Die Rückkehr der Utopien

Es schien, als seien utopische Gesellschaftsentwürfe von der Bildfläche verschwunden. Doch nun kehren sie zurück. Wozu brauchen wir sie?

Angenommen, man führe mit einem groben Kamm einmal über den europäischen Kontinent. Die nationalen Grenzen blieben in den Zinken hängen, und man könnte sie entfernen wie widerborstige Haare. Dann könnten die Bürger der europäischen Städte und Regionen ein neues Europa bauen: dezentral, demokratisch, nachhaltig, sozial. Mit diesem Bild beginnt Ulrike Guérot, Publizistin und Direktorin des European Democracy Lab in Berlin, ihr neues Buch Warum Europa eine Republik werden muss!, der Untertitel: „Eine…

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Warum Europa eine Republik werden muss!, der Untertitel: „Eine politische Utopie“.

Utopien sind Gegenentwürfe, in denen es um das große Ganze geht, um die Gesellschaftsordnung, um das Leben. Die längste Zeit der bundesrepublikanischen Geschichte waren solche Utopien verpönt. Zu katastrophal waren die Erfahrungen, die die Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Versuchen machen mussten, utopische Gesellschaftsentwürfe zu verwirklichen. Wer mit gesellschaftlichen Visionen aufwartete, stand daher seit den 1950ern unter Ideologieverdacht. Pragmatik war das Gebot der Stunde, zusammengefasst in dem berühmten Diktum Helmut Schmidts, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen.

Nun sind Utopien wieder gefragt. „Utopien und die Angst vor der Katastrophe stehen schon immer in einem Wechselverhältnis“, sagt Wilhelm Voßkamp, emeritierter Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Und Angst vor Katastrophen haben wir heute reichlich: Klimawandel und Umweltzerstörung, der Missbrauch von künstlicher Intelligenz und Gentechnologie, das Erstarken des Nationalismus in Europa, die immer instabiler und untragbarer erscheinende politische Situation weltweit. Vielleicht liegt es an dieser Konstellation, dass der politische Pragmatismus inzwischen immer häufiger als „Fahren auf   icht“ kritisiert wird und größere und vor allem positive Perspektiven eingefordert und auch entwickelt werden. So wie Guérots Vision eines Europas der Regionen. So wie die Utopie einer Wirtschaftsordnung, die auf Achtsamkeit und Mitfühlen beruht, wie sie Tania Singer, Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, entwickelt hat. So wie die Idee, Wahlen durch Losverfahren zu ersetzen, die der belgische Historiker David Van Reybrouck ausbuchstabiert hat. Es scheint wieder an der Zeit, über das große Ganze nachzudenken.

Wo liegt Utopia?

„Als wir hier angefangen haben, war das noch etwas ganz Neues, jetzt ist es schon fast Mainstream“, berichtet der österreichische Kurator Hans-Joachim Gögl. Seit 2003 veranstaltet er zusammen mit seinem Kollegen Josef Kittinger das Festival „Tage der Utopie“. Eine Woche lang kommen Wissenschaftler, Künstler und Interessierte zusammen, um über die großen Zukunftsfragen zu sprechen, über Frieden und Konflikt, Migration, Europa, unseren Umgang mit Zeit, die Zukunft der Arbeit, die Veränderbarkeit des Menschen.

„Mein Eindruck war, dass nur sehr pragmatisch über Politik und gesellschaftliche Entwicklungen nachgedacht wird und dass man dadurch immer in einer Art Reparaturmodus bleibt“, erklärt Gögl seine Motivation: „Man versucht, bestehende Lösungen zu optimieren oder zu reparieren, man investiert viel Arbeit, damit der Verbrennungsmotor einen Liter weniger verbraucht, statt den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen. Aber wenn man wirklich etwas verändern will, muss man einen im Wortsinne radikalen, also an die Wurzel gehenden Vorschlag machen und dann aus der Zukunft zurückdenken: Wenn wir da hinwollten, was könnten wir unternehmen? Mir hat die Möglichkeit gefehlt, solche Visionen im öffentlichen Diskurs zu erörtern.“

Offenbar hat diese Möglichkeit nicht nur ihm gefehlt, zu den Vorträgen, Workshops und Kunstaktionen kommen alle zwei Jahre über tausend Menschen ins österreichische Vorarlberg. Und Gögls Festival ist längst nicht mehr das einzige seiner Art.

