinflussten die Erfolge oder Misserfolge in den Berichten das Selbstwertgefühl der Teilnehmer. Sie mochten sich selbst mehr oder weniger, je nach Ausgang der Geschichte.
Selbstrespekt hat also offenbar eine psychologische Funktion, er kann dazu dienen, dass wir unsere Standards in Gedanken überprüfen, um die Achtung vor uns selbst wiederherzustellen. Der Philosoph Christian Schemmel arbeitet in einem Fachartikel diese These aus: Selbstrespekt liefere uns die eigenen moralischen Maßstäbe und darüber hinaus die persönlichen Standards für den Umgang mit anderen, auch für unsere Leistungen oder das, was uns im Leben generell wichtig sei.
Das Konzept ist sehr umfassend und in dieser Form nicht empirisch getestet. Es bestätigt aber indirekt die psychologischen Befragungen: Erst indem wir Selbstrespekt haben, könnten wir reagieren, wenn wir selbst oder andere gegen unsere moralischen Prinzipien verstoßen, erläutert Christian Schemmel. Der Wissenschaftler macht darauf aufmerksam, dass dies noch nichts über die Qualität oder Inhalte unserer Standards aussagt: Wer sehr hohe moralische Prinzipien sein Eigen nennt, sei naturgemäß leichter zu enttäuschen und leide vermutlich auch mehr, wenn sie oder er dagegen verstoße.
Was Scham uns lehrt
Verhalten wir uns falsch, brechen wir Regeln oder werden wir in einer Situation von anderen beschämt, leidet unser Selbstrespekt und sinkt. Was in unserem Inneren vorgeht, wenn wir auf diese Weise die Selbstachtung verlieren, hat der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell untersucht. Er sieht in einem ungeliebten Gefühl den Schlüssel zum Verlust des Selbstrespekts: Scham. Sobald wir uns schämen, schieße uns oft ein kurzer, aber intensiver Gedanke durch den Kopf, erläutert Hell: „Hier stimmt etwas nicht. Ich bin nicht mehr, wer ich sein will. Selbstbild und Realität klaffen plötzlich auseinander.“
Dieses plötzliche und mitunter starke Auseinanderklaffen von Selbstbild und Realität ist der wichtigste und zugleich kritischste Moment. Aber Scham hat auch das Potenzial, uns wieder aus ihm herauszuführen. Daniel Hell beschreibt in seinem Buch Lob der Scham, warum: Wer sich schämt, ringt mit sich und leidet an sich selbst. Deshalb kann uns Scham persönlich weiterbringen. Dabei spielt es keine Rolle, ob andere uns beschämen – also unseren Selbstrespekt infrage gestellt haben – oder ob wir uns vor uns selbst schämen, weil wir eigene Maßstäbe nicht eingehalten oder uns falsch verhalten haben. Sich zu schämen bringt keinen Nachteil. Wer sich schämen kann, sei ja gerade motiviert, den eigenen Selbstrespekt wiederherzustellen, so die These von Hell.
Aus Scham lasse sich etwas lernen, meint Daniel Hell: „Wenn wir uns schämen, verweist uns das auf eigene, manchmal auch übernommene Wertvorstellungen, die verletzt worden sind.“ Darunter gibt es welche, die uns besonders wichtig sind, wie Ehrlichkeit oder Mut. Oder es sind übernommene Werte, die möglicherweise problematisch sind. Dann lässt sich fragen, ob wir sie ablegen können, weil sie nicht mehr zu uns passen.
Heldinnen des Selbstrespekts
Wir brauchen einen gesellschaftlichen Rahmen, der uns erlaubt, Selbstrespekt zu empfinden und Respekterfahrungen zu machen. Wer in einer Gesellschaft aufwächst, die insgesamt wenig Raum dafür lässt, habe trotzdem Möglichkeiten zu lernen, dass es Respekt und somit auch Selbstrespekt tatsächlich gibt, glaubt Daniela Renger: „Dass wir grundsätzlich gleichberechtigt sind, können wir aus verschiedenen Quellen und auch später im Leben erfahren.“ Dies zeigten Geschichten aus Gesellschaften, die es ihren Mitgliedern schwermachten, Selbstrespekt zu entwickeln. Bei ihren Recherchen stieß Renger auf die Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai aus Pakistan, die im Jahr 2014 zusammen mit dem Inder Kailash Satyarthi den Friedensnobelpreis für ihr Aufbegehren gegen das Unrecht gegenüber Kindern erhielt.
Dieses Engagement habe Malala ihr Vater vermittelt, erklärt die Sozialpsychologin. Hintergrund war seine eigene Biografie. Aufgewachsen als einziger Sohn unter vielen Schwestern, fiel ihm auf, dass er selbst alles durfte, die Schwestern aber fast nichts. Er stellte sich die Frage, was es damit auf sich habe, und begann zu lesen. Davon berichtete er später seiner Tochter. In ihrer Familie habe sie schon früh Selbstrespekt erfahren. Das ermutigte Malala, als sie elf Jahre alt war, in einem Internettagebuch auf die Gewalt und das Unrecht der pakistanischen Taliban aufmerksam zu machen – die später in einem Schulbus ein Attentat auf sie ausübten und sie dabei schwer verletzten.
