Es gibt für alles einen Begriff, den auch Kinder hören dürfen. Die Ärztin bittet uns um eine „Stuhlprobe“. Junge Paare schwärmen, wie schön es ist, „Liebe zu machen“. Biologiebücher sprechen von den „primären Geschlechtsorganen“. Man belegt einen ungeliebten Kollegen mit dem „Götzzitat“. Man spricht von „Afroamerikanerinnen“ und „Homosexuellen“. All das sind erlaubte Bezeichnungen, die kein Verbot umweht.
Zwanglos jedoch fallen uns zu alldem Synonyme ein, Begriffe also, die genau dasselbe meinen, jedoch nur…
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also, die genau dasselbe meinen, jedoch nur selten öffentliche Verwendung finden. Flüche, Schimpfwörter und Beleidigungen – in der Wissenschaft läuft das unter dem Sammelbegriff „Tabuwörter“. Die Forschung hat sich der morastigen Niederungen unserer Sprache mit erstaunlichem Eifer angenommen – und mit kaum verhohlener Freude. Genüsslich werden da verbotene Begriffe entweder aufgeregt umtänzelt oder brutalstmöglich zitiert.
Das gilt auch für den amerikanischen Kognitionswissenschaftler Benjamin Bergen, der in seinem Standardwerk What the F der Frage nachgeht, woher all die Tabuwörter eigentlich kommen. Seine Antwort: Sie stammen aus genau vier Themengebieten, nämlich aus dem Heiligen, dem Sexuellen, aus dem Feld der Körperfunktionen und aus jenem der oft rassistischen oder homophob aufgeladenen persönlichen Beschimpfung.
Rudi Völler und die Wut
Völlig verboten sind Tabuwörter natürlich nicht. In der Kneipe oder auf dem Fußballplatz kümmert sich keiner darum, wenn man „Kacke“ sagt. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass nirgendwo so oft geflucht wird wie beim Sport. In der Kirche, im Parlament und vor Gericht sieht die Sache dagegen anders aus.
Und im Fernsehen. Den berühmtesten Moment seiner Karriere verdankt der ehemalige Fußballer, Trainer und heutige Manager Rudi Völler nicht etwa seinen zahlreichen sportlichen Erfolgen, sondern einem TV-Interview, das er als Teamchef der deutschen Nationalmannschaft im September 2003 zu geben hatte. Seine Mannschaft hatte gegen Island nur mühsam unentschieden gespielt, was im Studio entsprechend sarkastisch kommentiert wurde. Da verlor Völler – eigentlich ein freundlicher Zeitgenosse – vor laufender Kamera die Beherrschung. Er bezeichnete die Kritik als „Mist“ und „Käse“ und wetterte: „Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören.“
Was tabu ist und was nicht, so die Moral aus der Anekdote, ist komplett abhängig von dem Kontext, von den sozialen Zusammenhängen, in denen wir uns äußern. Das gilt sogar innerhalb des Mediums Fernsehen: Während Völlers TV-Flüche für einen Skandal sorgten, gehören sie in anderen Sendungen zum Alltag. In der legendären Serie The Sopranos fallen pro Folge im Schnitt mehr als 82 Tabuwörter. Eine ganze Tagesration innerhalb von nur 50 Minuten!
Denn eine durchschnittliche Person führt Tag für Tag etwa 80 bis 90 Tabuwörter im Mund. Bei manchen liegt die Zahl niedriger, bei anderen höher. Das hat der US-Psychologe und Schimpfwortpapst Timothy Jay aus einer Reihe von Studien vor allem aus dem angelsächsischen Sprachraum abgeleitet.
Anus, Sex und Religion
Bezüglich der beliebtesten Wendungen gibt es Ranglisten, die von Sprache zu Sprache und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt unterschiedlich ausfallen. So war es Ende der 1950er Jahre noch üblich, einen Mann als „Lümmel“ zu beschimpfen – heute unter anderem ein Kosename für den männlichen Penis. Selbst im Bundestag war dieses Wort offenbar statthaft: In den Plenarprotokollen von damals findet man es etwa 30-mal häufiger als heute. Das Wort „Scheiß“ hingegen wurde im Hohen Haus bis in die frühen 1990er Jahre peinlich gemieden, erfreut sich seither jedoch wachsender Beliebtheit.
Überhaupt flucht man im Deutschen tendenziell anal („Scheiße“, „Arschloch“). In Russland und den Niederlanden überwiegen sexuell gefärbte Schmähungen, in Schweden flucht man eher aus dem Wortfeld der Religion.
Auch vom sozialen Status hängt es ab, wer wie flucht. Den Gebrauch von Tabuwörtern bezeichnet man im Volksmund oft als „Gossensprache“. Will heißen: Wer mit Kraftausdrücken um sich wirft, hat keinen Stil, keine Bildung, keine Intelligenz. Inzwischen hat die Forschung jedoch gezeigt: Je größer unser Wortschatz, desto größer werden auch Bandbreite und Häufigkeit unserer Tabuwörter. Bildung schützt also nicht vor Gossensprache. Im Gegenteil: Sie liefert uns erst die nötigen Vokabeln dafür.