Das Vorbild aller modernen Utopien erschien vor 500 Jahren: der Reisebericht eines gewissen Raphael Hythlodeus, den ein Unwetter auf eine ferne Insel, Utopia mit Namen, verschlagen hatte, aufgezeichnet von dem englischen Staatsmann und Diplomaten Thomas Morus. Wo Utopia liegt? Leider hat niemand daran gedacht, genauer nachzufragen. Dass man nie zuvor von dieser Insel gehört hatte, lag daran, dass vor und nach Hythlodeus niemand, den es dorthin verschlagen hatte, diesen Ort je wieder verließ, so vernünftig ist die Gesellschaft dort geordnet, so angenehm ist das Leben. Die Utopier arbeiten wenig, leben in Wohlstand und Frieden, mit viel Zeit für Kunst, Wissenschaft und geselliges Beisammensein.

Utopia war der erste in einer ganzen Reihe ähnlicher Staatsentwürfe. Der Sonnenstaat des Tommaso Campanella und Neu-Atlantis von Francis Bacon gehören zu den bekanntesten. Als die weißen Flecken, an denen sich utopische Orte verbergen konnten, nach und nach von der Weltkarte verschwanden, verlagerten die Autoren ihre Utopien in die Zukunft. Morus’ Wortschöpfung „Utopie“ verbreitete sich rasant: Utopisch, das ist heute das nicht Realisierbare, das nur Fantasierte. „Tatsächlich haben manche Sponsoren uns abgesagt, weil sie ihren Namen nicht mit haltlosen Träumereien in Verbindung gebracht sehen wollten“, berichtet Gögl.

Dabei ist die Nichtrealisierbarkeit der Utopie kein Makel, sondern war von Anfang an Programm: Man sollte die Insel Utopia gar nicht finden. Das zeigt schon ihr Name, geprägt aus dem griechischen ou für „nicht“ und topos für „Ort“: ein Nichtort, ein idealisiertes Gegenbild. „Man hat schon Morus ganz lange nur halb gelesen und falsch verstanden“, erklärt Literaturwissenschaftler Voßkamp. Man habe einzig den Bericht über die fiktive Insel verfolgt, nicht aber die Rahmenhandlung. Dann hätte einem auffallen können, dass der Name des Helden, Hythlodeus, übersetzt „Spaßvogel“ bedeutet. Und dass der Erzähler mit der skeptischen Note schließt, er sei in vielem mit dem Dargestellten nicht einverstanden, jetzt aber zu müde, das auszuführen.

„Utopien sind keine Handlungsanweisungen, es sind Bilder, mit deren Hilfe wir die Gegenwart besser erkennen können, es sind Mittel, uns selbst infrage zu stellen“, so Voßkamp. Gögl sieht das ähnlich: „Es geht nicht darum, Utopien umzusetzen. Utopien sind Instrumente, um uns sprachfähig zu machen, um Entwicklungen anzustoßen. Erst wenn man sie eins zu eins umsetzen will, wird es gefährlich.“

Als wir zu Skeptikern wurden

Vieles von dem, was in den klassischen Utopien beschrieben wurde, ist längst Wirklichkeit geworden, vom Sozialstaat mit zuverlässiger Verwaltung und Krankenversicherung bis zum staatlichen Schulwesen, der zumindest halbwegs realisierten Gleichberechtigung der Geschlechter und den Fortschritten in Wissenschaft, Medizin und Technik. Dafür haben sich neue Baustellen aufgetan. Doch das 20. Jahrhundert hat den Menschen nicht nur ein Misstrauen gegen Utopien eingeimpft, sondern sie zugleich zu Pessimisten und Skeptikern gemacht. 1910 erschien ein Sammelband mit dem Titel Die Welt in hundert Jahren. In diesem beschrieben Künstler und Wissenschaftler die Welt im Jahre 2010: Krankheiten sind besiegt, neue Energiequellen gefunden, der Weltfrieden gesichert, das Verhältnis der Geschlechter harmonisch, die Arbeitszeit gering. Futuristische Zeichnungen modernster Städte, fliegender Häuser und von Menschen, die winzige Telefone auf dem Schoß halten, die vibrieren, wenn jemand anruft, prägen den Band, eine aufgehende Sonne ziert den Kopf jeder Seite. Der Optimismus kannte kaum Grenzen.

