Als Architekt verdiente Gunnar gutes Geld. Klar, bei so vielen prominenten Kunden. Er erzählte nie viel, er musste da „diskret sein“, aber es konnte passieren, dass gerade beim Abendessen mit Britta einer wie Gérard Depardieu anrief, um mit Gunnar die Pläne für sein neues Haus zu besprechen. Einmal klingelte sogar Hugh Grant durch, und Gunnar erklärte ihm auf Englisch, er werde später zurückrufen. Ständig war Gunnar auf Achse, in Paris oder Los Angeles, dort unterhielt er auch sein Büro voller Mitarbeiter,…
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in Paris oder Los Angeles, dort unterhielt er auch sein Büro voller Mitarbeiter, er hatte Britta seine Website gezeigt und Bilder. In Berlin brauchte er dagegen nur eine kleine Wohnung, zumal er sein ganzes Geld in die Entwicklung eines Start-ups in Fernost steckte.
Was Britta nicht wusste: Gunnar lebte von Hartz IV, die Bilder waren Photoshop-Kreationen, die Website ein Fake, die Anrufe manipuliert, und wenn er nicht in Berlin war, besuchte er meistens seine Eltern in Neuss. „Komisch war natürlich, dass er mir nie seine Freunde vorstellte, dass wir eigentlich immer nur mit meinen Leuten zusammen waren“, erinnert sich die 33-Jährige. „Aber für alles hatte er schließlich eine Erklärung. Auch dafür, dass ich nie seine Mutter zu Gesicht bekam, die angeblich in Dubai lebte und Deutschland wegen einer früheren Affäre mit einem Spion nie wieder betreten durfte.“ Gunnars gesammelte Lügen flogen erst auf, als Britta zufällig einen alten Bekannten ihres „Stararchitekten“ kennenlernte, der ihr so ganz andere Geschichten über Gunnar erzählte. Britta stürzte in eine tiefe Depression. Noch heute, vier Jahre danach, schämt sie sich, „auf so viele Märchen reingefallen zu sein“. Tatsächlich hatte Britta nie eine echte Chance auf die Wahrheit: Sie war bei Gunnar an einen Pseudologen geraten – einen krankhaften Lügner.
Lügen –das klingt zunächst nach einem Kavaliersdelikt, einer Petitesse, einer unschönen, aber kaum gefährlichen Eigenschaft. Schließlich scheint das Lügen zum festen Repertoire menschlicher Kommunikation zu gehören, es wird belächelt, mit erhobenem Zeigefinger milde getadelt oder maskiert sich sogar als Variation der Wahrheit, die verdreht, geschönt, weggelassen oder eben ausgeschmückt wird. Der inzwischen verstorbene niederländische Arzt und Psychoanalytiker Joost Abraham Maurits Meerloo notierte gar, dass Täuschen und Wahrhaftigsein zur Sprache gehörten wie zwei Seiten einer Medaille, denn Sprache habe auch die Funktion, interpersonale Nähe zu regulieren und gegebenenfalls für Distanz zu sorgen. Jüngere Studien des Psychologen Robert S. Feldman von der University of Massachusetts bestätigen, dass Menschen in einem zehnminütigen Gespräch durchschnittlich zwei- bis dreimal die Unwahrheit sagen. Zählt man die kleinen Notlügen im Alltag dazu – aus Feigheit, um sich aus der Affäre zu ziehen oder um einen anderen nicht zu verletzen –, dürfte die Zahl noch mal ordentlich nach oben schnellen. Und doch kann Lügen auch eine Krankheit sein; es gibt Menschen, die ihrer Umwelt aus inneren Zwängen heraus Fantastereien auftischen, Menschen, die nicht anders können, als immer wieder die Unwahrheit zu sagen.
