Was heißt es, auf der Straße zu leben, Herr Borstel?

Sozialwissenschaftler Dierk Borstel berichtet, warum Menschen ihre Wohnung verlieren und wie es ist, obdachlos zu sein.

Jeden Monat diskutieren wir mit einer Wissenschaftlerin oder einem Wissenschaftler deren neueste Thesen. Diesmal: Dierk Borstel berichtet, warum Menschen ihre Wohnung verlieren

Herr Borstel, Sie und eine Gruppe von 80 Studierenden der Fachhochschule Dortmund haben über 600 Obdach- und ­Wohnungslose befragt. Wie geht es ihnen?

Es geht niemandem gut und niemand wird freiwillig obdach- oder wohnungslos. Ob man in Notunterkünften unterkommt, ob man Suppenküchen und Tageshilfsangebote nutzt oder permanent draußen schläft: Der Alltag auf der Straße frisst alle Energie, ist extrem auszehrend, hart und ungesund. Die Befragten sagten uns: Man kommt nie auch nur für einen Moment zur Ruhe und hat permanent Angst, dass man beklaut wird oder der Schlafplatz plötzlich weg ist. Sie schlafen mit „einem offenen Auge“.

Alkohol und Drogen werden konsumiert, um sich zu betäuben und irgendwie doch für einen Moment zur Ruhe zu kommen. Manche vermeiden das aber bewusst, sie sagen: Wenn ich damit anfange, wird es uferlos. Und es gibt selten Freundschaften oder Beziehungen; Kontakte zu den eigenen Kindern oder Verwandten sind Ausnahmen.

Was war der größte Wunsch der Befragten?

Ihre allererste Frage lautete meistens: „Habt Ihr ’ne Wohnung?“ Das war das Wichtigste. Darüber hinaus wünschten sich alle, mehr respektiert und als Mensch behandelt zu werden. Viele brachten uns eine große Herzlichkeit entgegen, konnten gar nicht aufhören zu erzählen und waren sehr interessiert an dem Projekt.

Sind Frauen wirklich so viel seltener betroffen?

Das lässt sich nicht schätzen. Frauen sind noch weniger sichtbar als Männer und versuchen öfter, bei jemandem unterzukommen, das geht oft gegen Sex und ist dann im Grunde Prostitution.

Wie kommt es, dass Menschen ihre Wohnung verlieren?

Wir haben mehrere Gruppen unterschieden: Diejenigen, für die die Arbeit bei Stahl- oder Kohleunternehmen im Ruhrpott ihre Identität, ihr ganzer Stolz war und die sich von dem Verlust des Jobs nicht mehr erholt haben. Die zweite Gruppe: Sie berichteten von Schicksalsschlägen wie dem Tod des Partners oder Kindes, ebenfalls Jobverlust und Scheidungen, die nicht verkraftet wurden. Einige erzählten von einer psychischen Erkrankung, aufgrund derer sie ihren Alltag nicht mehr meistern konnten: „Ich habe Briefe nicht mehr geöffnet“ oder „Ich habe mich aufgegeben“. Diese Warnzeichen waren übersehen worden.

Es müsste eine viel höhere Sensibilität dafür geben, zum Beispiel in Psycho- oder Paartherapien oder in Sozialberatungen. Speziell bei Jugendlichen gibt es lange Karrieren in der Jugendhilfe – schlussendlich brechen manche aus und finden das Leben auf der Straße, obwohl sexuelle Gewalt und Drogen dort an der Tagesordnung sind, immer noch besser als Heime oder die Aufsicht durch Behörden. Hinzu kommen Menschen aus Osteuropa, oft mit Romahintergrund, die vor bitterer Armut und Diskriminierung quasi fliehen und hier doch nicht an- und unterkommen.

Sie schreiben, es sei sehr schwer, sich wieder an ein Leben in einer Wohnung zu gewöhnen.

Manche können nicht mehr in engen Räumen schlafen, weil sie befürchten, im Notfall nicht rauszukommen. Es braucht professionelle Begleitung, Wohnen wieder zu lernen. Und jeder Tag, wirklich jeder Tag auf der Straße verschlechtert die Chancen. Deshalb sind neben einer preisgünstigen Wohnung professionelle Unterstützung, Therapie und oft auch eine Suchtberatung unabdingbar.

Dierk Borstel ist Professor für angewandte Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund.

Literatur

Dierk Borstel u. a. (Hg.): Die „Unsichtbaren“ im Schatten der Gesellschaft – Forschungen zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit am Beispiel Dortmund. Springer VS, Wiesbaden 2021. DOI: 10.1007/978-3-658-31262-6

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2021: Zeit finden
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