Gut hundert Jahre später wagte der Filmemacher und Journalist Ernst A. Grandits dasselbe Experiment und bat Experten, sich die Welt im Jahre 2112 vorzustellen. Sie konstatieren den ein oder anderen Fortschritt, insgesamt aber überwiegt die Skepsis: Friede, prognostiziert etwa der Politikwissenschafter Herfried Münkler, wird nur im reichen Norden herrschen, an den Grenzen und im nach wie vor armen Süden wüten Dauerkriege, die zu befrieden der Norden ab und an nur halbherzig unternimmt, wenn ihn sein Gewissen zu sehr plagt. Der Zukunftsforscher Harald Welzer, Gründer der Ideenschmiede Futurzwei, lässt die Menschheit einen Entzivilisierungsprozess durchleiden. In einem Neustart werde sich dann eine Struktur herausbilden, in der 20 Prozent der Bevölkerung gut leben, die anderen hingegen fast nichts von den verbliebenen Ressourcen bekommen. Die sparsamen Illustrationen des Bandes zeigen Fraktale und verschwommene Fotografien.

„Für positive Utopien ist es heute schwieriger geworden, für Dystopien, die schwarzen oder negativen Utopien, ist der Spielraum groß“, konstatiert Voßkamp. Schon 1920/21 ließ Jewgeni Samjatin, ein russischer Schriftsteller und U-Boot-Konstrukteur, in seinem Roman Wir die Individuen hinter Algorithmen verschwinden. Aldous Huxleys Schöne neue Welt ist aktuell wie nie, obwohl das Buch über 80 Jahre alt ist. „Heute zeichnen viele Schriftsteller Dystopien der Angst“, so Voßkamp: „Angst vor Informationstechnologien wie in Dave Eggers Der Circle oder vor islamistischen Machtübernahmen wie in Michel Houellebecqs Unterwerfung.“

Positive Visionen, sagt der Literaturwissenschaftler, kommen heute eher aus dem Silicon Valley als aus der Kunst. Und bei diesen handelt es sich um technische Möglichkeiten: ein Aufzug zum Mond, Nanobots im Körper, die Krankheiten verhindern, Unsterblichkeit. Es geht nicht um sozialpolitische Entwürfe. „Die Wissenschaft hat der Literatur den Rang abgelaufen, das ist beunruhigend“, konstatiert Voßkamp. Aber was macht es so schwierig, neue Utopien zu entwickeln?

Michael Zürn leitet am Berliner Wissenschaftszentrum die Abteilung Global Governance, globales Regieren. Seiner Ansicht nach ist es die Unübersichtlichkeit der Welt, die Utopien oder Visionen heute erschwert. „Es ist kaum noch möglich, die Verantwortung für Handlungen oder Ergebnisse einzelnen Personen oder auch Staaten zuzuschreiben.“ Und: „Wenn man sich überhaupt politisch engagiert, setzt man sich für ein bestimmtes Feld ein, etwa die Menschenrechte oder den Umweltschutz.“ Dies lasse die großen Volksparteien schrumpfen und Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International wachsen. „Die haben alle einen Punkt“, so Zürn, Utopien zeichneten sich aber gerade dadurch aus, dass sie vom Zusammenspiel von Politik und Gesellschaft handeln, statt sich auf eine bestimmte Problemlösung zu fokussieren.

Im Laufrad der Gegenwart

Thomas Macho, Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien, sieht den Grund für unsere Probleme mit den Utopien in der allzu aufdringlichen und fragmentierten Gegenwart. „Wir werden auf eine Art, die historisch neu ist, unentwegt mit Nachrichten aus der ganzen Welt überschwemmt. Dann schaut man noch schnell auf Facebook, was die eigenen Kinder so posten und was Freunde gerade für wichtig halten“, so Macho. Das habe unseren Horizont beispiellos erweitert, halte uns aber auch in der Gegenwart fest. „Zumal die meisten Nachrichten ja von schlechten, gefährlichen, bedrückenden Ereignissen handeln. Bei so viel Gegenwart verliert man die Zukunft aus dem Blick oder kann sie sich nur noch düster vorstellen.“ (Siehe das Interview auf Seite 44.)