Münchhausensyndrom, Mythomanie oder auch Pseudologie nennen Psychologen die ernst zu nehmende Persönlichkeitsstörung, die viele Namen mit sich bringt und noch mehr Fragezeichen, die Wissenschaftler nur zu gerne in klare Punkte verwandeln würden. Einer von ihnen ist der Psychiater Hans Stoffels, Leiter der privaten Berliner Park-Klinik Sophie Charlotte. Seit Jahren hat er das Phänomen der Pseudologie im Visier und behandelt Betroffene: „Die Leute geben sich als Terroropfer, Adlige, Professoren aus“, sagt Stoffels. „Ein Patient behauptete, das letzte Mitglied des Romanow-Clans zu sein.“ Sie erfinden unglaubliche Lebensgeschichten, weil ihnen etwas in ihrem Leben wirklich fehlt: Aufmerksamkeit. „Sie haben ein enormes narzisstisches Bedürfnis“, sagt Stoffels. Als Kinder wurden sie häufig gehänselt, waren Außenseiter, gingen in einer großen Geschwisterzahl völlig unter oder hatten lieblose Eltern. „Alle Patienten“, sagt Stoffels, „hatten in der Kindheit ein Vakuum: Entbehrungen, Heimaufenthalte oder eine Mutter, die sich nicht um sie kümmern konnte, weil sie selbst schwer erkrankt war.“ Die Folge: ein verkümmertes Selbstbewusstsein. Und irgendwann die fast zufällige Entdeckung, wie einfach es ist, Staunen zu ernten, interessant zu werden in den Augen anderer. Durch eine Lüge.
Die ersten positiven Erfahrungen mit der Unwahrheit wirken offenbar wie eine Einstiegsdroge für die Betroffenen. „Wie die meisten Persönlichkeitsstörungen entwickelt sich das Syndrom spätestens in der Jugend“, sagt Petra Garlipp, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Auffällig wird es aber oft erst im frühen oder sogar im späteren Erwachsenenalter.“ Das Lügen wird immer häufiger zum Katalysator, zur Möglichkeit, unangenehmen Situationen auszuweichen. Die Auslöser, sich in Fantastereien zu flüchten, sind Alltagssituationen: Gefühle wie Angst, Scham oder auch nur der Wunsch, andere glücklich zu machen. „Genau hier liegt auch der Unterschied zur Hochstapelei“, sagt Garlipp. „Pseudologen lügen nicht, um sich einen finanziellen Vorteil zu erschleichen oder ein konkretes Ziel durch die Manipulation anderer zu erreichen. Sie lügen aus einer – wenn auch oft unbewussten – inneren Not heraus.“ Für ein Gefühl, ein Lächeln, für Aufmerksamkeit und Anerkennung. Aus tiefster Seele sozusagen: „Den Betreffenden“, ist Stoffels sicher, „passiert das einfach im Zuge ihrer eigenen Fantasien.“ Sie tauchen ein in eine Wunschwelt und verlieren sich in ihr. Sie schlüpfen in Rollen, werden zu dem, was ihr Gegenüber in ihnen sehen möchte. Und das fast immer so überzeugend, dass sie schwer zu entlarven sind. „Pseudologen zeichnet häufig eine besondere Kreativität und Begabung, Geschichten zu erzählen, aus“, erlebte Stoffels im Umgang mit Patienten. Ihre innere Welt ist zu bunt, um mit einem allzu grauen Alltag zurechtzukommen. Der Pseudologe als Künstlertyp? Eine Neuinterpretation vom Drama des begabten Kindes?
Pseudologen präsentieren ihre Tagträume anderen als Realität
Die österreichisch-amerikanische Psychoanalytikerin Helene Deutsch verglich die Pseudologie mit Tagträumereien, wie sie die meisten Menschen kennen und aus guten Gründen verschämt für sich behalten. Pseudologen dagegen präsentieren sie der Außenwelt als Realität. Oftmals können sie die beiden Welten kaum noch auseinanderhalten, spüren aber, dass sie sich nicht miteinander vertragen, stolpern schon mal selbst über die Widersprüche. 40 Prozent aller Pseudologen haben psychosomatische Leiden oder nervöse Störungen, viele rutschen ins kriminelle Milieu ab, landen durch Wahnvorstellungen in der Psychiatrie oder versuchen sich umzubringen.