Zusammenhang mit Macht
Mehr noch: Studien aus den 1960er und 1970er Jahren haben gezeigt, dass Witze inklusive verbotener Ausdrücke viel häufiger von Vorgesetzten erzählt werden als von denen, die ihnen unterstellt sind. Der sprachliche Tabubruch, so scheint es, ist okay, sobald er von oben kommt.
Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche sprach vom „Herrenrecht, Namen zu geben“: Adam durfte sich im Paradies die Bezeichnung für jedes Tier ausdenken, so machte er sich die Erde untertan. Herrschaft über andere, so Nietzsches These, äußert sich stets auch durch Sprache. Und es ist kaum ein Zufall, dass die englische Wendung calling someone names – jemandem Namen geben – nichts anderes bedeutet als: jemanden mit unflätigen Worten beschimpfen. Flüche und Schimpfwörter haben etwas mit Macht zu tun. Sie kommen deshalb häufiger von oben, als wir glauben wollen.
Dies zeigt sich auch im Verhältnis der Geschlechter. Männer fluchen häufiger als Frauen. Der aus Deutschland stammende Psycholinguist Martin Schweinberger von der University of Queensland hat zum Beispiel nachgewiesen, dass Männerflüche in Irland um 68 Prozent häufiger sind als Frauenflüche. Liegt das an den Statusunterschieden in der patriarchalen Gesellschaft? Vermutlich schon. Doch auch hier entscheidet der Kontext. Haben alle Männer den Raum verlassen, nehmen auch Frauen kein Blatt mehr vor den Mund. Die Faustregel lautet: Tabuwörter fallen doppelt so häufig, sobald keine Vertreter des anderen Geschlechts zugegen sind.
Dem Ärger Luft machen
Auch die Persönlichkeit spielt eine Rolle. Mehrere Studien zeigen: Introvertierte und gewissenhafte Frauen und Männer fluchen seltener – ebenso wie Menschen von verträglichem Naturell. Sie verkneifen sich Kraftausdrücke aus Rücksicht auf andere.
Tatsächlich ist der Schmerz, den ein Schmähwort beim Zuhörer erzeugt, gut dokumentiert. Steven Pinker hat Kraftausdrücke einmal als „beständige kleine Fausthiebe gegen die Rippen“ bezeichnet. Feldversuche haben in rund zwei Drittel der Gelegenheiten, bei denen wir Tabuwörter gebrauchen, einen aggressiven Hintergrund ausgemacht (der Rest entspringt den Motiven Humor, Überraschung und Sarkasmus): Wir sind wütend und frustriert und wollen unserem Ärger Luft machen. „Tabuwörter sind unübertroffen schnell und wirksam, wenn es darum geht, solche Emotionen zum Ausdruck zu bringen“, schreibt Timothy Jay.
Er vermutet, dass die verbale Triebabfuhr letztlich dazu dient, Schlimmeres zu verhindern. Sie sei Teil eines dreistufigen Prozesses. In der ersten Stufe erleben wir eine Frustration, reden uns aber gut zu, beruhigen uns. Wenn die Quelle des Genervtseins aber weitersprudelt, ergreifen wir stärkere Gegenmaßnahmen: Wir fluchen laut oder beschimpfen unser Gegenüber. Erst wenn auch das Fluchen nichts hilft, eskalieren manche weiter – zu körperlicher Gewalt und handfester Vergeltung.
Symbolisches Zähnefletschen
Das Fluchen wäre demnach eine Art Aggressionsandrohung, ein symbolisches Zähnefletschen mit dem Ziel, Konflikte zu deeskalieren. Hunde, die bellen, wollen sich das Beißen ersparen. Und fast immer funktioniert der Trick, wie Timothy Jay schreibt. „Wir haben mehr als 10000 Ereignisse dokumentiert, in denen Erwachsene und Kinder Tabuwörter in der Öffentlichkeit gebraucht haben – und bei keinem der Fälle haben wir gesehen, dass die Sache zu körperlicher Gewalt geführt hätte.“ Doch Frustration und Ärger sind nicht die einzigen Emotionen, die unsere Tabusprache steuern.
Keith Allan und Kate Burridge haben vor etwa 30 Jahren eine steile These aufgestellt: Das Tabu, so der Linguist und die Linguistin, habe auch etwas mit Ekel zu tun. Das gelte vor allem für unsere Körperausscheidungen. Die Faustformel von Allan und Burridge lautet: Je infektiöser die Ausscheidung, desto größer unsere kulturelle Abscheu. Deshalb sind Vulgärausdrücke für Kot, Ejakulat, Erbrochenes oder Schleim mit stärkeren Verboten belegt als Bezeichnungen etwa für Tränen. Wir scheuen, was uns krank macht, und meiden die Gefahr – im Verhalten wie in der Sprache.