Ältere Menschen begeistern sich seltener für Veränderungen. Utopien müssten also eine Domäne der jungen Leute sein, weshalb Gögl und Kittinger eine eigene Veranstaltung mit dem Titel „Junge Utopie“ ins Leben gerufen haben. Gögls Erfahrungen waren jedoch ernüchternd: „Die jungen Leute sind schon interessiert, aber uns irritiert sehr, dass sie so extrem wenig Zeit haben, ständig sind sie bei Kursen, Austauschprogrammen, im Verein oder müssen lernen. Sie stecken fest im Laufrad des Systems. Aber Utopien, Visionen, Zukunftsbilder entstehen in der Stille, aus dem Nichtstun heraus, man muss Zeit dazu haben.“

Was fehlt, wenn Utopien fehlen? Voßkamp erinnert gerne an Robert Musil, der in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften dem Wirklichkeitssinn einen Möglichkeitssinn an die Seite stellte: „Wenn der Spielraum des Möglichen verschwindet, gerät auch der Wirklichkeitssinn in Gefahr“, so Voßkamp. „Musil betont aber zu Recht: Wenn es einen Möglichkeitssinn gibt, muss es auch einen Wirklichkeitssinn geben.“ Das Spannungsverhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit sei die Bedingung dafür, dass Menschen kreativ sein und sie selbst bleiben können.

Zürn, der Fachmann für globales Regieren, macht es konkreter: „Wir sehen zurzeit in der ganzen westlichen Welt das Aufkommen einer Konfliktlinie, die die internationalen Organisationen infrage stellt“, erklärt er. Früher gefeierte internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation seien de facto zerfallen und durch regionale Handelsschutzabkommen ersetzt worden. Dabei bedürfte es gerade zur Kontrolle multinationaler Konzerne internationaler Organisationen und Vereinbarungen. „Die modernen Technikkonzerne sind so groß wie früher die Industriekonzerne, aber viel flexibler und schwerer zu fassen. Wenn die Staaten sich nicht einigen können, können die machen, was sie wollen.“

Doch für einen Weltstaat, eine Utopie, die nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre große Zeit erlebte, plädiert Zürn nicht. „Ich denke, es braucht nicht mehr globales Regieren, sondern besseres“, sagt der Forscher. „Und besser wäre es, wenn Kriterien wie Gleichbehandlung aller Beteiligten und mehr und symmetrische Mitbestimmung der Betroffenen erfüllt wären.“ Er setzt auf eine Welt, in der viele internationale, sektorale und nationale Ordnungen nebeneinander bestehen und interagieren. „Diese Schnittstellen muss man richtig organisieren und die Öffentlichkeit und die Demokratie wieder einbringen.“

Die großen Fragen

„Für mich“, so Zürn, „ist die demokratische Auseinandersetzung nicht die um technokratische Regelungen, da ist man den Experten immer unterlegen. Die Substanz der Demokratie, das sind die großen Fragen, ob man auf mehr Wachstum setzen soll oder auf eine bessere Umwelt, auf mehr Freiheit oder mehr Sicherheit.“ Den Rückzug der Politik ins rein Pragmatische sieht er kritisch: „Wenn man so tut, als gebe es keine Verbindungen zwischen den vielen kleinen pragmagischen Entscheidungen, dann denkt man bald gar nicht mehr in Kategorien von Utopien und Visionen, und dann leidet die Demokratie.“

Wir brauchen also Utopien, um nicht in der Gegenwart klebenzubleiben und die Orientierung zu verlieren. Doch auch wenn auf diese wiedergewonnene Einsicht hin Utopiefestivals, -bücher und -ausstellungen entstehen, eine grundlegende Skepsis bleibt, auch bei ihren Protagonisten: Wer glaubt, den einzig wahren Weg zum Heil für alle zu kennen, neigt dazu, diesen mit Gewalt durchzusetzen. Was kann also verhindern, dass Utopien wieder totalitäre Kräfte freisetzen? „Man muss langsam bleiben“, sagt Gögl, „und vor allem muss man über sich selbst lachen können.“

„Wenn man Angst hat, verliert sich der Mut zur Fantasie“

Ein Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho über kreative Gedankenexperimente und totalitäre Visionen

Herr Professor Macho, warum fällt es uns so schwer, utopisch zu denken?