Die Fantasien sind verblüffenderweise an den Zeitgeist gekoppelt – an das, was gerade en vogue ist: „Früher gaben sich Pseudologen gerne als Adelige oder Medizinprofessoren aus“, sagt Stoffels. Inzwischen ist die Opferrolle offenbar erfolgversprechender. Bereits 1995 bemerkte der französische Sozialphilosoph Pascal Bruckner eine „Viktimisierung der Gesellschaft“, das Opfersein als Modeströmung. „Davon geht auch für Pseudologen offenbar eine besondere Faszination aus“, bestätigt Stoffels. „Man hat den Krebs überstanden oder in jungen Jahren eine Abtreibung gehabt. Andere Menschen reagieren darauf voller Rücksicht und Wärme – dadurch versucht der Pseudologe, eine affektive Beziehung zu erreichen.“ Münchhausensyndrom nennt sich die Pseudologievariante, bei der ganze Krankheitsgeschichten entwickelt werden, komplette Drehbücher eines gequälten Lebens. „Als behandelnder Arzt, an den sich ein Pseudologe mit seiner Geschichte wendet, erkennt man nicht leicht, ob jemand Beschwerden nur erfindet“, sagt Garlipp. „Man rechnet ja nicht damit, nimmt jeden Patienten erst einmal ernst. Und wenn man irgendwann doch einen Verdacht hat und ihn äußert, wechselt der Pseudologe einfach den Arzt und erzählt seine Geschichte dem nächsten.“
Die Opferrolle verspricht nicht nur Aufmerksamkeit, sondern vor allem auch Wiedergutmachung, Trost und Zuwendung. Eine erfolgreiche Opfer-Pseudologin, die jahrelang die Öffentlichkeit mit ihren Geschichten narrte, ist die Amerikanerin Tania Head. Sie hatte behauptet, dass sie sich im 78. Stock des Südturms des World Trade Center befand, als der United-Airlines-Flug 175 genau in ihr Stockwerk flog. Sie gründete sogar eine Selbsthilfegruppe für Überlebende. 2007 musste sie die Organisation verlassen, da die Glaubwürdigkeit ihrer Überlebensgeschichte angezweifelt wurde. Auch die Belgierin Misha Defonseca wurde des Lügens überführt. Sie hatte vorgegeben, sich als jüdisches Kind, beschützt von Wölfen, durch Europa geschlagen zu haben, und darüber das Buch Überleben unter Wölfen geschrieben. Die Autobiografie, die auch als Vorlage für einen Kinofilm diente, entpuppte sich später als komplette Erfindung.
Pseudologen hatten es wohl noch nie leichter als heute, mit ihren Lügen Gehör zu finden und um Mitgefühl zu buhlen: Sich wichtig machen, übertreiben, unschöne Details weglassen – das alles wird in sozialen Netzwerken millionenfach auch von psychisch gesunden Menschen praktiziert. „In dieser Form des Kommunizierens liegt eine ganz große Versuchung für Pseudologen, sich darin zu verlieren“, ist Stoffels überzeugt. „Sie können beim Auffliegen ja alles sofort abbrechen und sich an den nächsten im Netz wenden.“
Stoffels schätzt, dass es in Deutschland rund 1000 Pseudologen gibt, Männer trifft das Symptom dabei genauso häufig wie Frauen. Der Experte geht außerdem von einer hohen Dunkelziffer aus. Der Grund liegt in einer der Eigenheiten dieser Störung: „Die Leute haben sehr lange keinen Leidensdruck“, erklärt Stoffels. „Erst wenn sie sich im Netz ihrer Lügen verstrickt haben und alles auffliegt, suchen manche von ihnen Hilfe.“ Die Zahl der Mitleidenden ist indes um ein Vielfaches höher: Betroffen ist jeder, der sich mit einem solchen Mythomanen einlässt und sich irgendwann von ihm betrogen und damit zutiefst verletzt fühlt. An einen Pseudologen zu geraten kann einen Menschen aus der Bahn werfen. Stoffels sagt: „Jede Woche bekomme ich mindestens fünf bis zehn persönliche Anfragen und Leidensschilderungen von Angehörigen oder Partnern von Pseudologen.“ Die sich verliebt haben wie Britta oder bis zum bitteren Ende daran geglaubt hatten, einen großartigen, aufrichtigen Freund gefunden zu haben.