Übrigens können auch Affen auf diese Weise fluchen. Washoe, die erste Schimpansin, die Gebärdensprache beherrschte (siehe Heft 8/2018: Als die Affen sprechen lernten), nannte ihren Pfleger Roger „dreckig“, wenn dieser sie zu lange in ihrem Käfig schmoren ließ. Das Zeichen für dirty verwendete Washoe ursprünglich für Kot. Die Schimpansin schimpfte ihren Pfleger tatsächlich einen „Scheißkerl“.
Die instinkthafte Natur der Tabuwörter zeigt sich auch daran, dass man sie körperlich messen kann, wenn sie uns begegnen: am Hautwiderstand, an schwitzigen Händen, im Gehirn, an erhöhtem Puls und Blutdruck. Mit alldem signalisiert der Körper: Vorsicht, hier wird eine soziale Norm übertreten!
Die letzten Worte des Priesters
Gerade weil sie tabu sind, führen diese Wörter in unserem Kopf eine Art Eigenleben. Das weiß man bereits seit dem 19. Jahrhundert – durch einen französischen Priester, dessen Krankenakte ihm zu trauriger Berühmtheit verhalf. Er erlitt einen Schlaganfall und verlor dabei sein Sprachvermögen. Nur zwei Begriffe blieben dem zölibatären Gottesmann, die er oft und beherzt in die Welt entließ: „Ich ficke!“ Bis heute hat man derlei Fälle von Aphasie wiederholt beobachtet, bei denen – ausgerechnet – Tabubegriffe den Angriff aufs Gehirn unbeschadet überlebten.
Doch was ist heute schon noch tabu? Im Jahr 1972 hat der Comedian George Carlin seinem Publikum die „sieben Wörter, die du niemals im Fernsehen sagen darfst“, mit hörbarer Lust präsentiert: shit, piss, fuck, cunt, cocksucker, motherfucker, tits. Die US-Psychologin Jean Twenge hat sich unlängst die Mühe gemacht, den Spuren dieser Wörter in der amerikanischen Literatur nachzuspüren. Ihr Ergebnis: Es ist heute 28-mal wahrscheinlicher, eines der sieben Wörter in einem Buch zu lesen, als noch in den 1950er Jahren.
Die Forschung hat auch allerhand Vorzüge des Fluchens zutage gefördert. Richard Stephens von der Keele University in England ließ seine Versuchspersonen eine Hand in Eiswasser tauchen und bat sie dann, diese so lange dort zu belassen, bis die Schmerzen zu groß wurden. Die Hälfte von ihnen durfte dabei Fluchwörter wie fuck oder shit rufen, die anderen riefen neutrale Wörter.
Das Ergebnis war beeindruckend: Die fluchenden Probanden hielten im Durchschnitt 40 Sekunden länger durch. Das ist eine Menge. Fluchen, so das Fazit, hilft offenbar gegen Schmerzen. Außerdem scheint es einen kathartischen Effekt zu besitzen und Stress abzubauen, etwa beim Autofahren.
Fluchen – ein Heilmittel?
Selbst den sozialen Zusammenhalt scheinen Kraftausdrücke unter bestimmten Voraussetzungen zu fördern: Als ein neuseeländisches Team 35 Stunden lang die Gespräche unter den Beschäftigten einer Seifenfabrik aufzeichnete, entdeckte es einen engen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Wortes fuck und dem Teamgeist, der in der jeweiligen Gruppe herrschte: Wo man offen fluchen durfte, da war man gewissermaßen unter sich und fühlte sich wohl. Eine Studie aus England kam zu dem Ergebnis, dass Vorgesetzte die Arbeitsmoral fördern können, indem sie gelegentliche Flüche in der Belegschaft dulden – zumindest solche Tabuwörter, bei denen keiner persönlich beleidigt wird.
Ist der Gebrauch von Tabuwörtern also eine Art Heilmittel? Nicht wirklich. Der aus Deutschland stammende Psychologe Matthias Mehl von der University of Arizona hat dies mit seinem Team in einer Studie an depressiven Frauen nachgewiesen. Wenn diese viel fluchten, nahm bei ihnen – ähnlich wie in der beschriebenen Eiswasserstudie – das subjektive Leid ab, sie empfanden ihre Symptome als weniger belastend. Doch der Zaubertrick hatte seinen Preis.
Das soziale Umfeld der Frauen reagierte verstört auf die unflätige Sprache. Die Folge: Die fluchenden Frauen empfingen auf einmal messbar weniger emotionale Unterstützung, was ihre Gesamtsituation eher verschlechterte. Wer gar zu häufig und heftig sprachliche Tabus bricht, wird auf Dauer einsam.
Das richtige Fluchen bedarf also einiger Weisheit. Doch in Maßen eingesetzt, hilft es uns, Frieden zu halten, als Gruppe zusammenzuwachsen, Schmerzen zu ertragen, Gefühle auszudrücken. Und wer zur Hölle würde all das freiwillig aufgeben?
Literatur:
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