Ein anderes berühmtes Beispiel ist die US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks, die sich im Jahr 1955 als person of colour in einem Bus in Montgomery inAlabama in einen Bereich gesetzt hatte, den Schwarze verlassen mussten, sobald Weiße in ihm Platz beanspruchten. Als Parks aufgefordert wurde aufzustehen, kam sie dem nicht nach. Sie wurde verhaftet und verurteilt, was mit als Auslöser für das Anwachsen der Proteste der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gilt.
Spielball der eigenen Emotionen
Allerdings gibt es neben den äußeren Bedingungen noch eine weitere Gefahrenquelle für unsere Achtung vor uns selbst, an die man im Normalfall nicht denkt: Das sind psychische Probleme. Sie haben manchmal die Angewohnheit, sich nach und nach ins Leben zu schleichen und stärker zu werden. Oder sie werden durch eine Krise ausgelöst. In jedem Fall sind sie ernst zu nehmen. Denn starke Ängste, Sucht oder Depressionen können unserer Selbstachtung schaden, indem sie das erschweren, was Psychologen regulatorische Kompetenz nennen. Dazu gehört auch, die Verantwortung für die eigene Haltung und das eigene Handeln zu übernehmen und dies nicht anderen zu überlassen.
Und genau das ist bei psychischen Erkrankungen oft plötzlich nicht mehr machbar: Womöglich gelingt es nicht mehr, eine Situation überhaupt angemessen wahrzunehmen und es herrscht sogar das Gefühl vor, gar keine Willens- und Handlungsfreiheit mehr zu haben: „Das Symptom übernimmt die Regie, und das stellt die Selbstachtung infrage“, sagt die Heidelberger Psychotherapeutin Annette Kämmerer. Es stelle sich das Gefühl ein, Spielball der eigenen Emotionen zu werden, nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ zu sein.
Sei der Leidensdruck groß, könne eine Psychotherapie die Chance bieten, diesen Druck als Lehrer zu nutzen, erläutert Kämmerer. Indem der Einzelne seine Situation erkenne, beginne er, sich wieder selbst zu verstehen. Der Weg heraus führe nur über Selbsterfahrung und Selbstreflexion. Und auf diesem Weg stellen wir auch den verlorengegangenen Selbstrespekt wieder her.
Nun leben wir nicht allein vor uns hin – wir sind stets in Beziehung zu anderen. Hier setzen die US-amerikanischen Psychologen Robert Alberti und Michael Emmons an. Sie sehen in angemessener Selbstbehauptung jedes Einzelnen einen Weg zu mehr Gleichheit, Würde und Respekt im Alltags- wie im gesellschaftlichen Leben. Damit meinen sie weder ein aggressives Sichdurchsetzen noch das Gegenteil, etwa ständige Nachgiebig- oder gar Unterwürfigkeit. Zur Selbstbehauptung gehört zum einen ein selbstbewusstes, positives Auftreten – verbunden mit der Fähigkeit, im richtigen Moment die passenden Worte und den richtigen Ton zu finden – und zweitens die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und sich zurückzunehmen, wenn man sich geirrt oder jemanden ungerecht behandelt hat.
Im Kern heißt das: Jeder hat das Recht, sich umfassend auszudrücken und sich anderen gegenüber zu äußern – und die Pflicht, diesen dazu ebenfalls die Möglichkeit zu geben. Offenbar zieht das Erste das Zweite nach sich, wie die Studien von Daniela Renger nahelegen: Wer sich selbst respektiert und für gleichwertig hält, gesteht dies auch anderen zu, respektiert also deren Meinung und deren Anderssein genauso wie sich selbst.
Die Drängelei in der Warteschlange
Selbstbehauptung lasse sich lernen, sagen Alberti und Emmons. Wer weiß, was sie bedeutet, und sie trainiert, gewinnt zusätzliche Möglichkeiten und den Spielraum, sich in unterschiedlichen Situationen angemessen zu verhalten. Die folgenden Kriterien betrachten die beiden Psychologen als entscheidend:
Selbstbehauptung sei direkt, deutlich, positiv und beständig, manchmal sogar ausdauernd. Andere sollten uns verstehen und wissen, dass wir etwas ernst meinen
Selbstbehauptung stehe keinesfalls im Widerspruch zu Höflichkeit, Rücksichtnahme oder Empathie
Gleichheit und Augenhöhe sollten in allen zwischenmenschlichen Beziehungen gefördert werden. Auch bei Machtungleichheit sollten alle das Gesicht wahren können
Selbst zu entscheiden sei wichtig, heben Alberti und Emmons hervor, das betreffe nicht nur Beruf oder Beziehung, sondern auch den Lebensstil oder die Organisation des Alltags. Es umfasse auch die eigene Urteilsfähigkeit sowie die Bereitschaft, sich Unterstützung zu holen, wenn man nicht weiterkommt
Für sich selbst einstehen: Damit meinen die Autoren, dass man auch mal nein sagt, mit der eigenen Energie, dem Zeitbudget oder auch mit Kritik verantwortlich umgeht und eigene Gefühle so reguliert, dass andere nicht darunter leiden
Zu einer angemessenen Selbstbehauptung zähle auch, bürgerliche Rechte wahrzunehmen, etwa wählen zu gehen, sich ehrenamtlich oder politisch zu engagieren oder sich gegen Einschränkungen von Rechten zur Wehr zu setzen
Die Rechte der anderen zu wahren heiße, niemanden unfair zu kritisieren, niemanden einzuschüchtern oder zu manipulieren.