Mythomanen sind psychisch krank, aber keine empathielosen Psychopathen – sie können reizende Freunde, wunderbare Liebhaber, mitfühlende Brüder, Schwestern, Söhne oder Töchter sein. Man kann von ihnen eine Menge erwarten – nur nicht unbedingt und immer die Wahrheit. Sie sind physisch da, aber entziehen sich ständig. Und sie faszinieren mit ihren vermeintlich so besonderen Lebensgeschichten. Auch das macht sie enorm erfolgreich: Der Drang vieler Belogener, hinter die Wahrheit zu kommen, ist gar nicht so groß; genauso wie Menschen gerne hanebüchene Gerüchte weitertragen, erzählen sie nun mal gerne, was für einen unglaublichen Menschen sie kennengelernt haben. Die Anerkennung, die Pseudologen für ihre Schicksalsgeschichten bekommen, strahlt auf das Umfeld aus. So gesehen müsse man auch von einer Koabhängigkeit sprechen, sagt Stoffels: „Man trennt sich nicht gerne von ihnen, hat sich von ihnen mitreißen lassen, sie sind liebenswert.“
Dutzende Forenbeiträge auf psychologisch orientierten Websites zeigen: Kaum einer schließt innerlich komplett mit dem überführten Lügner ab, fast jeder hat Mitleid, sucht nach Hilfe für ihn. Was bleibt, ist weniger Wut als Verzweiflung. Wer glaubt, sich mit genügend Aufmerksamkeit, Selbstwertstreicheleinheiten und Liebe vor den Lügengespinsten eines Pseudologen schützen zu können, irrt sich: „Ein krankhafter Lügner braucht – anders als der gelegentliche Notlügner – keinen Anlass, um sich Unwahrheiten auszudenken“, sagt Garlipp. „Die Lügen werden zudem über einen langen Zeitraum aufrechterhalten und vorrangig zur Selbstaufwertung erzählt.“ Die Geschichten wirken niemals komplett unwahrscheinlich und basieren oft sogar auf einem kleinen wahren Kern. Außerdem typisch: Wird der Pseudologe enttarnt, reagiert er oft wütend und aggressiv. Schuld- oder Schamgefühle kennt er nicht, und er lügt auch dann noch weiter, wenn er sich längst damit schadet. Er findet einfach keinen Weg zurück aus seiner Parallelwelt.
Es gibt einen Pseudologen, den alle kennen: Karl May
Was können Angehörige tun? Stoffels rät, bewusst äußeren Leidensdruck herbeizuführen – mit einer Trennungsdrohung zum Beispiel. Und dann das komplette Repertoire des Pseudologen auszuhalten: die Tränen, die Beteuerungen. „Wichtig ist, konsequent zu sein“, sagt Stoffels. Trotzdem: „Auf Dauer kann eine Beziehung mit einem Pseudologen nicht gutgehen. Sie beinhaltet immer eine Brüchigkeit.“
Es gibt übrigens einen Pseudologen, den die allermeisten Deutschen kennen: Karl May. Der Nachwelt hinterließ er mit seinen Büchern über die Erlebnisse Old Shatterhands und Winnetous Fantasiegeschichten, für die er echte Anerkennung verdiente. Im richtigen Leben indes schlüpfte er gleich in acht verschiedene Identitäten, gab sich als Postbote oder Augenarzt aus. Einmal musste er sogar ins Gefängnis, weil er eine Familie bestohlen hatte. Zu der Zeit war er ausgerechnet als Polizist unterwegs.
Literatur
Gunther Klosinski (Hg.): Tarnen-Täuschen-Lügen: Zwischen Lust und Last. Attempto, Tübingen 2011
Theo R. Payk: Psychopathologie. Vom Symptom zur Diagnose. Springer, Heidelberg 2010
Marc D. Feldman: Wenn Menschen krank spielen. Münchhausen-Syndrom und artifizielle Störungen. Reinhardt, München 2006
Peter Johannes van der Schaar: Dynamik der Pseudologie. Der pseudologische Betrüger versus den großen Täuscher Thomas Mann. Reinhardt, München 1964