Utopien entwirft man nicht für sich allein, für Utopien muss es eine Art von Resonanz geben. Und im Moment herrscht eine Stimmung des Misstrauens. Wenn jemand sagt, in einer Entwicklung könnte doch auch eine Chance bestehen oder ein Potenzial der Erneuerung freigesetzt werden, dann bricht rasch ein Sturm der Entrüstung los, das sei doch alles unwahrscheinlich und unrealistisch. In der sogenannten Flüchtlingskrise werden viel seltener auch die Chancen und Möglichkeiten diskutiert, die sich aus einer solchen Lage ergeben könnten, während auf der anderen Seite die unbedeutendsten Ereignisse als Katastrophen und Gefahren wahrgenommen werden. Wenn es hagelt, sagen alle, aha der Klimawandel. Früher hätte man gesagt, es ist halt schlechtes Wetter, da kann man nichts machen. Wir haben nicht mehr die Ruhe, auch nur die alltäglichsten Ereignisse zu relativieren. Da fällt es zunehmend schwer, eine hoffnungsvolle Perspektive aufrechtzuerhalten.

Was würden wir brauchen, um Utopien zu finden?

Utopien brauchen Zeit, Gelegenheiten, den Mut zu Gedankenexperimenten, zum Ausprobieren, zur Kreativität, zum Spielerischen, auch zum Irrtum. Utopien müssen offen bleiben. Darin unterscheiden sie sich von totalitären Visionen, dass nicht von vornherein klar ist, welche Richtung eingeschlagen werden muss. Leider wird die Liebe zum Experiment – und die Toleranz für Irrtümer – unseren Kindern im Bildungssystem selten vermittelt; und auch in den Wissenschaften findet diese Haltung kein markantes Echo. Irrtümer kann man korrigieren, wenn man damit experimentiert hat, aber wenn man von vornherein Angst hat, etwas falsch zu machen, dann verliert sich auch der Mut zu Kreativität und Fantasie ganz rasch.

Wie sehen Sie die Bedeutung von Technik und Kunst bei Utopien?

Wir müssen uns von der Dominanz der technischen Utopien befreien und wieder stärker in sozialen Utopien zu denken versuchen. Und wir müssen auch die aktuelle Utopieskepsis historisch ein wenig relativieren: Kulturen, die keine Utopien hatten, waren erst recht bedroht. Utopien können Hoffnung erwecken, in Utopien kommen Werthaltungen zum Ausdruck und vielfältige Ideen, wie es weitergehen könnte. Ich hoffe sehr, dass neue Impulse von den Künsten ausgehen werden; zu den Domänen der Avantgarden gehörte stets auch das Gedankenexperiment, der Versuch, sich vorzustellen, wie es anders gehen könnte.

Welche Rolle spielt dabei die Globalisierung?

Eine ganz große, weil sie Anregungen und Anstöße aus anderen Denktraditionen und Kulturen vermittelt. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir heute auf großen Biennalen und Ausstellungen die Beiträge aus verschiedenen Kontinenten wahrnehmen, ist schon großartig. Auch die Jugend hat sich an ihre Reisefreiheit, an die Globalisierung gewöhnt, sie wird sich hoffentlich erfolgreich gegen Bestrebungen wehren, die Grenzen wieder undurchlässiger zu machen.

Was ist Ihre Utopie?

Es gibt auch in aktuellen Diskussionen utopische Elemente, etwa die Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen. Und man könnte einmal diskutieren, was eigentlich passieren würde, wenn wir ernster nehmen könnten, dass Menschen geboren werden, ohne sich Ort, Sprache, Kultur oder Tradition ausgesucht zu haben, und dass sie sterblich sind. Wenn wir uns als eine Gemeinschaft der Sterblichen verstehen, müssten wir noch einmal ganz neu fragen, was eigentlich Erbschaft bedeuten soll. Im Kontext der Debatten um Migration und Flucht wäre es schön, wenn wieder in Erinnerung gerufen würde, dass wir Wesen sind, die in der Sesshaftigkeit eher zum Unglück neigen. Wir brauchen Mobilität, Bewegung, Freiheit, die Erfahrungen anderer Kulturen, Epochen und Kontexte.

Thomas Macho ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet seit 2016 das Internationale Forschungszentrum-Kulturwissenschaften (IFK) in Wien.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2017: Lebenskunst