Wer üben möchte, könne in einfachen Alltagssituationen anfangen, schreiben die Autoren. Etwa den Drängler in der Warteschlange freundlich darauf aufmerksam machen, dass er noch nicht an der Reihe ist, bei einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung eine abweichende Meinung äußern, einen Freund unterbrechen, der nicht aufhört, sich zu beschweren, obwohl man es gerade eilig hat. Unsicheren empfehlen die Autoren, dass man sich diese Situationen einmal vorher vor dem geistigen Auge vorstellt und sich fragt, wie man sich verhalten würde.
Außerdem weisen die Psychologen darauf hin: Mit angemessen respektvollem Verhalten macht man sich nicht immer beliebt, etwa wenn andere sich angegriffen fühlen, weil sie vielleicht gerade selbst zu stark gefordert sind, einen Fehler gemacht haben oder sich aus anderen Gründen nicht selbst respektieren können. Sie werden dann aggressiv, sarkastisch, bitten übermäßig um Entschuldigung oder ziehen sich zurück.
Alberti und Emmons warnen gleichzeitig vor zu hohen Erwartungen. Niemand könne sich permanent respektvoll verhalten, nicht sich selbst und nicht anderen gegenüber. Zum einen: Was angemessen ist, unterscheidet sich und hängt stark von der einzelnen Situation ab. Dies auf die Schnelle richtig einzuschätzen ist nicht immer möglich. Zum anderen: Gerade in eskalierenden Konfliktsituationen kochen oft die Emotionen hoch und man äußert sich unbedacht. Wenn etwas schiefläuft, hilft manchmal nur, das Thema im Nachhinein zu klären. Man sollte sich hierzu folgende Fragen stellen:
Was genau ist passiert, sehe ich die Situation klar genug?
Sind alle Beteiligten zu Wort gekommen?
War die Stimmung sehr angespannt oder gedrückt?
Habe ich etwas dafür getan, die Situation zu beruhigen?
Wie wichtig war das Problem wirklich für mich?
Was wollte ich erreichen?
Ist es gerade sinnvoller, einfach abzuwarten?
Für Thomas Hellmann, der ein Aufhebungsangebot erhielt, war es schwer, in der unschönen Lage die Selbstachtung zu wahren. Er wusste, dass ihm nur eines von zwei Übeln bleiben würde. Er musste sich jedoch nicht sofort entscheiden und nutzte die Zeit, darüber nachzudenken, mit welcher Situation er besser leben könnte. Für Karin Werner, die ihrem früheren Partner gegenüber nicht ehrlich war, ging die Sache zwar nicht gut, aber doch richtig aus: Die Beziehung war zu Ende. In ihrer heutigen Partnerschaft versucht sie, ehrlich und respektvoll zu sein, sich selbst und ihrem Partner gegenüber. Ihre damalige kopflose Reaktion auf die Frage des früheren Partners zeigte ihr sehr deutlich, dass es nicht guttut, sich selbst nicht zu achten.
Zum Weiterlesen
Daniela Renger: Believing in one’s equal rights: Self-respect as a predictor of assertiveness. Self and Identity, 17/1, 2018. DOI: 10.1080/15298868.2017.1313307
Daniela Renger u.a.: Internalized equality and protest against injustice: The role of disadvantaged group members’ self-respect in collective action tendencies. European Journal of Social Psychology, 50/3. 2020. DOI: 10.1002/ejsp.2637
Claudine Clucas: Understanding self-respect and its relationship to self-esteem. Personality and Social Psychology Bulletin, 46/6, 2020. DOI: 10.1177/0146167219879115
Robert Alberti, Michael Emmons: Your perfect right. Assertiveness and equality in your life and relationships. Impact Publishers, Atascadero 2017 (10. Auflage)
Christian Schemmel: Real self-respect and its social bases. Canadian Journal of Philosophy, 49/5, 2019. DOI: 10.1080/00455091.2018.1463840
Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp, Frankfurt 2010 (6. Auflage)